Arbeitnehmervertretung "Liefern am Limit": Lieferando-Beschäftigte gründen Betriebsrat in Dresden

30. März 2023, 11:01 Uhr

Sie sind bei Wind und Wetter das ganze Jahr über unterwegs: die Kurierfahrerinnen und Kurierfahrer von Lieferando. Sie bringen bestelltes Essen von Restaurants zu den Menschen nach Hause. Als Lohn gibt es zwölf Euro pro Stunde und im Winter 50 Cent Zuschlag. Mit Mindestlohn wollen sich die Beschäftigten aber nicht länger abspeisen lassen. Sie fordern eine Sozialpartnerschaft mit der Geschäftsführung auf Augenhöhe. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) unterstützt die Beschäftigten.

Rund 120 Frauen und Männer arbeiten in Dresden für den Lieferservice Lieferando. Am Mittwoch haben sie einen Betriebsrat gegründet, wie zuvor bereits ihre Kolleginnen und Kollegen in Leipzig. Mitinitiator Julius Hoffeins sagte, die Wahlbeteiligung habe bei mehr als 53 Prozent gelegen. Das sei der bisher höchste Wert bei einer Lieferando-Betriebsratswahl. Man wolle sich für fairen Lohn, faire Arbeitsbedingungen und mehr Sicherheit im Job einsetzen. "Wir machen unsere Arbeit gerne, aber wir fordern auch Wertschätzung", so Hoffeins.

Aktuell erhalten die Kurierfahrerinnen und -fahrer nach eigenen Angaben den Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde. Im Winter gebe es einen Zuschlag von 50 Cent je Stunde, der im April zunächst wieder wegfällt. Boni gebe es für besonders viele Lieferfahrten. Auch Trinkgeld spiele für die Lieferkuriere eine Rolle bei ihren Einnahmen, sei aber schwer zu kalkulieren. Die meisten Lieferando-Leute sind mit Fahrrädern unterwegs. Lieferando stelle auch E-Bikes zur Verfügung, die allerdings nicht für alle Mitarbeitenden ausreichten. Wer mit eigenem Fahrzeug unterwegs ist, muss auch dessen Reparaturen zahlen oder selbst schrauben, heißt es.

Lieferando hält dagegen: Laut Sprecher Oliver Klug erhält jeder, der sein eigenes Fahrrad nutzt, 14 Cent Verschleißpauschale pro Kilomenter. Das entspricht bei Vollzeitfahrern rund 120 Euro pro Monat und soll für die Wartung des eigenen Fahrrads genutzt werden. Zudem würden regelmäßige Sicherheitsüberprüfungen der privaten Rädern bezahlt. Bei gestellten Rädern übernehme Lieferando auch die Kosten für Wartung und Reparatur.

Kaum Anerkennung für Lieferstress in Corona-Pandemie

Der Kurierfahrer Magnus erinnert daran, dass die Lieferando-Leute in der Corona-Pandemie ununterbrochen geliefert und dabei manchem Gastronomen das Überleben gesichert hätten, als diese keine Gäste bewirten durften. Für Lieferando war die Zeit ein gutes Geschäft, am Gewinn seien die Mitarbeitenden aber nicht beteiligt worden. Es habe lediglich einen einzigen Gutschein über 20 Euro gegeben, den die Fahrerinnen und Fahrer bei Lieferando einlösen durften. Unternehmenssprecher Klug zufolge erwirtschaftet Lieferando keinen Gewinn "und subventioniert die Logistik zugunsten fairer Löhne". 

Lieferando: Jeder bekommt Boni

Lieferando-Sprecher Oliver Klug sagte MDR SACHSEN zu den Boni, dass die jeder Fahrer bekomme. Lieferando zahle bereits ab der monatlich 26. Lieferung lohnergänzende Boni, so dass alle aktiven Fahrer Boni beziehen. Ab der 100. Lieferung pro Monat erhalten sie erhöhte Boni, so Klug. Diese würden sie ab durchschnittlich 11,6 Wochenstunden erreichen, sodass fast ausnahmslos sogar erhöhte Boni gezahlt würden. Der Zuverdienst in Vollzeit beträgt Klug zufolge durchschnittlich mehr als 400 Euro pro Monat.

Hohe Fluktuation bei Lieferdienst in Dresden

Etliche beklagen laut Dresdner Betriebsratkandidaten mangelnde Wertschätzung - auch beispielsweise im Umgang mit Mitarbeitenden, die nach Genesung von einem Arbeitsunfall wieder in Schichten zurückkehren. Oft würde ihnen der Jobwechsel nahegelegt, hieß es. Die Fluktuation in der Branche sei hoch. Durchschnittlich bleiben die Mitarbeitenden nach Angaben der Betriebsratskandidaten 18 Monate im Unternehmen. Die geschätzte Zahl der Menschen, die in Dresden in Teil- oder Vollzeit ihren gesamten Lebensunterhalt mit der Lieferando-Stelle bestreiten, wird auf etwa 30 geschätzt. Die Mehrzahl sei Minijobber oder Studenten, die noch Kindergeld oder BaföG bekommen.

Zur Betriebsratswahl lagen den Angaben zufolge zwei Listen mit Kandidaten vor - eine davon aus Gewerkschafts- und eine aus Verwaltungskreisen. Auf letzterer habe nur ein Name gestanden, hieß es. Die Kurierfahrer seien gut vernetzt und hätten sich unter dem Motto "Workers Unite Dresden" untereinander über die Betriebsratswahl informiert.

Gewerkschaft will Tarifvertrag mit Lieferando

Der Gewerkschaftssekretär der NGG für die Region Dresden-Chemnitz, Veit Groß, verweist darauf, dass die Gewerkschaft Lieferando zu Tarifverhandlungen aufgefordert hat. Das Unternehmen verharre allerdings in totaler Blockadehaltung. Konkret will die NGG mit Lieferando einen bundesweiten Tarifvertrag abschließen. "Kernforderungen sind ein Einstiegsgehalt von 15 Euro je Stunde und völlige Neugestaltung des Bonussystems."

Das Bonussystem, das nach dem Motto "Je mehr Lieferungen, desto mehr Boni" funktioniert, animiere zu unvorsichtigem Verhalten und letztendlich steigender Unfallgefahr. Verweigert sich Lieferando weiterhin Gesprächen, erhöhe man als Gewerkschaft den Druck auf das Unternehmen, kündigte Groß an. Die Kampagne läuft unter dem Motto "Liefern am Limit" und soll möglichst viele Lieferando-Mitarbeitende erreichen.

Die gewählten Betriebsräte vor Ort können - unabhängig von einem Tarifvertrag - auf lokale Probleme in den sogenannten Lieferando-Hubs (Standorte mit eigenen Lieferando-Mitarbeitenden) eingehen, beispielsweise mangelfreie Ausrüstung oder bei der Schichtplanung die Berücksichtigung von Betreuungszeiten einfordern. Außerdem sind Betriebsräte Vertrauenspersonen bei Personalgesprächen.

Unternehmenssprecher: Lieferando unterstützt Betriebsratsgründung

Lieferando-Sprecher Oliver Klug sagte MDR SACHSEN, man habe als Unternehmen die Betriebsratswahl in Dresden unterstützt und beispielsweise Büroräume, IT-Technik und Maillisten der Beschäftigten zur Verfügung gestellt. Nach Klugs Angaben sei Lieferando das einzige Unternehmen in der Branche mit Betriebsräten - 150 an 20 Standorten. Insgesamt ist das Unternehmen nach eigenen Angaben in rund 60 größeren Städten mit eigener Logistik aktiv. Man habe die Belegschaft auch ermuntert, an der Wahl teilzunehmen und die Pausenzeit für die Wahl während der Schicht bezahlt.

Auf die E-Bike-Flotte angesprochen, teilte der Sprecher mit: "Lieferando-Fahrer in Dresden können von Lieferando gestellte Elektrofahrräder nutzen." Die Kapazitäten reichten für die Nachfrage der Kolleginnen und Kollegen. Er widerspricht damit den Vorwürfen der Mitarbeitenden. Zwecks Kapazitätsplanung bitte man aber die Belegschaft, ihren Bedarf anzumelden, "um zusätzliche Kapazitäten prüfen und planen zu können".

Zu den Forderungen nach Tarifverhandlungen der NGG sagte Klug: Lieferando-Fahrer in Deutschland verdienten durchschnittlich mehr als 14 Euro pro Stunde und damit mehr als Servicekräfte in der Gastronomie, vergleichbar mit den Tarifbedingungen der NGG für die Systemgastronomie. Man setze bereits Branchenstandards, so der Firmensprecher, auch indem alle Mitarbeitenden unbefristet und fest angestellt werden. Zum Winter habe es zudem für Vollzeitkräfte einen Inflationsausgleich in Höhe von 300 Euro gegeben.

Weitere Lieferdienste in Dresden aktiv

Neben Lieferando sind mit Wolt und Uber eats zwei weitere Essenslieferkuriere in Dresden aktiv, beide bisher ohne Kontakt zur Gewerkschaft. Für Lebenmittellieferanten wie Flink oder Gorillas ist die Gewerkschaft Verdi zuständig.

MDR (lam)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus Dresden | 29. März 2023 | 13:30 Uhr

Mehr aus Dresden und Radebeul

Mehr aus Sachsen