Schauspieler versuchen ein Absperrgitter wegzudrücken. Dahinter stehen Zuschauer. Im Hintergrund steht ein Zug.
Die Schauspielerinnen stellen in Plauen eine Szene im Umfeld der Botschaft in Prag nach. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Eisenbahntheater Rüber in den Westen: DDR-Flüchtlingswelle auf besonderer Bühne

06. Juli 2024, 21:43 Uhr

Bei all den Flüchtlingsdiskussionen heutzutage wird eines oft vergessen: Auch Deutsche waren Flüchtlinge, das letzte Mal 1989. Viele wollten einfach nur ein besseres Leben und Reisen in alle Welt. Andere hatten zusätzlich unter den Repressalien des Systems zu leiden. Keiner von ihnen wusste, wie das ausgehen wird, als sie sich auf die Reise machten in die bundesdeutsche Botschaft in Prag. In Plauen gibt ein Dokumentartheater Schicksalen ein Gesicht, ab Sonntag ist das Stück in Dresden zu sehen.

"Über den Zaun" - so heißt das Theaterstück des Eisenbahntheaters "Das letzte Kleinod". Und "rübergemacht" haben damals Zigtausende während der Flüchtlingswelle im Spätsommer 1989. Viele von ihnen waren über den Zaun auf das Gelände der Bundesdeutschen Botschaft in Prag geflüchtet. Im Theaterstück sind authentische Aussagen von Zeitzeugen zu hören. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verkörpern jeweils einen der Zeitzeugen.

"Das Tüpfelchen auf dem i"

Da ist zum Beispiel die schwangere junge Frau, die keine eigene Wohnung bekommt mit der Begründung vom Amt: "Bringen Sie erstmal ihr Kind lebendig zur Welt, dann kriegen Sie auch eine Wohnung". Das sei das i-Tüpfelchen gewesen, sagt die Frau. Sie stellt einen Ausreiseantrag. Ab da wird sie im Betrieb kaltgestellt und ausgegrenzt. Der Antrag wird abgelehnt.

Blick aus einem Zugfenster nach draußen. Es sind mehrere Gruppen von jeweils 16 oval sich gegenübersitzenden Zuschauerstühlen zu sehen. In jeder Gruppe spielt ein Schauspieler oder eine Schauspielerin.
Das Publikum wird anfangs in sechs Gruppen eingeteilt. Die Schauspieler und Schauspielerinnen gehen im Rotationsprinzip in jede Gruppe und stellen ihre Rolle vor. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Oder ein junger Mann, der nicht studieren darf, weil er sich mit systemkritischen Freunden umgibt. Er hatte bei seinem Vater gesehen, dass das Versprechen, später noch studieren zu können, nie wahr wird. "Wenn Du erst fünf Kinder hast, dann ist Schluss mit Revolution". Das will er nicht auch erleben. Mit 19 Jahren hat er mit dem System abgeschlossen.

Und eine junge Frau, die nicht studieren darf und stattdessen an Teilen für den Wartburg in Eisenach schraubt. Eines Tages werden ihre Eltern aus der Wohnung abgeholt, weil deren Ausreiseantrag genehmigt wurde. Sie selbst darf nicht mit.

Im Zugabteil sitzen Zuschauer. Ein Schauspieler steht im Mittelpunkt.
Eine Szene spielt auch direkt im Zug. Dafür wird das Publikum aus Kapazitätsgründen in zwei Gruppen geteilt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Freilufttheater mittendrin

Eine Szene spielt im Zug. Bei den anderen Szenen steht das Publikum an verschiedenen Orten in der Nähe, oft auch mitten im Geschehen. So wird gezeigt, wie zwei junge Männer sich im Trabi Richtung Prag aufmachen und sich eine Geschichte für die Grenzpolizei ausdenken. Oder wie die Flüchtlinge über den Zaun der Botschaft klettern. Die schwangere Frau hat Angst, sich aus zwei Metern Höhe fallen zu lassen, weil sie fürchtet, ihr Kind zu verlieren.

Auf einem offenen Güterzugwagen-Auflieger steht ein Trabi Kombi, in dem von zwei Schauspielern ein Kinderwagen verladen wird. Vor dem Güterwagen sitzen Zuschauer auf Holzstühlen.
Die Szene zeigt die Fahrt im Trabi Richtung Prag. Bildrechte: Nora Kilényi

Situation in der Botschaft wird dargestellt

Und es sind Berichte über den wochenlangen Aufenthalt in der Botschaft zu hören. Wie Menschen aus Prag Brötchen schmierten und durch den Zaun reichten. Oder wie die Flüchtlinge im Treppenhaus auf den Stufen geschlafen haben. Im Gelände um das Gebäude war irgendwann der Schlamm kniehoch. Man musste sich an Sträuchern und Bäumen festhalten, um vorwärts zu kommen. Auch die hygienischen Bedingungen waren katastrophal, berichtet einer der Charaktere: "Wir haben irgendwann alle gleich schlimm gestunken, da war es dann auch egal".

Ein hochkant gestelltes Absperrgitter wird benutzt, um einen hohen Zaun anzudeuten. Über diesen steigt gerade eine Frau, der ein Kinderwagen gereicht wird.
Erstmal mussten die Menschen über den hohen Zaun in das Botschaftsgelände gelangen. Bildrechte: Nora Kilényi

Rede von Hans-Dietrich Genscher sorgt immer noch für Gänsehaut

Und dann der Befreiungsschlag - die berühmte Rede von Hans-Dietrich Genscher, von der wegen der Jubelschreie, nur der erste Satz zu hören war. Die Rede sorgt auch 35 Jahre danach noch für Emotionen. Das Publikum jubelt teilweise mit.

Sonderzug zurück in die DDR

Als die Menschen im Sonderzug in Richtung Freiheit fuhren, stockte ihnen das Herz, weil sie zunächst in das Gebiet der DDR zurückkehrten. Dort wurden ihnen die Ausweise abgenommen. Der Zug fuhr unter anderem durch Dresden, Plauen und Reichenbach.

Vier Schauspieler schauen von innen aus zwei Zugfenstern und winken freudestrahlend nach draußen.
Winkend und lachend stellen die Schauspieler des Eisenbahntheaters die Ankunft der DDR-Flüchtlinge im Westen nach. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Aufnahme im Westen sorgt für bewegende Szenen

Hinter der Grenze wurden die Sonderzüge empfangen und die Geflüchteten versorgt. Die junge Frau, deren Eltern ausgewiesen worden waren, bekommt in der Bahnhofsmission nach wenigen Minuten ein Telefon gereicht mit einer Nummer. Am anderen Ende ihr Vater. "Dann hat er so geweint", erinnert sie sich. "Die ganze Bahnhofsmission hat geweint."

Eine Schauspielerin steht auf einer Zugtreppe und hält sich an der Haltestange fest. Mit der anderen Hand deutet sie ein Telefon am Ohr an und hat einen glücklichen Gesichtsausdruck.
"Papa, ich bin jetzt auch im Westen". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

So ähnlich geht es auch dem Publikum. Vielen Gesichtern ist anzusehen, dass sie sehr bewegt sind. Der Autor und Regisseur des Stückes, Jens-Erwin Siemssen, sagt: "Das finde ich toll, wenn die Leute in den Vorstellungen lachen und auch gleichzeitig weinen müssen, dann habe ich mein Ziel erreicht".

Ein Mann steht auf der Treppe einer Zugtür und schaut in die Kamera.
Der Autor und Regisseur des Stückes, Jens-Erwin Siemssen, freut sich, dass das Stück die Zuschauer emotional stark bewegt. Bildrechte: Nora Kilényi

Dass das Stück die Leute gefesselt hat, ist auch daran zu erkennen, dass keiner gegangen ist, obwohl es die letzten 20 Minuten der Vorstellung geregnet hat.

Zeitzeugen auch im Publikum

Etliche haben auch eigene Erfahrungen an die Zeit. Da ist ein Paar, das sechs Tage nach dem Zug zufällig in der Plauener Innenstadt war, als "das Theater losging". Gemeint ist die Demonstration am 7. Oktober 1989. Die Ereignisse in Plauen seien schon grenzwertig gewesen, meint die Frau. Es sei ein großes Glück, dass es damals nicht zu Ausschreitungen und Opfern gekommen war.

Blick auf eine stehende Zuschauergruppe. An den Gesichtern der meisten ist zu erkennen, das sie ziemlich bewegt sind.
Vielen Besuchern ist anzusehen, dass sie bewegt sind. Einige haben eigene Erinnerungen an die Zeit. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ein anderer Mann sagt, er sei in Reichenbach am Bahnhof gewesen. "Dort musste der Zug halten, weil die Lok umgespannt werden musste. Das wussten die Leute, deswegen sind sie dahin. Sie wollten nicht unbedingt auf den Zug aufspringen, sondern den Menschen im Zug Mut zusprechen und sie emotional begleiten". Dann aber sei die Bereitschaftspolizei brutal gegen die Menschen auf dem Bahnhof vorgegangen. Der Mann sagt, er sei auch verprügelt und eingesperrt worden. Dort sei er ziemlich mies mit den gängigen Stasimethoden behandelt worden. Es sei nur einer mutigen Staatsanwältin zu verdanken gewesen, dass er nach wenigen Stunden wieder auf freiem Fuß kam.

Drei seiner Freunde waren damals auf den Zug aufgesprungen. Er hatte keine Ahnung, ob er sie jemals wiedersehen würde.

Weitere Vorstellungstermine geplant

Nach der letzten von drei Vorstellungen in Plauen am Donnerstag, fährt der Theaterzug nach Dresden. Auf dem Güterbahnhof Dresden-Friedrichstadt sind vom 7. bis 11. Juli insgesamt fünf Vorstellungen geplant.

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