MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche Erschossen am Grenzübergang: Mutmaßlicher Mörder nach 50 Jahren vor Gericht
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Audiotranskription
05. April 2024, 11:39 Uhr
Als Kukuczka eigentlich schon sicher war, dass er jetzt in wenigen Minuten in Westberlin ist. Dann kam es zu diesem Schuss.
Es erhält der Pole nach Augenzeugenberichten aus sehr kurzer Entfernung vom Rücken her einen Schuss in den Bauch. Sackt zusammen. Und wird sofort weggeschleppt.
Das waren Dr. Filip Ganczak , ein polnischer Historiker, und Professor Stefan Appelius, ein deutscher Historiker. Denn in dieser Folge von MDR Investigativ - Hinter der Recherche, geht es um eine polnisch-deutsche Geschichte.
Am 29. März 1974 geschieht am Grenzübergang in Berlin Friedrichstraße etwas schier Unglaubliches: Ein Mann wird bei laufendem Grenzverkehr erschossen. Es gibt sogar Augenzeugen. Und doch dauert es 50 Jahre, bis der mutmaßliche Mörder vor Gericht steht.MDR INVESTIGATIV - Hinter der Recherche hören Sie immer freitags in der ARD-Audiothek und da, wo sie uns gerade hören. Ich bin Secilia Kloppmann
Wir tauchen also tief ein in die Zeit des Kalten Krieges, ins Jahr 1974. Das heute, 50 Jahre später, ein Prozess gegen einen mutmaßlichen Todesschützen stattfindet, ist etwas ganz Besonderes. Warum das so ist, welche Zeugen es gibt, vor allem wieso es so lange gedauert hat, darüber spreche ich mit meinem Kollegen Tom Fugmann, der den Fall für das ARD-Magazin Fakt aufgerollt hat
Secilia Kloppmann (SK)
Das ist ja eine krasse Geschichte. Da wird jemand quasi in der Öffentlichkeit vor Zeugen erschossen. Und es passiert Jahrzehnte lang nichts. Jetzt hat in Berlin der Prozess begonnen. Bevor wir über diese ganze Geschichte reden... du bist ja auch in Polen vor Ort gewesen... hast dem ehemaligen Chef des Mordopfers gesprochen.Der Prozess hat ja jetzt angefangen, in Berlin, am 14. März. Teile doch erst mal ein paar Eindrücke mit von diesem Prozessauftakt.
Tom Fugmann (TF)
Ja, also im Prinzip ist es so gewesen, dass der mutmaßliche Mörder und Todesschütze angeklagt wurde. Und das Medieninteresse aus Deutschland und aus Polen war sehr groß, weil es natürlich ein besonderer Fall ist, dass jemand ja an der Grenze hinterrücks erschossen worden ist. Das Interessante daran ist auch vielleicht kurz zur Einordnung: Die Grenzschützen, die an der Berliner Mauer Flüchtlinge getötet haben, die sind wegen Totschlags angeklagt worden. Der mutmaßliche Mörder von Kukuczka ist wegen Mordes angeklagt worden, weil diese Tat - in den Rücken geschossen und so weiter - so eingeordnet wurde. Der Angeklagte ist selbst erschienen, wies die Anklage zurück bzw. erklärte sich für nicht schuldig. Es waren auch da drei Verteidiger, die für die Kinder Kukuczkas die Nebenklage vertreten haben. Der Angeklagte hat sich nicht weiter zur Sache eingelassen, und dann wurde eine Zeugin vernommen, und das war quasi der erste Tag von sechs oder sieben weiter folgenden. Anfang Juni wird es höchstwahrscheinlich ein Urteil geben.
SK
Ich habe auch gelesen, dass der Prozess aufgezeichnet wird. Als Audio. Das ist etwas Besonderes, oder?
TF
Ja. Das Gericht erachtet diesen ganzen Prozess als zeithistorisch besonderen. Deswegen wird er aufgezeichnet. Zum einen, weil es eben 50 Jahre gedauert hat, nach mehreren Anläufen, den Angeklagten vor Gericht zu bringen. Und natürlich, wegen der ganzen Umstände dieser Tat: Deutschland oder die DDR war darin verwickelt, die Staatssicherheit der DDR, polnische Diplomaten, der polnische Geheimdienst. Also das ist so außergewöhnlich, dass man sagt, das muss für die Nachwelt, für Historiker, für späte Generationen, erhalten bleiben.
SK
So jetzt wollen wir den Hörerinnen und Hörern erstmal erzählen, was eigentlich passiert ist und springen in das Jahr. 1974. Ost und West waren damals streng getrennt. Es gab eine Mauer, es gab eine streng gesicherte Grenze. Man konnte da nicht ohne weiteres durch, schon gar nicht vom Osten in den Westen. Man konnte zwar von dem Westen in den Osten reisen, aber von den Osten in den Westen war quasi unmöglich. Es gab Versuche, illegale Grenzübertritte... und über genau so einen wollen wir jetzt sprechen. Der Versuch,fand am 29. März 1974 statt. Was ist da passiert?
TF
Gegen Mittag, 12 Uhr, erschien der polnische Feuerwehrmann Czeslaw Kukuczka in der polnischen Botschaft in Ost-Berlin unter den Linden. Er hatte eine Tasche dabei, aus der wohl irgendwelche Drähte geragt haben sollen. Und hat gesagt, wenn er nicht innerhalb von drei Stunden nach West-Berlin gebracht werden würde, würde in seiner Tasche eine Bombe explodieren und die Botschaft in Luft fliegen. Daraufhin hat man ihn hingehalten und hat quasi in einem Nebenraum die Staatssicherheit informiert. Und dort ging es gleich hoch, bis auf die fast höchste Ebene. D der Stellvertreter von Stasi-Chef Erich Mielke, Generaloberst Bruno Beater, hat sich der Sache angenommen und hat gleich beschlossen, dass Czeslaw Kukuczka unschädlich zu machen sei. So war damals eine Umschreibung dafür, dass man vor hatte, den Mann, man kann es nicht anders sagen, zu liquidieren. Ohne überhaupt zu untersuchen, ist da was dran, blöfft der nur? Was man auch wissen muss, die DDR und Polen hatten damals noch einen Grenzübergang, an dem kontrolliert wurd. Also das heißt, es war eigentlich nicht möglich, eine Bombe von Polen in die DDR zu schmuggeln. Und dann war es natürlich auch so, dass ein Feuerwehrmann in einer polnischen Kleinstadt auch gar nicht die Möglichkeit hatte, an das Material für den Bombenbau reinzukommen. Es war ja nicht wie heute, wo man im Baumarkt sich irgendwelche Ingredenzien kaufen könnte, und aus dem Internet vielleicht noch eine Bastelanleitung. Das gab es natürlich alles 1974 noch nicht. Also die Wahrscheinlichkeit, dass der Mann tatsächlich eine Bombe dabei hatte, war eigentlich relativ gering.
SK
Nun gut. Es hätte jetzt vielleicht theoretisch doch sein können. Die Frage ist ja , was dann passiert ist, weil er ja erschossen wurde?
TF
Ja, also, man ging zum Schein auf seine Forderungen ein. Stellte ihm sozusagen Ausreisepapiere aus, bot ihm an, ihn zum Grenzübergang zu fahren. Er ist dann in einem Auto der Staatssicherheit mitgefahren. Und natürlich war es am Grenzübergang alles präpariert. Er ging dann mit seiner Tasche noch mal auf die Toilette, kam dann raus, stellte sich an, passierte - das wurde auch durch Zeugenaussagen bestätigt - zwei von drei dieser Kontrollstellen und als er an der Dritten angelangt war, trat wahrscheinlich der heutige Angeklagte hinter ihm aus einem Raum wohl und schoss ihn aus zwei Meter Entfernung in den Rücken.
SK
Man muss vielleicht auch noch mal erklären, wie die Situation an diesem Grenzübergang war. Man kann das heute noch sehen. Berlin/ Friedrichstraße ist heute so eine Art Gedenkstätte, das ist der Tränenpalast. Eine große Halle, wo man sehen kann, dass es so enge Schleusen gab ...
TF
Ja, das ist heute ein Museum, der Tränenpalast. Im Prinzip war das damals die Stelle, an der Menschen aus dem Westen, aus dem westlichen Ausland, die einen Tag in der DDR, in Ost-Berlin waren, quasi wieder zurück in den Westen gegangen sind und nach West-Berlin. Dort wurde kontrolliert, es gab Kontrollstellen. Oben fuhr die S-Bahn ab nach West-Berlin. Und das war im Prinzip ein Grenzübergang. Und da war eben auch normaler Besucherverkehr an diesem Tag. Z.B. eine Schulklasse aus der Bundesrepublik, aus dem hessischen Bad Hersfeld wartete auch auf die Abfertigung. Das war er damals üblich, so ein Besuch in Berlin gehörte zum normalen schulischen Standardprogramm von Schülern aus der Bundesrepublik. Und die waren eben einen Tag in Ost-Berlin und wollten dann zurück. Und da bekam drei Schülerinnen mit, wie der Kukuczka erschossen worden ist.
SK
Und was ist passiert, nachdem dieser Schuss gefallen ist?
TF
Er wurde durch den Rücken in den Bauch getroffen und war schwer verletzt. Fiel zu Boden, ist auch sofort weggetragen worden. Das hat auch eine der Schülerinnen/ ehemaligen Schülerinnen, die am ersten Prozesstag ausgesagt haben, so noch mal bestätigt. Und dann war klar, der Mann ist schwer verletzt und musste ärztlich versorgt werden. Und in der Nähe liegt die Charité. Da hätte man ihn hinbringen können, dann hätte er vielleicht sogar überlebt. Aber man hat ihn in das Haft-Krankenhaus des Stasi-Gefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen gebracht. Das ist circa zehn Kilometer fast entfernt also dauert eine Weile. Auf dem Weg dorthin ist Kukuczka dann gestorben.
SK
Und wenn man ihn hätte retten wollen, das hat Stefan Appelius auch noch einmal bestätigt, dann hätte man ihn auch in die Charité bringen können...
Der Fall musste unter allen Umständen vertuscht werden. Hätte man ihn retten wollen, hätte man ihn in die Charité gefahren. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist: hätte man ihn nur unschädlich machen wollen im Sinne von Er kann nicht in den Westen und wir gehen kein Risiko mehr ein, hätte man ihm keinen Bauchschuss verpasst aus nächster Nähe. Also für meine Begriffe ist die Tötungsabsicht hier ganz offensichtlich. Gerade in diesem Umstand wird sie ganz explizit deutlich.
SK
Jetzt lass uns mal nach Polen gehen, du bist ja in Polen gewesen. Also wo der Czesław Kukuczka herkam. Du hast schon gesagt, er war Feuerwehrmann, 38 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder.. Und du hast den damaligen oder früheren Chef von Czesław Kukuczka getroffen. Wie war diese Begegnung? Konnte der sich noch an seinen früheren Mitarbeiter erinnern?
TF
Ja, konnte er. Czesław Kukuczka hat da nicht sehr lange gearbeitet. Aber er konnte sich erinnern, weil Kukuczka auch ein guter Schachspieler war und der ehemalige Chef auch immer mal mit ihm eine Partie gespielt hat. Da gibt es auch ein Foto davon. Naja, und natürlich das Besondere dieser Umstände. Ab am dritten März ist wohl Kukushka nicht mehr zur Arbeit erschienen. Hat er auch vorher kein Urlaub eingereicht oder so etwas und fehlte also quasi einfach .
SK
… für eine lange Zeit. Bis dann am 29. März dieser Versuch des Grenzübertritts war....
TF
Ja genau. Und im Prinzip war es so, dass der Chef dann zur Polizei ging und seinen Mitarbeiter als vermisst meldete. Und da passiert erst einmal nichts. Und dann wurde er Anfang April zur Polizei gerufen und hat da mehr oder weniger sachlich mitgeteilt bekommen, dass sein Mitarbeiter verstorben sei. Und er hat durch Zufall ein Fax, das waren ja damals quasi noch die gängigen Informationsübertragungen ..
SK
ein Fernschreiber ...
TF
ja, ein schnellerer Brief. Und da stand dann drauf, dass Kukuczka an der Berliner Mauer zu Tode gekommen sei.
SK
Als Du in Polen gewesen bist. Es gab auch ein großes Interesse von polnischer Seite, dass dieser Fall jetzt, nach 50 Jahren, eventuell tatsächlich aufgeklärt werden könnte. Es gab zuvor mehrere Versuche... Wie ist die Stimmung bei den Polen bezüglich dieses Falls? So ganz "unschuldig“ war die polnische Seite auch nicht....?
TF
Naja, die damaligen Vertreter des kommunistischen Polens nicht. Natürlich hofft man auf einer Art späte Gerechtigkeit. Die Identität des mutmaßlichen Todesschützen steht schon seit einigen Jahren fest. Also es gibt einen polnischen Historiker, der zusammen mit einem deutschen Kollegen diesen Fall auch noch einmal sehr ausgiebig und intensiv recherchiert hat, der dann quasi auf den mutmaßlichen Todesschützen stieß, weil dessen Identität war lange geheim. Und letztendlich konnte man die nur enthüllen, weil sich in den Akten ein Dokument über eine Auszeichnung gefunden hat, die der Befehlshaber dieses mutmaßlichen Todesschützen, ein Stasi-Offizier mit dem Namen Hans Sabbat. Der wurde ausgezeichnet für die Verhinderung eines Grenzübertritts, an eben jenem besagten 29. März 1974. Und eine weitere sehr hohe Auszeichnung erhielt der mutmaßliche Todesschütze, der damals noch ein einfacher Offizier war. Diese Auszeichnung war eigentlich viel zu hoch für jemanden in seinem Rang. Also war auch vollkommen klar, da muss was Besonderes passiert sein. Und man hat das Datum. Und damit ist klar, wofür der eigentlich ausgezeichnet wurde. So konnte die Identität enthüllt werden, und die Polen haben schon vor, ich glaube drei oder vier Jahren einen europäischen Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Todesschützen erlassen. Dem wurde aber von deutscher Seite nicht stattgegeben, weil man gesagt hat, wenn überhaupt, stellen wir den hier selbst vor Gericht. Dann hat es nochmal einige Jahre gedauert, bis die Staatsanwaltschaft Berlin genügend Beweise zusammengetragen hatte, das sie überzeugt waren, jetzt sind die Beweise so wasserdicht, dass wir den Mann anklagen können.
SK
Es geht da um einen Mann, der hier, wo wir heute aufnehmen, also in der Stadt Leipzig lebte, jahrzehntelang. Der mittlerweile 80 Jahre alt ist. Manfred N. Du hast auch versucht, ihn zu sprechen. War nicht so erfolgreich, ne?
TF
Ja. Also, ich habe seine Adresse rausbekommen und bin dann hingefahren und habe ihn auch angetroffen. Aber er wollte sich dazu nicht äußern. Das war wenige Tage vor Prozessbeginn. Sagen wir mal so in gewisser Weise ist es natürlich nachvollziehbar.
SK
Ich habe noch mal zwei Fragen, weil du gesagt hast, die Identität ist bestätigt. Kann man das wirklich so sagen? Oder ist es ein Indiz, dass er das sein könnte?
TF
Seine Verteidigung wird versuchen, das zu erschüttern. Warum er für etwas ausgezeichnet werden sollte, was er gegebenenfalls nicht begangen hat. Klar, das ist jetzt sozusagen eine Frage der Logik, warum wird jemand dafür ausgezeichnet, für die Verhinderung eines Grenzeübertritts, wenn das gar nicht stattgefunden haben soll? Also das wird auch eine Frage sein, wie das Gericht das bewertet und einordnet. Und natürlich ist es so, dass die Zeuginnen, die damals ich glaube, 15 und 16 Jahre alt waren, die Schülerinnen aus Bad Hersfeld, sich dieses Geschehens vor 50 Jahren auch nur bruchstückhaft erinnern. Ich meine es war für die, die das mitbekommen haben, wie vor ihren Augen ein Mensch erschossen wird, einfach so ohne Vorwarnung. Und das passierte direkt vor ihren Augen, für die war das traumatisierend. Das hat auch die erste Zeugin ausgesagt, die dann auch jahrelang nicht mehr nach Berlin gefahren ist, weil sie einfach Angst hatte. Und inwieweit diese Zeuginnen jetzt was zur Schilderung des Tatgeschehens beitragen können, substanziell, was dann auch auf mutmaßlichen Todesschützen und jetzigen Angeklagten hindeutet und wie das vom Gericht bewertet wird, muss man natürlich sehen. Man muss auch noch wissen, die Schülerinnen haben das ihrem Lehrer erzählt, was sie dort beobachtet haben und der Lehrer, inzwischen natürlich verstorben, wollte das aber nicht in West-Berlin bei der Polizei vorbringen, weil er auch Angst hatte, da passiert was. Er ist erst drei Tage nach der Tat beim Bundesgrenzschutz in Bad Hersfeld, also erst wieder in der Bundesrepublik, erschienen und hat dort geschildert, was da passiert ist. Und dann begannen die kriminalpolizeilichen Befragungen also diese waren auch schon wieder einige Tage vergangen, seit der Tat als führender befragt worden sind.
SK
Es gibt ja auch eine Frage, weil du gerade über diese Auszeichnung gesprochen hast, das ist der sogenannte "Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland". Und da ist es ja so, dass der jetzt angeklagte Manfred N. diesen Orden in Bronze bekommen hat. Und derjenige, der den Polen bis zur Friedrichstraße gefahren hat, hat ihn in Gold bekommen. Gibt es eine Erklärung für diese Diskrepanz?
TF
Ja. Der ihn gefahren hat, das war ein vom Rang deutlich höherer Offizier, der im Rang über ihm stand, auch mehr Dienstjahre schon auf dem Buckel hatte und damit, in den Augen der Staatssicherheit legitimiert war, auch eine solche hohe Auszeichung zu bekommen. Manfred N. war hingegen noch nicht solange bei der Staatssicherheit, hatte einen deutlich niedrigeren Rang. Und damit war dann auch klar, der kriegt dann auch die etwas niedrigere Auszeichnung, obwohl die damals eben auch für ihn eine sehr ungewöhnliche Auszeichnung war.
SK
Wir zeichnen auf am 28. März 2024. Morgen sind es genau 50 Jahre, wo das passiert ist. Man fragt sich ja doch immer wieder, warum eigentlich in solche Sachen nach 50 Jahren immer noch einmal Bewegung reinkommt beziehungsweise - andere Frage - 34 Jahre ist die Mauer gefallen, warum hat es eigentlich so lange gedauert?
TF
Ja. Ich glaube zum einen, es gab ja mehrere Versuche, Verfahren in diesem Fall anzustrengen. Man hat aber nie die Identität des mutmaßlichen Todesschützen herausfinden können. Und erst durch diese Akte, in der es um die Auszeichnung geht, ist klar, ok. Warum das jetzt 50 Jahre gedauert hat, darüber kann man nur spekulieren. Also zum einen eventuell, das es vielleicht von der deutschen Seite nicht so ein Aufklärungsinteresse in dem Fall gab, wie es angebracht wäre. Und das andere ist eine polnische Besonderheit. Der Historiker, der das mit seinem deutschen Kollegen recherchiert hat, gehört einer Institution an, die es in Deutschland so nicht gibt. Das ist das Institut für Nationales Gedenken. Das ist eine Art Aufarbeitungs-Institution, aber mit staatsanwaltlichen Befugnissen. Das heißt, dort werden Verbrechen am polnischen Volk untersucht, auch Verbrechen, wie im Zweiten Weltkrieg, an der Zivil-Bevölkerung gab, durch die deutsche Wehrmacht und die SS, und eben auch solche Fälle, wenn Polen im Ausland zu Tode kommen, in Zusammenhängen, die eventuell politisch sind. Und die haben sehr intensiv recherchiert, haben eben auch diese Akte gefunden. Vielleicht ist das in diesem Fall die Besonderheit
SK
Gibt es eigentlich auch Untersuchungen gegen zum Beispiel damalige Botschaftsangestellte der polnischen Botschaft, im Zuge dieses Todesfalls?
TF
Also, wenn es Untersuchungen gab, ist es mir nicht bekannt. Aber es ist ja eh, glaube ich, relativ unwahrscheinlich, dass da noch jemand lebt. Also Bruno Beater, der Mielke-Stellvertreter, der dass von ganz oben angeordnet hat, ist schon zu DDR-Zeiten gestorben. Hans Sabbat, der Vorgesetzte des jetzigen Angeklagten, ist auch vor einigen Jahren gestorben, und die Botschaftsangehörigen, die damals involviert waren, soweit ich weiß, lebt von denen niemand mehr.
SK
Irgendwann hat ja die die Witwe von Czesław Kukuczka, die Asche ihres Mannes bekommen. Also gab es dann trotzdem eine Zusammenarbeit der Behörden des damaligen Polens und der DDR?
TF
Ja, natürlich, die polnischen und die DDR-Behörden mussten ja eine Sprachregelung finden, wie Kukuczka zu Tode gekommen sei. Da ist auch wiederum interessant, die Polen wollten eigentlich so eine Art Legende entwerfen, dass Kukuczka irgendwo im Wald zu Tode gekommen sei. Er hätte sich verirrt und man hätte nach Tagen seine dann schon halb verweste Leiche gefunden. Die DDR aber, sozusagen mit preußischer Gründlichkeit, konnte da nicht mitmachen, weil Kukuczka ja obduziert worden ist in der Charité, nach seinem Tod. Und dort ist in einem vertraulichen Obduktionsprotokoll die Todesursache festgestellt worden. Das heißt, da konnte man jetzt nicht wieder zurück und dann jetzt auf einmal irgendwelche anderen Geschichten behaupten. Das heißt, man hatte sozusagen eine Legende entworfen, Grenzdurchbruch oder was auch immer, und hat ihn dann verbrannt und die Asche nach Polen geschickt. Und die Witwe ist auch nicht über die Umstände des Todes ihres Ehemanns informiert worden.
SK
Es heißt auch in Deinem Beitrag, den man übrigens in der ARD-Mediathek sehen kann, das die Familie nichts gewusst hat von diesen Fluchtplänen, dass er da niemandem eingeweiht hat. Die Frage, die sich ja auch stellt ist, warum musste der eigentlich sterben? Man hätte ihn ja auch einfach festnehmen können? Man hätte ihn zurückschicken können nach Polen. Alles, das wäre ja möglich gewesen...
TF
Also mit einem gezielten Schuss in die Beine hätte man ihn unschädlich machen können. Aber man wollte vermutlich nicht, das der Fall publik wird, dass es eventuell Nachahmer gibt, die dann sagen Ah, so geht es und da stirbt man gar nicht. Das heißt, es erschien den Stasi-Leuten dann die einfachste Lösung zu sein, den einfach umzubringen, anstatt eben, wie gesagt, ihn zu verletzen. Und dann wäre er ins Gefängnis gekommen, irgendwann wieder frei, vielleicht hätte er davon erzählt. Das wollte man verhindern, vielleicht auch als abschreckendes Beispiel.
SK
Dann lass uns doch mal zum Schluss noch mal über den Prozess reden. Man könnte ja jetzt eigentlich auch sagen- und ich glaube, das ist auch eine Argumentation, die jetzt gerade auch immer wieder aufkommt, ist, dass der jetzt angeklagte Manfred N. Ja quasi nur das Ende der Befehlskette gewesen ist. Trotzdem ist er angeklagt wegen Mordes, nicht wegen Totschlags. Das muss man vielleicht auch noch einmal ganz kurz erklären. Das kannst du besser, weil du hast dich ja schon viel mit solchen Geschichten beschäftigt. Die meisten Mauerschützen sind wegen Totschlags verurteilt worden, wenn man sie verurteilen konnte.
TF
Also ich denke mir, dass es deswegen kein Totschlag ist, weil der mutmaßliche Mörder, von hinten an Kukuczka herangetreten ist und ihn gezielt mit einem Rückenschuss hinterrücks quasi getötet hat. Und das wird als eine besondere Heimtücke bewertet, weil Kukuczka auch gar keine Möglichkeit hatte, das Geschehen wahrzunehmen. Und ihm waren auch in dem Moment jedenfalls nicht mehr, die Risiken bewusst. Also bei den Menschen, die an der Grenze oder an der Mauer erschossen worden sind, da war ja vollkommen klar, man begibt sich hier in den tödliches Risiko. Und ich könnte mir vorstellen, deswegen kommt hier Mord zur Anklage. Und deswegen muss man dann sehen, wie das ausgeht, zu welchem Urteil man am Ende kommt.
SK
Das ist relativ selten, dass es in diesen Fällen um Mord geht, habe ich gelesen. Ich habe noch mal nachgeschlagen. Es gab seit 1989 131, Gerichtsverfahren gegen gut 270 Verdächtige. Und wenn es zu Verurteilungen kam, dann fast immer wegen Totschlags und nicht wegen Mord. Deswegen ist das schon was besonderes ...
TF
Naja, ich denke, zum einen ist es die besondere Heimtücke, die hier als Mordmerkmal bewertet wird, eben dieser Rückenschuss, der zum Tode führte. Und dann ist es so der Täter hätte ja auch, das verweigern können.
SK
.. hätte er?
TF
Ja. Also, das ist ja sozusagen auch eine Argumentation, die in den Mauerschützenprozessen zum Tragen kam. Und auch in den letzten Jahren in Verfahren gegen SS-Leute oder auch zivile Angestellte, die im KZ tätig waren. Wie man inzwischen weiß, durch Untersuchungen, diese Leute hätten natürlich Disziplinierungsmaßnahmen ertragen müssen, aber sie wären zum Beispiel nicht erschossen worden oder so. Und in der Abwägung, verweigere ich den Befehl und rette damit quasi ein Leben oder mache mich nicht zum Mörder oder führe ich diesen Befehl aus, hat sich ja der mutmaßliche Mörder entschieden, aus freien Stücken diesen Befehl auszuführen. Es wird, denke ich, auch von der Verteidigung eine Taktik sein zu sagen, er hat nur Befehle ausgeführt. Aber wie gesagt, weil wir wissen, dass die Strafmaßnahmen, die er dazu erwarten hätte, natürlich da wären. Aber sein Leben nicht existenziell gefährdet hätten, denke ich mir, wird es für die Anklage oder für das Strafmaß, für das Urteil, keine Rolle spielen.
SK
Was ich noch wissen wollte, Tom, die Polen hatten ja eigentlich einen europäischen Haftbefehl erlassen, aber der Prozess findet jetzt in Berlin statt. Was hat das für Gründe?
TF
Die deutschen Behörden liefern ja generell deutsche Staatsbürger nur in sehr seltenen Fällen ins Ausland aus. Und man hat gesagt, wir führen den Prozess in Deutschland, prüfen die Beweise und Belege. Und dann kommt es gegebenenfalls in Deutschland zur Anklage. Und so war es ja dann auch. Warum und weshalb, kann man nur spekulieren...
SK
Wir haben es gesagt. Am 14. März hat der Prozess begonnen. Ich habe gelesen, sieben Prozesstage sind angesetzt. Weißt du bis wann es dauern wird, bis wir ein Urteil haben und was der Angeklagte im Zweifel einer Verurteilung zu erwarteten hat? Welches Strafmaß?
TF:
Es wird einmal pro Woche, an einem Tag pro Woche, verhandelt. Deswegen zieht sich das. Ursprünglich war geplant bis Ende Mai/ Anfang Juni soll es ein Urteil geben. Was der Angeklagte zu erwarten hat, wenn das Gericht feststellen sollte, das war Mord... Ich bin kein Jurist, das weiß ich nicht. Das muss man sehen. Aber es ist schwierig. Man muss ja bei einem Mord dem Angeklagten die direkte Tatbeteiligung nachweisen. Und die Verteidigung wird vermutlich die Aussagen der Zeuginnen anzweifeln, in Zweifel ziehen... Zu welchem Urteil dann am Ende des Gericht kommt, dazu kann ich wirklich zum jetzigen Zeitpunkt nichts sagen.
SK
In ein paar Wochen sind wir schlauer... Hintergründe und auch Bilder, zum Beispiel das erwähnte Schachspielen, das kann man alles sehen im Beitrag von Tom Fugmann in der ARD Mediathek.
Noch mehr spannende Kriminalfälle gibt es bei den Kollegen im Podcast ARD Crime Time. In Ihrer Folge "Der Menschenjäger" geht es um verschwundene junge Frauen, Vergewaltigungen, Mord. In den 70er und 80er Jahren gibt es eine Reihe von Kapitaldelikten an Frauen, die bis heute ungelöst sind. Ein Fall konnte jedoch nach Jahrzehnten aufgeklärt werden. Das Verschwinden der Millionärsgattin Birgit Meier. Im Jahr 2017 stößt ein privates Ermittlerteam auf die sterblichen Überreste der Frau. Und das im Haus eines Mannes, der bereits nach dem Verschwinden Birgit Meiers 1989 im Fokus der Ermittler stand. Seine Name ist Kurt-Werner Wichmann. Ihm werden die sogenannten "Göhrde-Morde" zugerechnet. Hat er noch viel mehr Menschen umgebracht als bislang bekannt? Der Staat kann nicht mehr gegen Wichmann ermitteln. Er hat sich 1993 in seiner Zelle erhängt, als der Fall Birgit Meier bereits kurz vor der Aufklärung stand. Doch die Angehörigen von Birgit Meier und zahlreiche andere Menschen wollten und wollen Gewissheit. Jetzt zu hören bei ARD Crime Time in der ARD Audiothek.