Chemnitz 2025 Kulturhauptstadt: Ein Tor in den Osten?
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11. Oktober 2024, 03:00 Uhr
In Kürze wird das Programm für das Kulturhauptstadt-Jahr 2025 vorgestellt. Die Organisatoren wollen auch die Lebenswirklichkeit und die Erfahrungen von Menschen aus Ostdeutschland berücksichtigen. Über die großen Untschiede zwischen Ost und West hat der Soziologe Steffen Mau ein Buch geschrieben, stand deshalb auch schon auf dem Kulturhauptstadt-Programm. Wie gut kann Kunst und Kultur zwischen Ost und West vermitteln – und vielleicht sogar Gemeinschaft stiften?
- Chemnitz will den "Standort Ost" nutzen, um zu vermitteln.
- Ein Kunstprojekt soll dabei das Leben und Lebensgefühl im Osten besonders beleuchten.
- Kunst und Kultur können eine gemeinschaftsstiftende Funktion bekommen.
In der Hartmannfabrik in Chemnitz sitzen jene Menschen, die das Programm für die europäische Kulturhauptstadt 2025 planen. Neben vielen organisatorischen Fragen stellen sie sich auch eine ganz zentrale inhaltliche Frage: Kann Kultur in diesen Zeiten überhaupt Antworten geben? Das haben zwei Kuratorinnen von Kulturhauptstadt-Projekten diese Woche auch mit dem Soziologen und Bestseller-Autor Steffen Mau ("Ungleich vereint") diskutiert.
Wir sind natürlich eine sehr besondere Stadt im Osten Deutschlands, aber mit einer Brücke nach Osteuropa.
Dabei ging es auch um den "Standort Ost" der Kulturhauptstadt Chemnitz – denn der könnte besondere Chancen bieten. Davon ist Kulturhauptstadt-Geschäftsführer Stefan Schmidtke überzeugt. Er sagt MDR KULTUR, dass er die geografische Lage von Chemnitz nutzen möchte, um Mittler zu sein: "Wir sind natürlich eine sehr besondere Stadt im Osten Deutschlands, aber mit einer Brücke nach Osteuropa und dieses besondere, verbindende Glied, wird sich programmatisch widerspiegeln."
Chemnitz also als Scharnier zwischen Ost und West. "Was unser Land bis jetzt getragen hat, ist, dass wir die Unterschiede in Nord und Süd und in Ost und West auch anerkennen und respektieren", betont Schmidtke. Es ginge auch darum, "in einem Land gemeinsam zu leben, auch wenn wir unterschiedlich denken."
Gesellschaftliches Engagement im Osten fehlt
Genau da setzt auch Steffen Mau an und legt den Finger in die Wunde: In Ostdeutschland gebe es "zu wenig Zivilgesellschaft, zu wenig Stiftungen, zu wenig ehrenamtliches Engagement und zu wenig gesellschaftsgestaltende Kraft von Leuten, die sich irgendwie engagieren", betont der Soziologe. Das stehe in keinem Verhältnis.
Seine These untermauert er mit Daten: Es gebe nur ein Drittel so viele Stiftungen im Vergleich zu Westdeutschland. Von 100 wahlberechtigten Ostdeutschen seien nur 0,8 Mitglied einer im Bundestag vertreten Partei. Mit Blick auf die Altersstruktur der Parteien prophezeit der Soziologe, dass es in zehn Jahren nur noch 0,5 von 100 Wahlberichtigen seien. "Wie will man dort vor Ort Politik machen – das ist unmöglich, das funktioniert nicht", sagt Mau. "Zivilgesellschaftliche Formschwäche" nennt das Mau und: eine "Gesellschaft der kleinen Leute".
Kulturhauptstadt-Chef Schmidtke formuliert eine optimistische Perspektive auf dieses Phänoment: "Wir sind natürlich ein großartiges Land der Unterschiede, das macht unser Land so reich." Kann daraus auch eine Stärke entstehen? Mitwirkungsdemokratie? "Chemnitz 25" versucht über kulturelle Projekte eine gewisse Selbstwirksamkeit zu erschaffen.
Es geht eben darum, in einem Land gemeinsam zu leben, auch wenn wir unterschiedlich denken.
Kunstprojekt fördert Gemeinschaft
Das Kunst-Projekt #3000Garagen ist eines der Hauptprojekte der Kulturhauptstadt 2025. Dabei geht es vor allem darum, Biografien zu beleuchten. Über die Garagen und was sie beinhalten, soll ein Blick hinter die Kulissen gewährt werden. So sollen die Menschen in den Fokus rücken: ihre Leben und ihr Umfeld, damals in der DDR und heute.
3.000 Biografien waren ursprünglich geplant – 30.000 sind es nun geworden. Die Kuratorin Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka jedenfalls freut sich auf die Garagengeschichten: "Dieser Gemeinschaftsaspekt war tatsächlich für mich am Anfang das allerwichtigste Merkmal von den Garagen." Manche haben darin sogar heimlich ein U-Boot gebaut, um eine Flucht vorzubereiten, erzählt Soziologe Mau.
Kunst und Kultur haben wichtige Funktion
Es gebe so etwas wie einen "sense of togetherness", also ein Gemeinschaftsgefühl, sagt Mau. "Kunst kann einen da schon an die Hand nehmen und sagen: Ich gebe euch Inspiration, eine Ebene von Sinnstiftung oder Transzendenz und ihr seid nicht einfach nur Arbeitstiere oder Empfänger von Sozialleistung, sondern ihr seid Leute mit kreativem Geist, die Dinge nochmals anders drehen können." Es gebe also in diesem Sinne "eine große Funktion von Kunst und Kultur."
Eine große Funktion, die in der Chemnitzer Hartmann-Fabrik, einem hübsch restaurierten Industriebau, bis zum Beginn des Kulturhauptstadt-Jahres im Sommer weiter Gestalt annehmen soll. Die ungeschönten Wahrheiten des Soziologen Steffen Mau hier diese Woche ausgesprochen hat, wirken wir eine Motivation, um ohne Verdruss und mit geradem Rücken eine neue Kraft in Chemnitz zu entwickeln. Die strahlt dann vielleicht nach Ost und West, um zu verbinden.
Quellen: MDR KULTUR (Blanka Weber, Ben Hänchen)
Redaktionelle Bearbeitung: lig
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 11. Oktober 2024 | 07:10 Uhr