Haushaltsdefizit Zahlreiche Jugendhilfeangebote in Chemnitz vor dem Aus
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22. November 2022, 05:30 Uhr
In Chemnitz droht mehreren Jugend- und Familienangeboten das Aus. Das Jugendamt hat sie informiert, dass ihre Förderung zum Jahreswechsel wegfällt. Insgesamt über eine Million Euro will die Stadt streichen. Fraktionsübergreifend gibt es scharfe Kritik aus dem Stadtrat.
Kopfschütteln und Fassungslosigkeit löst ein Schreiben des Jugendamts Chemnitz derzeit bei vielen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe der Stadt aus. Insgesamt zwölf Projekten wurde am vergangenen Donnerstag schriftlich mitgeteilt, dass ihre Förderung zum 1. Januar ausläuft. Grund dafür seien Einsparungen aufgrund eines Haushaltsdefizites.
Gehört haben die Träger davon mit dem Schreiben zum ersten Mal. "Es ist insofern besonders skandalös, weil es überhaupt keine Vorabsprache mit dem Jugendhilfeausschuss, der dafür zuständig wäre, gab", sagt Peter Wild, Bereichsleiter für soziale Dienste der Stadtmission Chemnitz. "Die Stadt hat einen Alleingang gemacht und hat alle Träger ohne Vorgespräche vor vollendete Tatsachen gestellt."
Enttäuschung über Vorgehen und Kommunikation der Stadt Chemnitz
Bei der Stadtmission ist die Jugendberatungsstelle "Prisma" von den Kürzungen betroffen. Das "Prisma" ist laut Wild eine Beratungsstelle für Jugendliche, die einen Ausbildungsplatz suchen, die Schule abgebrochen haben oder Schwierigkeiten haben, den Schritt ins Erwerbsleben zu gestalten. "Das betrifft also auch diejenigen, die den Anschluss durch Corona verloren haben", sagt Wild.
Die Stadt hat einen Alleingang gemacht und hat alle Träger ohne Vorgespräche vor vollendete Tatsachen gestellt.
Am Montagnachmittag hat eine Videokonferenz mit dem Jugendamt und den betroffenen Einrichtungen stattgefunden. Auf inhaltliche Themen sei dabei nicht eingegangen worden, erzählt Wild. "Das hat uns sehr wütend gemacht und empört, dass die Haushaltslage darüber entscheidet, wie es Kindern und Jugendlichen in dieser Stadt geht", sagt er. Es sei nur um die Einsparungsnotwendigkeit gegangen. Lediglich die schlechte Kommunikation sei eingestanden worden, Lösungsvorschläge habe es keine gegeben.
"Kraftwerk" nach 29 Jahren von Schließung bedroht
Auch Cynthia Kempe-Schönfeld vom soziokulturellen Zentrum "Kraftwerk" zeigt sich nach der Sitzung enttäuscht. "Im Kern ist das Jugendamt bei seiner Botschaft geblieben", sagt sie. Für das "Kraftwerk" hängt nicht nur das Projekt zur außerschulischen Bildung an den Einsparungen. "Wir fördern über dieses Projekt einen Großteil der Unterhaltskosten für unser Gebäude", so Kempe-Schönfeld.
Sollte das Projekt also gestrichen werden, muss wahrscheinlich das ganze "Kraftwerk" geschlossen und der Verein nach 29 Jahren soziokultureller Arbeit in der Stadt abgewickelt werden. "Ich glaube, diese Tragweite ist den Verantwortlichen nicht bewusst", sagt Kempe-Schönfeld. Sie wolle dies nun in individuellen Gesprächen klarmachen und auch mit den anderen Trägern ein gemeinsames Vorgehen abstimmen.
Stadt Chemnitz spricht von Sparzwängen
Die Stadt Chemnitz erklärt, dass die Haushaltsaufstellung für das nächste Jahr sehr schwierig sei, vor allem in Hinblick auf die Energiekrise. "Natürlich hätten wir uns in diesem konkreten Fall eine andere Kommunikation gewünscht, dass man zuerst mit den Betroffenen spricht, bevor die Schreiben rausgehen", räumt Stadtsprecher Matthias Nowak ein. In den nächsten Tagen soll es nun individuelle Gespräche mit den Einrichtungen geben und man hoffe, gemeinsam Lösungen zu finden.
Insgesamt gebe es 146 Projekte im Bereich der Jugendhilfe, die mit 14 Millionen Euro gefördert werden. Davon muss nun eine Million Euro eingespart werden, was der Streichung von zwölf Projekten entspricht. Obwohl die Träger in dem Schreiben aufgefordert werden, ihre Projekte zum 1. Januar abzuwickeln, laufen die Förderungen laut Nowak noch bis Mitte nächsten Jahres weiter.
Stadtratsfraktionen sind erschüttert
Die Stadträte zeigen sich fraktionsübergreifend überrascht und erschüttert. Einige ausgewählte Stadträte wären am Dienstagnachmittag kurzfristig zu einem Termin am Donnerstagnachmittag eingeladen worden, bei denen die Liste der Projektstreichungen präsentiert wurde. "Das war ungefähr zwei Stunden, bevor die Träger die Schreiben erhalten haben", sagt Kai Hähner von der CDU. Viele Stadträte haben nach Angaben aus allen Fraktionen aber erst aus den Medien von den Plänen erfahren.
"Die Art und Weise und auch der Ton, in dem mit den Trägern umgegangen wird, geht gar nicht", sagt Hähner. Es würde die langjährige gute Zusammenarbeit mit Füßen treten. Er ist sich sicher, dass bei einer derartigen Streichung der präventiven Projekt in einigen Jahren sehr viel höhere Kosten entstehen werden.
Die langjährige gute Zusammenarbeit der Stadtverwaltung mit den freien Trägern wird mit Füßen getreten.
SPD stellt Vertrauensverhältnis zu Stadtverwaltung in Frage
"Das Vorgehen der Stadtverwaltung gegenüber den Trägern und die Nichtinformation der Stadträte stellt das bisher bestehende 'Vertrauensverhältnis' für mich in Frage und es fühlt sich an, als ob nicht nur den Projektträgern, sondern auch uns ehrenamtlich Engagierten der Boden unter den Füßen weggezogen wurde", sagt Jacqueline Drechsler, Fraktionsvorsitzende der SPD im Chemnitzer Stadtrat.
Der Haushaltsentwurf, auf dem die Kürzungen basieren, liegt den Stadträten bislang nicht vor. "Wir sind daher nicht in der Lage, die Kürzungen einzuordnen, zu verstehen oder Gegenvorschläge zumachen", sagt Maik Otto von der SPD-Fraktion, der auch stellvertretender Vorsitzender des Jugenhilfeausschusses ist. Er sieht auch den Ausschuss in die Entscheidungen nicht genug eingebunden.
AfD sieht Kürzungsmöglichkeiten bei Theater und Kunstsammlungen
Die AfD spricht sich ebenfalls deutlich gegen die geplanten Kürzungen aus. "Wir dürfen nicht bei unseren Kindern und Jugendlichen sparen. Diese Generation ist die Zukunft unserer Stadt und unserer Gesellschaft", sagt Nico Köhler. Es müsse dringend geprüft werden, wo die Summe noch im Doppelhaushalt 2023/2024 zu stemmen wäre. "Allein die Städtischen Theater und Kunstsammlungen werden jährlich mit weit mehr als 30 Millionen Euro subventioniert", so Köhler. "Hier sehen wir definitiv Kapazitäten für Umschichtungen."
Die Fraktion Pro Chemnitz sieht ebenfalls Möglichkeiten das Geld von anderen Projekten abzuziehen. "In Chemnitz gibt es Jugendhilfeprojekte, welche es zu erhalten gilt und es gibt aber auch Projekte, wie das Alternatives Jugendzentrum (AJZ) wo unserer Ansicht nach die Mittel zukünftig eingespart werden sollten", teilt die Fraktion auf Anfrage mit.
Grüne fordern Einsicht in Haushaltsentwurf
Die Fraktion der Grünen sieht die Kürzungen vor allem vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der Energiekrise und der Inflation als unverantwortlich an. "Gerade jetzt brauchen Kinder und Jugendliche verlässliche Anlaufstellen und Hilfsangebote", sagt Christin Furtenbacher, Sprecherin für Kinder- und Jugendpolitik. "Es ist inakzeptabel, dass exorbitante Streichlisten öffentlich verhandelt werden, obwohl der Stadtrat noch nicht mal einen Entwurf für den neuen Haushalt erhalten hat."
Sie fordert die Stadtverwaltung auf, den Haushaltsentwurf umgehend den Stadtratsfraktionen vorzulegen. "Eine Entscheidung über diese massiven Kürzungsabsichten im Bereich der Jugendhilfe ist nicht möglich, solange der Stadtrat kein klares Bild über den Gesamthaushalt und die Verteilung der Mittel hat."
Linke nennt Vorgehen skandalös
Die Fraktion der Linken findet es unverantwortlich, dass die Vorschläge für Kürzungen nicht im Jugendhilfeausschuss diskutiert wurden. Sie würden nun verbunden mit allen Ängste und Befürchtungen der betroffenen Träger, Projekte und der Nutzer in der Öffentlichkeit stehen. "Das Verfahren ist skandalös, unseriös, wird der Problematik in keiner Weise gerecht und unterläuft das Haushaltsrecht des Stadtrates", so die kinder- und jugendpolitische Sprecherin Sandra Zabel.
"Familienzentren nicht als familiäres Bastelangebot missverstehen"
Neben anderen Projekten stehen auch alle acht Familienzentren auf der Liste der Streichungen. Der Stadtelternrat findet diese Entscheidung nicht nachvollziehbar. "Familienzentren dürfen nicht als familiäres Bastelangebot missverstanden werden", schreibt der Stadtelternrat in einer Stellungnahme. "Eine Schließung der Familienzentren wird fatale Auswirkungen auf unterstützungsbedürftige Familien der Stadtteile haben." Gerade im Hinblick auf die Corona-Pandemie seine Programme wichtig, die Kinder hinsichtlich ihrer Defizite und Auffälligkeiten wieder integrieren.
"Chemnitz auf dem Weg zur Kulturhauptstadt scheint zu vergessen, dass eine Stadt von den Menschen lebt und geprägt wird, die in ihr wohnen", so der Stadtelternrat weiter. "Chemnitz benötigt eine Kultur der sozialen Ausgewogenheit und der guten interkulturellen Integration und Interaktion."
Am 6. Dezember muss der Jugendhilfeausschuss den Kürzungen zustimmen. Sowohl die CDU als auch die SPD haben bereits angegeben, diese Zustimmung nicht geben zu wollen.
MDR (ali/ds/Sven Böttger)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 21. November 2022 | 19:00 Uhr