Ausschreitungen 2018 "Emotional runtergeknüppelt" – Chemnitz fünf Jahre nach dem Tod von Daniel H.
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26. August 2023, 21:18 Uhr
Fünf Jahre nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. am Rande des Chemnitzer Stadtfestes und den Ausschreitungen danach wird weiter nach einem der Täter gefahndet, einer ist bereits verurteilt. Es gab ein europaweit beachtetes Konzert mit dem Titel "Wir sind mehr!" und eine erfolgreiche Kulturhauptstadtbewerbung. Doch Normalität herrscht in der Stadt noch immer nicht.
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- Am 26. August 2018 wurde der Chemnitzer Daniel H. bei einer Messerstecherei getötet.
- Die juristische Aufarbeitung der sich anschließenden Gewalttaten ist noch nicht beendet.
- Das Konzert "Wir sind mehr" wurde in nur einer Woche auf die Beine gestellt.
Vor fünf Jahren, am 26. August 2018, kam Daniel H. am Rande des Chemnitzer Stadtfestes bei einer Messerstecherei ums Leben. Einer der mutmaßlichen Täter, Farhad A., aus dem Irak, ist weiter auf freiem Fuß und wird in der Türkei vermutet. Der andere, der Syrer Alaa S., wurde zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Nach der Tat kam es in Chemnitz zu massiven Protesten, bei denen Neonazis und Fußball-Hooligans Seite an Seite mit Bürgern demonstrierten.
Außerdem gründete sich die rechtsextremistische Terrorgruppe "Revolution Chemnitz", die kurz nach einem ersten Überfall, verübt durch einige ihrer Mitglieder auf eine Gruppe Jugendlicher und eine Gruppe mit überwiegend ausländischen Staatsbürgern am Chemnitzer Schlossteich, aufflog. Ihre Teilnehmer mussten sich vor Gericht verantworten und wurden zu Haftstrafen verurteilt. Es gab rassistische Angriffe und einen Anschlag auf ein jüdisches Restaurant. Der Streit um die Frage, ob es "Hetzjagden" auf mutmaßliche Migranten gegeben hatte, wurde auf Bundesebene zur Zerreißprobe für die damalige Große Koalition. In der Folge verlor Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen sein Amt.
Trotz zahlreicher Gerichtsverfahren ist die juristische Aufarbeitung fünf Jahre danach noch nicht gänzlich abgeschlossen.
Opferberatung: Gemischte Bilanz bei der juristischen Aufarbeitung
Mit Blick auf die juristische Aufarbeitung zieht André Löscher, der in Chemnitz Betroffene rechter Gewalt berät, eine gemischte Bilanz. "Wenn man von den reinen Zahlen ausgeht, haben sich die Taten mit rechtsmotivierter Gewalt auf das Niveau von vor 2018 eingepegelt."
"Chemnitz ist damit in Sachsen kein Schwerpunkt solcher Taten mehr", sagt Löscher und ergänzt: "In den vergangenen fünf Jahren haben wir im Schnitt zwischen 15 und 18 solcher Angriffe gehabt." 2018 seien es dagegen fast 80 gewesen. "Andererseits wird es rechten Akteuren in einer entpolitisierten Stadtgesellschaft leicht gemacht. Die schweigende Mehrheit positioniert sich nach wie vor nicht."
Auch aus der Politik kämen immer solche Floskeln wie die "schnelle Verfolgung und Verurteilung der Täter mit aller Härte des Rechtsstaates". "Wir müssen aber konstatieren, dass zum Beispiel einer der rechtsmotivierten Angriffe von Anfang September 2018 nach wie vor nicht vor Gericht verhandelt wurde." Das sei kein gutes Zeichen an die Betroffenen und die Gesellschaft, sagt Löscher. Andere Verfahren seien jedoch sehr schnell und konsequent verhandelt worden. "Auch das hat es gegeben, aber das ist eben nicht der Regelfall."
Ermittlungsverfahren und Prozesse nach den Ausschreitungen in Chemnitz 2018
Nach den Ausschreitungen in Chemnitz im Zusammenhang mit dem Tod von Daniel H. wurden mehr als 240 Ermittlungsverfahren eingeleitet und 235 Tatverdächtige ermittelt.
Die 142 Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Chemnitz in diesem Zusammenhang sind abgeschlossen. Davon wurden 97 eingestellt, weil keine Täter ermittelt oder die Tat nicht nachgewiesen werden konnte.
Mehrere Gerichtsverfahren stehen noch aus. Dabei geht es um 27 Personen, die nach einer Demonstration am 1. September 2018 insgesamt elf Gegendemonstranten angegriffen und verletzt haben sollen.
Quelle: dpa/Staatsanwaltschaft Chemnitz/Generalstaatsanwaltschaft Dresden
"Wir sind mehr" – Mehr als nur ein Konzert wird in einer Woche gewuppt
Einer der Mitorganisatoren für das "Wir sind mehr"-Konzert blickt aus seiner ganz persönlichen Sicht auf die Ereignisse 2018 zurück. "Ich kam am Stadtfest-Sonntag zurück nach Chemnitz und habe die Hetzjagden gesehen. Es war eine sehr angespannte Stimmung in der Stadt." Bei der ersten Demonstration am Montag sei er auf der Seite der Gegendemonstranten gewesen.
"Auf dem Heimweg saßen selbst in 'meiner' Pizzeria um die Ecke als Neonazis erkennbare Schlägertypen." Noch in der Nacht habe er per Whatsapp Kontakt mit Sören Uhle von der Chemnitzer Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH (CWE) aufgenommen. "Ich habe ihm geschrieben, dass wir dem schnell etwas entgegensetzen müssen."
Dann sei alles ganz schnell gegangen. "Es gab das ganze Programm: eine Whatsapp-Gruppe mit einem Dutzend Mitstreitern, ein improvisiertes Büro bei der CWE, Kontakt mit dem Management der Band Kraftklub - mein Telefon stand nicht mehr still", sagt er. "Als dann klar war, dass die 'Toten Hosen' auch auftreten werden, wussten wir, dass es richtig groß werden würde."
Da habe auch die Stadt gezeigt, was möglich ist. "Das Ordnungsamt hat die Genehmigungen erteilt, Feuerwehr und Nahverkehr waren flexibel." Die Stadtgesellschaft habe zusammengehalten. "Alle haben gesagt: 'So geht es nicht!'. Wir müssen dem gemeinsam etwas entgegensetzen." Das habe das Konzert gezeigt, zu dem mindestens 65.000 Leute aus und nach Chemnitz gekommen seien, sagt er.
Alle haben gesagt: So geht es nicht!
CWE-Chef Sören Uhle: Wir wollen eine offene Gesellschaft
Sören Uhle hat mit der CWE das Konzert organisiert. "Ich musste das Stadtfest vorzeitig beenden, dann folgten die Demonstrationen." Das habe alle "emotional runtergeknüppelt". "Aber dann folgten die wildesten Tage unseres bisherigen Lebens." Man habe mit dem "Wir sind mehr"-Konzert wieder etwas zurechtgerückt in der medialen Wahrnehmung der Stadt. "Wir wollen eine offene Gesellschaft bleiben. Und das haben wir 2018 mit großer Wucht dargestellt."
Wir wollen eine offene Gesellschaft bleiben. Und das haben wir 2018 mit großer Wucht dargestellt.
Von der zukünftigen europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz erwartet er ebenfalls viel. "Die Ereignisse von 2018 sind ja Teil der Bewerbung gewesen. Die Euphorie, als Stadtgesellschaft zusammenzustehen, die erwarte ich mir auch dafür." Er sei sich bewusst, dass man auf diesem Weg noch lange nicht am Ende sei. "Aber eine solche Chance, als Europäische Kulturhauptstadt international gesehen zu werden, die kommt nicht noch einmal." Und die sollten alle Chemnitzerinnen und Chemnitzer nutzen, sagt Uhle.
MDR (tfr)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Chemnitz | 25. August 2023 | 12:30 Uhr