Hochwasser 2013 in Schönhausen "Man möchte es vergessen" – ein Dorf und das Leben nach der Flut

27. Juli 2021, 18:52 Uhr

Die aktuelle Flutkatastrophe weckt auch in Sachsen-Anhalt dunkle Erinnerungen. Was den Menschen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz noch bevorsteht, haben sie in Schönhausen in der Altmark bereits erlebt. Eine Geschichte über Szenen wie im Krieg und den Umgang mit dem Unglück.

Jeden Tag ging Elke Hanitzsch früher auf dem Weg zur Schule durch den Park. Im Sommer spendeten ihr die Rotbuchen, Jahrhunderte alt und meterhoch, Schatten. Im Winter watete sie durch den Schnee.

Einmal brach der Nachbarsjunge beim Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Graben inmitten der Anlage ein. Ihr Vater rettete ihn.

Später tanzte Elke Hanitzsch im Park. Vor der Bühne wurde gefeiert, auf ihr spielten sogar einmal "Karat". Das ganze Dorf war stolz darauf.

Nur eine Straße trennte ihr Elternhaus vom Park. Doch die Familie hat das Haus längst verkauft. Und der Park verkommt.

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Das Bühnendach bröckelt. Das Gestrüpp wächst wild. Nur die Erinnerungen von Elke Hanitzsch erwecken diesen Ort noch zum Leben.

"Der Park war wie ein Zuhause für mich. Es tut weh, ihn so zu sehen", sagt die 62-Jährige – obwohl er nicht nur schöne, sondern auch die schlimmsten Erinnerungen weckt.

"Man sieht, dass hier irgendwann mal etwas passiert sein muss", sagt Elke Hanitzsch und stockt kurz. "Das ist der einzige Ort im Dorf", sagt sie dann, "an dem man es noch wirklich erkennen kann. An dem man erkennen kann, dass die Flut hier war."

Evakuierung in der Nacht

Früher ging Otto von Bismarck mit seinen geliebten Doggen in dem barocken Park spazieren. Später ließ er die Tiere dort begraben. Der Reichskanzler wurde 1815 in Schönhausen geboren.

Heute sitzt Elke Hanitzsch dort, wo früher das Bismarck-Schloss stand. Sie zeigt drei Meter nach links. "Dort soll er geboren worden sein", sagt sie. Wenn sie auf ihrem Weg durch das sieben Fußballfelder große Anwesen früher Touristen traf, erzählte sie ihnen auch solche Anekdoten. Inzwischen informieren Besucher sich im Bismark-Museum. Der Park ist weitestgehend gesperrt.

Eine Viertelstunde mit dem Auto ist das 2.300-Einwohner-Dorf von Stendal entfernt. Und fünf Minuten von Fischbeck, dem Ort, in dessen Nähe am 10. Juni 2013 der Deich brach. Nachts gegen halb eins, auf einer Länge von fünfzig Metern.

Elke Hanitzsch und ihre Eltern wurden damals evakuiert. "Mitten in der Nacht aus dem Bett geholt", wie sie sagt. "Wir haben das Wasser auf uns zukommen sehen." Noch genau erinnert sie sich an die Lautsprecherdurchsagen von Polizei und Bundeswehr: "Wir fordern alle Bürger auf, die Häuser zu verlassen." Hanitzsch sagt: "Ich habe mich dann auch mit vielen älteren Einwohnern unterhalten – und etliche haben gesagt, dass sie dieses Szenario an den Krieg erinnert hat."

"Ich bete, dass ihr krankes Herz das alles aushält"

Wenn die 62-Jährige in diesen Tagen den Fernseher einschaltet, schießen die Gedanken an damals wieder durch ihren Kopf. Die Bilder der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz werden zum Déja-Vu. "So etwas zu sehen, tut immer noch weh", sagt sie und äußert Unverständnis: "Ich verstehe nicht, warum die Menschen dort nicht rechtzeitig gewarnt wurden. Meteorologen und Politiker wussten doch, dass Starkregen kommt und es schlimm werden kann."

Auch wenn die Evakuierung damals für sie und ihre Familie schlimm gewesen ist: "Bei uns gab es keine Toten. Das ist, was am Ende zählt. Aber dort sind mehr als 170 Menschen gestorben. Jeder einzelne ist einer zu viel. Und wer verantwortet das jetzt?"

Zwei Wochen verbrachten Hanitzsch, ihr erwachsener Sohn, ihre Schwester und ihre Eltern damals in Stendal. Jeden Abend schrieb die heute 62-Jährige damals Tagebuch. Später veröffentlichte sie auf Grundlage der Einträge das Taschenbuch: "Als das Hochwasser kam". Eine sehr persönliche Dokumentation der Zeitgeschichte, mit eindringlichen Schilderungen wie der des Tages der Rückkehr nach Schönhausen:

"Meine Mutter bleibt im Auto sitzen. Nun laufen wir in Gummistiefeln durch die Märsche. Der Park sieht schrecklich aus. Das Wasser schwappt unter unseren Füßen. Es kommt mir vor, als würde hier ein Film ablaufen. Kisten, Tonnen, viele andere Gegenstände, die man nicht genau erkennen kann, schwimmen herum, wurden von irgend woher angespült. Nun kommen wir an unserem Haus an. Hier haben wir vor 13 Tagen ein großes, blühendes Grundstück verlassen. Und nun?

Ich sehe nur ein einziges Chaos. Alles, alles ist grau und mit Schlamm bedeckt. Es gibt keine Farben mehr. Ich habe den Eindruck, das hier ist ein riesiges Geister-Grundstück. Im Stall herrscht ein Riesen-Durcheinander. In der Wirtschaftsküche schwimmen die Propangas-Flaschen herum. Ich frage mich, wie wir all das nur aufgeräumt bekommen.

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Wir wollen noch in den Keller schauen – die Tür geht nicht auf. Aber wir wissen auch so, dass die fünf Kellerräume alle noch meterhoch unter Wasser stehen. Und nun gehen wir ins Haus hinein. Die Tür lässt sich kaum öffnen. Alle Holztüren haben sich total verzogen. Wir haben immer noch gehofft, dass das Wasser nicht ins Haus eingedrungen ist. Aber nun wird diese Hoffnung brutal zunichte gemacht.

Wir laufen über Pfützen, über wabernde Teppiche, die Möbel sind unten alle schon verschimmelt. Tapeten sind bis in Höhe von etwa 30 Zentimetern schwarz und lösen sich. In der Luft liegt ein furchtbarer Geruch.

Mein Vater ist ganz still, Worte findet er keine. Wir verlassen das Grundstück, waten wieder durch das Wasser. Wir kommen wieder in der Breitscheidstraße an, gehen zum Auto, in dem meine Mutter schon wartet. Ich hoffe und bete, dass ihr krankes Herz das alles aushält."

"Das Schreiben hat mir geholfen"

Auf 119 Seiten hat Elke Hanitzsch ihre Erlebnisse und Gefühle vom 8. bis 23. Juni aufgeschrieben. Entstanden ist das Taschenbuch "Als das Hochwasser kam – Tagebuch einer Evakuierten aus Schönhausen/Elbe".

Hanitzsch sagt: "Das Schreiben hat mir einfach geholfen, das Geschehene zu verarbeiten. Und ich habe es auch geschrieben, um den Menschen hier ein Zeitdokument zu hinterlassen."

Schweigen und vergessen

Alfons Dobkowicz war Bürgermeister in Schönhausen, als das Hochwasser kam. Er schuftete damals bis zuletzt am Deich, um sein Dorf zu schützen. Doch am Ende: Resignation. "Man kann nichts mehr machen", sagte Dobkowicz dem SPIEGEL. "Nichts außer zusehen." Zusehen, wie "Schönhausen zur Insel wird".

Bürgermeister ist Dobkowicz längst nicht mehr. Und reden will er über die Katastrophe vor acht Jahren auch nicht mehr. "Das sollen andere machen", sagt er am Telefon. "Da finden Sie bessere Ansprechpartner." Die Freiwillige Feuerwehr zum Beispiel. Doch die Kameraden antworten auf eine Anfrage nicht.

Besuch also bei einem, der damals zum tragischen Helden wurde: Gernot Quaschny, einem der letzten hauptberuflichen Fischer an Elbe und Havel. Quaschny und seine Familie verloren durch die Flut alles, was sie sich jahrelang aufgebaut hatten. Das Wasser stand wochenlang in den Gebäuden.

Doch in der eigenen Not half Quaschny sogar noch anderen. In seinem Fischerboot rettete er Wald- und Haustiere vor dem Ertrinken, immer wieder versorgte er die Zurückgebliebenen in den betroffenen Orten.

Heute erinnert auf seinem Grundstück nur noch ein besonderes Bauwerk an damals: Quaschny lebt mit seiner Frau auf einem großen Hausboot. Es steht auf dem festen Land. "Unsere Arche kann nicht untergehen und bei einer erneuten Flut Menschen und Tiere aufnehmen", sagte Quaschny dem Portal "Altmarkgeschichten" einmal.

Mehrfach wurde Gernot Quaschny damals für sein Engagement ausgezeichnet. "Auch ich habe ihn dafür bewundert", sagt Elke Hanitzsch. Doch inzwischen hat der Fischer wohl damit abgeschlossen. "Bin nicht dabei", antwortet Quaschny so kurz, wie man nur angebunden sein kann, auf eine Gesprächsanfrage – und geht auf seinem Hof von dannen.

Ein Leben für die Elbe

Für Schönhausen ist die Flut längst Vergangenheit. Das, was den Menschen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz noch bevorsteht, hat das Dorf hinter sich. Fluthilfen wurden zwar gezahlt, erzählt Elke Hanitzsch, aber langsam. Schönhausen als kleiner Ort habe nie im Fokus gestanden.

Inzwischen sind die Häuser wieder aufgebaut. Doch die schmerzvollen Erinnerungen bleiben. "Die meisten wollen nicht mehr darüber reden. Man möchte es vergessen", sagt Elke Hanitzsch. "Es war schlimm und schwer für jeden hier. Dieses Päckchen tragen wir alle unser Leben lang mit uns herum."

Ich hoffe, dass es hier bald wieder so schön sein wird, wie es einmal war.

Elke Hanitzsch aus Schönhausen über den 2013 gefluteten Park

Und als ob das alles nicht tragisch genug gewesen wäre, erzählt die 62-Jährige dann noch: "Mein Großvater und auch mein Vater waren Deichbeauftragte hier in Schönhausen." Bereits als Kind und auch später noch fuhr sie an jedem Wochenende mit ihnen zum Deich, um zu prüfen, ob alles in Ordnung sei. "Sie haben ihr Leben auch der Elbe, der Natur gewidmet", sagt Hanitzsch. "Doch verschont wurden sie letztlich nicht."

Ganze zwölf Monate für den Wiederaufbau

Ein Jahr benötigte die Familie, um den Hof wieder aufzubauen. "Man war dann in der Aufbaumühle drin", sagt Elke Hanitzsch. "Es ging dann nur noch nach vorne." Alles auch mental zu verarbeiten, dauerte weit länger. So wird es nun auch für die Menschen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen sein. "Es gibt einige Familien, die danach weggezogen sind oder aus der Evakuierung nicht zurückkamen", sagt Hanitzsch. "Das Leid und Elend war groß, für manche sicher zu schlimm. Das macht ja was mit den Menschen."

Doch sie ist geblieben – und mit ihr die Hoffnung darauf, dass der Park irgendwann einmal an die guten alten Zeiten erinnern wird. "Es wird ja schon aufgeforstet", sagt Elke Hanitzsch und wirft einen letzten Blick auf die Anlage. "Ich hoffe, dass es hier bald wieder so schön sein wird, wie es einmal war." Bevor das Hochwasser kam.

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Über den Autor Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.

Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt. Bei MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet er seitdem als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.

MDR/Daniel George

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 28. Juli 2021 | 07:30 Uhr

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