Hohe Dunkelziffer vermutet Kriminologe: Polizeigewalt in Sachsen-Anhalt größeres Problem als angenommen

18. Dezember 2022, 15:31 Uhr

In Sachsen-Anhalt sind 2021 rund 100 Fälle von Polizeigewalt zur Anzeige verbracht worden. Eine Studie zeigt, dass die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher ist. Betroffene von "Körperverletzung im Amt" zeigen diese nur selten an – auch, weil es kaum Aussicht auf Erfolg gibt. Obwohl der Umgang mit Gewalt ein wichtiges Thema in der Ausbildung von Polizisten ist, ist die Aufarbeitung der Vorfälle schwer.

Bild einer jungen Frau
Bildrechte: Martin Neuhof

Am Amtsgericht Weißenfels gab es im November ein seltenes Urteil: Ein Polizeibeamter ist wegen Körperverletzung im Amt zu einer Geldstrafe verurteilt worden, zwei weitere wegen gemeinschaftlich begangener Körperverletzung im Amt zu Bewährungsstrafen. Zuerst berichtete die "Mitteldeutsche Zeitung" darüber. Demnach wird den Polizisten einer Spezialeinheit vorgeworfen, bei einer Festnahme im Jahr 2020 mit unverhältnismäßiger Gewalt vorgegangen zu sein. Alle drei haben dem Gericht zufolge Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt.

Dass ein Gericht nach einem gewaltsamen Polizeieinsatz ein solches Urteil ausspricht, komme nicht häufig vor, erklärte der Kriminologe Tobias Singelnstein im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. Singelnstein ist Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und leitet das Forschungsprojekt "Kviapol", kurz für "Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen", das Polizeigewalt aus der Opferperspektive untersucht.

Wann Polizeigewalt rechtmäßig ist – und wann nicht

Grundsätzlich dürfe die Polizei in bestimmten Situationen Gewalt einsetzen, sagte Singelnstein. Allerdings sei das das letzte Mittel, wenn alle anderen – insbesondere Kommunikation – scheiterten. Zudem müsse der Gewalteinsatz verhältnismäßig und angemessen sein.

Sei dies nicht der Fall, sei die Gewalt rechtswidrig – genau wie bei allen Bürgerinnen und Bürgern. Allerdings wiege ein Fall von Körperverletzung im Amt schwerer. "Der Gesetzgeber geht davon aus, dass es ein anderes Unrecht ist, wenn Amtsträger – wie bewaffnete Polizeibeamte in Uniform – so eine Tat begehen", erklärte Singelnstein.

Dunkelziffer könnte fünfmal höher sein

In Sachsen-Anhalt hat es laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamts im vergangenen Jahr 98 Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt gegeben. In ganz Deutschland sind demnach rund 2.000 Fälle registriert worden. Laut der "KviAPol"-Befragung ist die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher.

Singelnstein schätzt, dass es pro Fall in der Statistik vier bis fünf weitere gebe, die nicht angezeigt werden. Das liege daran, dass die Betroffenen oft annehmen würden, man würde ihnen nicht glauben, die verantwortlichen Polizeibeamten wären nicht identifizierbar oder die Polizei hätte in einem Verfahren einen Vorteil.

Mehr über die "Kviapol"-Studie

Im Rahmen des Forschungsprojekts "Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen", kurz "Kviapol", sind von November 2018 bis Januar 2019 knapp 5.700 Personen zu ihrer Erfahrung mit Polizeigewalt befragt worden. Fast 3.400 von ihnen berichteten, dass sie schon mindestens einmal körperliche Gewalt erfahren hatten. Der erste Zwischenbericht stellt die Ergebnisse im Detail dar.

In einem weiteren Teil der Forschung sind Expertinnen und Experten, darunter Polizeibeamte, Staatsanwälte und Opferberatungsstellen befragt worden. Im zweiten Zwischenbericht liegt der Fokus der Forschung auf Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Kontext von polizeilicher Gewalt.

Viele Verfahren bleiben ergebnislos

In Sachsen-Anhalt konnten der PKS zufolge im vergangenen Jahr in 76 der 98 angezeigten Fälle Tatverdächtige ermittelt werden, mehr als im bundesweiten Durchschnitt (65 Prozent). Wie das Justizministerium im Februar auf eine Kleine Anfrage des Grünen-Landtagsabgeordneten Sebastian Striegel mitteilte, sind 88 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

Allerdings kommt es laut Singelnstein häufig vor, dass Staatsanwaltschaften die Verfahren einstellen, weil die Beweislage schlecht ist. Oft stehe Aussage gegen Aussage. Komme ein Fall vor Gericht, gebe es im Vergleich zu anderen Straftaten deutlich weniger Verurteilungen.

Rechtswidrige Gewalt kommt oft bei Demonstrationen vor

Situationen, in denen es besonders oft zu unrechtmäßiger Gewalt durch die Polizei kommt, sind laut Singelnsteins Forschung Großveranstaltungen wie Demonstrationen, politische Aktionen und Profifußballspiele.

Dass es rund um politische Versammlungen immer wieder zu Polizeigewalt kommt, bestätigt Valentin Hacken, Sprecher des Bündnisses "Halle gegen Rechts", im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. "Es gibt Fälle, in denen die Anwendung von Gewalt durch Polizeikräfte rechtlich gerechtfertigt ist", sagte Hacken, "aber wir erleben auch relativ häufig, dass das nicht der Fall ist."

Fauststoß führt zu Disziplinarverfahren

Einen dieser Vorfälle hat Hacken am 20. Oktober 2021 beobachtet und auf Twitter dokumentiert. An diesem Abend habe eine Demonstration des Rechtsextremisten Sven Liebich stattgefunden, berichtete Hacken. Dagegen habe es Protest gegeben.

Die Polizei hat die Protestierenden demnach mit einer Mannschaftskette von Liebichs Versammlung getrennt. Als es zu einer Auseinandersetzung gekommen sei, habe ein Beamter mit der Faust auf Kopfhöhe auf eine Person in der Menge des Gegenprotest eingeschlagen. "Das ist ein Fall von Polizeigewalt", sagte Hacken. Der Schlag sei weder notwendig, noch verhältnismäßig gewesen.

Eine Aufarbeitung oder Äußerung der Polizei zu dem Vorfall sei Hacken nicht bekannt. Das Justizministerium erklärte in seiner Antwort auf die Anfrage zu Polizeigewalt, es sei ein Disziplinarverfahren gegen einen Beamten eingeleitet worden, der bei einer Versammlungslage in Halle an diesem Tag einen Fauststoß ausgeführt haben soll. Dem Innenministerium zufolge läuft das Verfahren noch.

Was Betroffene von Polizeigewalt tun können

Hacken rät, Fälle von Polizeigewalt nach Möglichkeit zu dokumentieren: mit Videos, Fotos oder auch schriftlich. Das Bündnis "Halle gegen Rechts" werte Demonstrationen im Nachgang immer wieder aus und versuche, die Vorfälle öffentlich zu machen. Zudem könnten Betroffene sich bei der Polizei beschweren. Das sei aber "von eher mittlerem Erfolg gekrönt", sagte Hacken. Wer überlege, rechtliche Schritte zu unternehmen, solle sich anwaltlich beraten lassen.

Es kommt immer darauf an, was die Betroffenen suchen und ob es realistisch ist, das in einer strafrechtlichen Aufarbeitung zu finden.

Tobias Singelnstein, Kriminologe

Auch der Kriminologe Tobias Singelnstein rät dazu, einen Anwalt oder eine Anwältin hinzuzuziehen. "Es kommt aber immer darauf an, was die Betroffenen suchen und ob es realistisch ist, das in einer strafrechtlichen Aufarbeitung zu finden", sagte Singelnstein weiter. Wer aufgrund von Gewalt desillusioniert von Polizei und Rechtsstaat sei, könnte eine zweite Ohnmachtserfahrung erleben, wenn der Vorfall nicht verurteilt oder gar nicht erst zur Anklage gebracht werde.

Ausbildung soll rechtswidriger Polizeigewalt vorbeugen

Um rechtswidriger Polizeigewalt präventiv zu begegnen, könnte in der Ausbildung der Beamtinnen und Beamten noch mehr Wert auf Deeskalation und Kommunikation gelegt werden, sagte Singelnstein. Diese Themen würden allerdings ohnehin schon eine erhebliche Rolle spielen.

Das bestätigte die Fachhochschule der Polizei Sachsen-Anhalt auf MDR-Anfrage. Zur Anwendung von Zwang, also auch Gewalt, gebe es sowohl im Grund- als auch im Aufbaukurs ein Modul mit insgesamt 52 Lehrveranstaltungsstunden sowie drei praktische Übungstage.

Hinzu kommen demnach Lerninhalte und Trainings zu Themen wie intuitivem Handeln in eskalierenden Gewaltsituationen, dem Umgang mit Stress und Emotionen in belastenden Situationen, Fehlerkultur oder Gruppenloyalität von Polizeibeamten bei Übergriffen. Komme es dennoch zu unrechtmäßiger Gewalt, gebe es neben möglichen disziplinarischen Konsequenzen Fortbildungen für die Beamtinnen und Beamten.

Singelnstein: Auch Gesellschaft und Politik sollten Polizeigewalt aufarbeiten

Der Fall der drei Polizisten, die das Amtsgericht Weißenfels aufgrund von Körperverletzung verurteilt hat, ist noch nicht abschließend geklärt. Da die drei Beamten dem Gericht zufolge Rechtsmittel eingelegt haben, wird das Landgericht Halle die Vorwürfe in zweiter Instanz verhandeln. Wann, sei noch unklar. Das Innenministerium machte aufgrund des laufenden Verfahrens keine Angaben zu dienstrechtlichen Konsequenzen.

Die Polizei wendet jeden Tag wahrscheinlich tausendfach Gewalt an. Natürlich kommt es dabei zu Fehlern, Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch.

Tobias Singelnstein, Kriminologe

Laut dem Kriminologen Singelnstein sollte Polizeigewalt nicht nur juristisch, sondern auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene aufgeklärt werden. Das könnten unabhängige Beschwerdestellen übernehmen. In Sachsen-Anhalt ist die Beschwerdestelle aktuell ans Innenministerium angegliedert. Ab 2023 will die Landesregierung einen Polizeibeauftragten einsetzen, angesiedelt beim Ministerpräsidenten. Andere Bundesländer seien da weiter, sagte Singelnstein.

Zudem sei wichtig, dass Polizei und Politik anerkennen, dass bei polizeilicher Arbeit Fehler geschehen können. "Alles andere wäre ja auch extrem verwunderlich: Die Polizei wendet jeden Tag wahrscheinlich tausendfach Gewalt an. Natürlich kommt es dabei zu Fehlern, Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch." Vollständig verhindern lasse sich das nie.

MDR (Maren Wilczek)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 19. Dezember 2022 | 12:00 Uhr

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