Kriminologe im Interview Warum Polizeigewalt oft kaum aufgearbeitet wird
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18. Dezember 2022, 15:31 Uhr
Tobias Singelnstein ist Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er leitet außerdem das Projekt "Kviapol", das das Dunkelfeld und die Opferperspektive auf Polizeigewalt untersucht. Im Interview erklärt Singelnstein, wann Gewalteinsätze durch die Polizei rechtswidrig sind – und wie Betroffene damit umgehen können.
MDR SACHSEN-ANHALT: Herr Singelnstein, wann ist Polizeigewalt rechtmäßig – und wann nicht?
Tobias Singelnstein: Die Polizei ist in bestimmten Situationen gesetzlich befugt, Gewalt einzusetzen. Es muss einen Zweck geben, also eine Maßnahme, die durchgesetzt werden soll. Ein Gewalteinsatz ist dafür das letzte Mittel, wenn alles andere – insbesondere Kommunikation – nicht mehr funktioniert. Nur dann darf Gewalt eingesetzt werden.
Diese Gewalt muss verhältnismäßig sein, also geeignet, um die polizeiliche Maßnahme zu erreichen. Sie muss erforderlich sein, das heißt, es darf kein milderes Mittel geben. Und sie muss angemessen sein. Das hört sich klar an, ist aber in der Praxis oft nicht ganz einfach zu entscheiden.
Was wäre ein Szenario, bei dem rechtmäßige und rechtswidrige Gewalt unterschieden werden muss?
Wenn zum Beispiel jemand in Gewahrsam genommen werden soll, sich aber weigert und alles Reden nicht hilft, dann dürfen Polizisten unter Umständen Gewalt einsetzen. Aber eben nur so viel, wie nötig ist, um die Person in Gewahrsam zu bringen. Jeder Schlag, der noch ausgeführt werden würde, nachdem die Person fixiert und unter Kontrolle ist, wäre zu viel. Er wäre rechtswidrig – wie bei Bürgerinnen und Bürgern, die rechtswidrige Gewalt gegen andere einsetzen.
Auf jeden Fall in der Statistik kommen schätzungsweise mindestens vier oder fünf weitere Verdachtsfälle.
Sie haben Betroffene zu ihren Erlebnissen mit Polizeigewalt befragt. Was haben Sie herausgefunden?
Wir müssen nach den vorliegenden Befunden davon ausgehen, dass die Dunkelziffer der Verdachtsfälle rechtswidriger Polizeigewalt ein Vielfaches dessen ist, was wir in den Kriminalstatistiken sehen. Auf jeden Fall in der Statistik kommen schätzungsweise mindestens vier oder fünf weitere Verdachtsfälle.
Der aktuelle Forschungsstand legt nahe, dass marginalisierte Gruppen besonders betroffen sind. In unserer Befragung wurden Großveranstaltungen wie Versammlungen, politische Aktionen oder Profifußballspiele besonders häufig als Situationen genannt, in denen die Befragten Gewalt erlebt haben. Daneben waren aber auch alle anderen polizeilichen Einsatzsituationen vertreten, zum Beispiel Personenkontrollen oder Wohnungsdurchsuchungen.
Leichtere Formen der Gewalt waren am häufigsten, also Schlagen, Treten, Schubsen, Pfefferspray. Schwerere Formen gab es deutlich seltener, Schusswaffeneinsatz kaum.
Mehr über die "Kviapol"-Studie
Im Rahmen des Forschungsprojekts "Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen", kurz "Kviapol", sind von November 2018 bis Januar 2019 knapp 5.700 Personen zu ihrer Erfahrung mit Polizeigewalt befragt worden. Fast 3.400 von ihnen berichteten, dass sie schon mindestens einmal körperliche Gewalt erfahren hatten. Der erste Zwischenbericht stellt die Ergebnisse im Detail dar.
In einem weiteren Teil der Forschung sind Expertinnen und Experten, darunter Polizeibeamte, Staatsanwälte und Opferberatungsstellen befragt worden. Im zweiten Zwischenbericht liegt der Fokus der Forschung auf Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Kontext von polizeilicher Gewalt.
Wie wird Polizeigewalt juristisch aufgearbeitet?
Zum einen gibt es das Disziplinarrecht, durch das Dienstpflichtverletzungen innerhalb der Behörde sanktioniert werden können. Zum anderen kann in einem Strafverfahren überprüft werden, ob strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, insbesondere eine Körperverletzung im Amt. Wir sehen aber in der Praxis, dass diese Aufarbeitung nicht so gut funktioniert, wie sie eigentlich sollte.
Warum ist Körperverletzung im Amt ein eigener Straftatbestand?
Das ist so, weil der Gesetzgeber davon ausgeht, dass es ein anderes Unrecht ist, wenn Amtsträger – wie bewaffnete Polizeibeamte in Uniform – so eine Tat begehen, als wenn das einfache Bürgerinnen und Bürger tun. Man fühlt sich ihnen gegenüber anders ausgeliefert.
Weshalb gelingt es so schlecht, Polizeigewalt aufzuarbeiten?
Die meisten Verdachtsfälle bleiben im Dunkelfeld, weil die Betroffenen keine Anzeige erstatten. Viele haben das Gefühl, sie hätten in einem solchen Verfahren keine Chance. Sie denken, sie könnten die Beamten im Nachhinein nicht identifizieren, man würde ihnen nicht glauben oder die Polizei hätte in einem Verfahren einen strukturellen Vorteil.
Wenn die Betroffenen Anzeige erstatten, bringt die Justiz nur sehr wenige Fälle zur Anklage. Ungefähr zwei Prozent der angezeigten Fälle landen vor Gericht. Der absolute Großteil wird eingestellt, in der Regel mangels hinreichenden Tatverdachts.
Viele haben das Gefühl, sie hätten in einem solchen Verfahren keine Chance. Sie denken, sie könnten die Beamten im Nachhinein nicht identifizieren, man würde ihnen nicht glauben oder die Polizei hätte in einem Verfahren einen strukturellen Vorteil.
Woran liegt das?
Oft ist die Beweislage schlecht, zum Beispiel, weil die Staatsanwaltschaften die Beschuldigten nicht identifizieren können. Oder es steht Aussage gegen Aussage: Auf der einen Seite die der Bürgerinnen und Bürger, auf der anderen die der Polizeibeamtinnen und -beamten. Manche Anzeigen sind auch unberechtigt.
Welche beruflichen Konsequenzen drohen Polizistinnen und Polizisten, die unrechtmäßige Gewalt ausüben?
Wenn es zu einer Verurteilung kommt, gibt es eine strikte Grenze: Bei einer Freiheitsstrafe ab einem Jahr endet das Beamtenverhältnis. Alles, was darunter liegt, wird im Disziplinarverfahren entschieden. Dort landen aber nur ausgewählte, häufig drastische Fälle. Das Disziplinarverfahren folgt dem Strafverfahren. Wenn es keine Verurteilung gibt, gibt es für gewöhnlich auch keine beruflichen Konsequenzen. Bei Vorwürfen der Körperverletzung im Amt kommt es aber nur äußerst selten zu einer Verurteilung, sehr viel seltener als im Durchschnitt aller Strafverfahren.
An wen kann man sich wenden, wenn man Polizeigewalt erlebt hat?
Wenn man ein Strafverfahren veranlassen will, würde ich dringend raten, sich von einem Anwalt oder einer Anwältin beraten zu lassen. Es kommt aber immer darauf an, was die Betroffenen suchen und ob es realistisch ist, das in einer strafrechtlichen Aufarbeitung zu finden.
Das haben wir in unserer Befragung gesehen: Die Betroffenen sind oft verzweifelt und desillusioniert, gerade wenn sie vorher ein positives Bild vom Rechtsstaat und von der Polizei hatten. Wenn es dann nicht zu einer Verurteilung oder nicht mal zur Anklage kommt, erleben sie oft eine zweite Ohnmachtserfahrung.
Wie könnte Polizeigewalt außerhalb von Gerichten besser aufgearbeitet werden?
Letztlich geht es nicht nur um individuelles Fehlverhalten, sondern auch um ein strukturelles Problem polizeilicher Tätigkeit. Dem könnten Stellen gerecht werden, die unabhängiger sind als die Instanzen, die im Augenblick für die Aufarbeitung zuständig sind. Interne oder ministerielle Beschwerdestellen sind nicht unabhängig, weil sie Teil der Verwaltungshierarchie sind. In einigen Bundesländern sind unabhängige Polizeibeauftragte beim Parlament angesiedelt. Die sind da schon weiter als Sachsen-Anhalt.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um das Vertrauen in die Polizei nach Vorfällen unrechtmäßiger Gewalt wiederherzustellen?
Ich halte es für wichtig, dass die Polizei ehrlich anerkennt und sich eingesteht, dass es ein Problem gibt und dass sie Fehler macht. Alles andere wäre ja auch extrem verwunderlich: Die Polizei wendet jeden Tag wahrscheinlich tausendfach Gewalt an. Natürlich kommt es dabei zu Fehlern, Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch. Das wird man aus einer Polizei, der wir die Befugnis geben, Gewalt anzuwenden, nie vollständig raus bekommen.
Nicht nur die Polizei, auch Politikerinnen und Politiker tun sich oft schwer damit, die Polizei kritisch in den Blick zu nehmen. Seit zwei, drei Jahren diskutiert unsere Gesellschaft intensiv, dass es in der Polizei Probleme gibt – nicht nur mit Gewalt, sondern zum Beispiel auch mit Rassismus. Wenn Polizei und Politik aber gleichzeitig so tun, als wäre nichts, führt das zu einer gewissen Unglaubwürdigkeit. Das halte ich für kontraproduktiv.
Die Fragen stellte Maren Wilczek.
MDR (Maren Wilczek)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 19. Dezember 2022 | 12:00 Uhr
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