Kaum ostdeutsche Führungskräfte Wie zwei Initiativen Ostdeutschen mehr Macht geben wollen
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19. März 2023, 11:00 Uhr
Ob in Unternehmen, öffentlicher Verwaltung oder Politik: Auch mehr als 30 Jahre nach der Wende sind Ostdeutsche in Führungspositionen häufig unterrepräsentiert. Das "Netzwerk 3. Generation Ost" und der Verein "Legatum" wollen daran etwas ändern und Ostdeutschen zu besseren Karrierechancen und mehr Sichtbarkeit verhelfen.
Dritte Generation Ost: Mehr Repräsentation für Ostdeutschland
"Wir haben noch sehr viel tun", sagt Kerstin Kinszorra und meint damit die Sichtbarkeit der sogenannten "Dritten Generation Ostdeutschland", also derjenigen, die in der DDR geboren wurden und beim Fall der Mauer Kinder oder Jugendliche waren. Kinszorra, geboren 1979 in Magdeburg, ist selbst eines dieser Wendekinder. Bis heute spiele ihre Herkunft eine Rolle, sagt sie: "Wenn ich im beruflichen Kontext auf Menschen treffe, dann wird oft gefragt: 'Wo kommst du her?' Und wenn ich sage, ich bin in Magdeburg geboren, dann heißt es oft: 'Uff, na gut.'"
Im Jahr 2016 lernte Kinszorra bei einer Diskussionsrunde Adriana Lettrari kennen, die einige Jahre zuvor das "Netzwerk 3. Generation Ost" mitgegründet hatte. Seitdem engagiert sie sich in der Gruppe, die derzeit aus rund 20 Köpfen besteht und sich auf die Fahnen geschrieben hat, Wendekinder zu vernetzen, zu stärken und sichtbar zu machen.
"Viele aus dem Netzwerk haben mit dem Fall der Mauer dasselbe erlebt. Unsere Eltern waren erstmal damit beschäftigt, die Existenz zu sichern. Vieles, das in den 1990ern schon möglich gewesen wäre, hat deshalb nicht stattgefunden", sagt Kinszorra und schiebt ein Beispiel hinterher: "Man sieht bis heute, dass in großen Stiftungen, die überwiegend im Westen angesiedelt sind, für ein Stipendium oft ein bis zwei Auslandsaufenthalte verlangt werden. Viele Menschen in meinem Alter hätten das gar nicht wahrnehmen können, weil unsere Eltern kein Bewusstsein hatten, wie wichtig so etwas sein könnte."
Entfremdung wegen zu vieler Westdeutscher an der Macht?
So wie damals die Stipendien, bleiben Ostdeutschen heute häufig Führungspositionen verwehrt. "Wer sind die Staatssekretäre, die Minister, die Amtsleiter?", fragt Kinszorra und gibt die Antwort gleich selbst: "Das sind sehr viele Menschen mit westdeutscher Herkunft!"
Das, sagt Kinszorra, sorge für eine Entfremdung zwischen Teilen der Gesellschaft und denjenigen, die für die Gestaltung unseres Lebens zuständig sind. "Wenn man das Gefühl hat, dass die Landesregierung oder die Politiker im Stadtrat nicht mehr in meinem Namen sprechen, und dass 'die da oben' sowieso keine Ahnung haben von meinem Leben, dann ist die Frage, ob wir uns das als Gesellschaft erlauben können", so Kinszorra, die als PR-Managerin für Intel in Magdeburg arbeitet und vorher lange Pressesprecherin der Stadt Magdeburg war.
Manchmal fehlt ein bisschen das Selbstbewusstsein zu sagen: 'Das traue ich mir zu.'
Sie wünscht sich daher, dass mehr ostdeutsche Menschen aus ihrer Generation Verantwortung übernehmen. "Das muss ja kein OB-Posten sein. Für mich persönlich wäre schon viel getan, wenn man sagt, man möchte gerne im Gemeinderat sitzen, sich im Sportverein engagieren, die Kinder- und Jugendfeuerwehr leiten. Das ist letztlich das Rückgrat unserer Gesellschaft. Manchmal fehlt da ein bisschen das Selbstbewusstsein zu sagen: 'Das traue ich mir zu.'"
Genau dieses Selbstbewusstsein wollen Kinszorra und das "Netzwerk 3. Generation Ost" den Wendekindern einimpfen. Sie mischen sich ein in öffentliche Debatten, beteiligen sich am wissenschaftlichen Diskurs und schaffen Orte und Räume, in denen sich Ostdeutsche vernetzen und bestärken können. Neben monatlichen Videokonferenzen gibt es auch regelmäßige Präsenztreffen in verschiedenen ostdeutschen Städten, unter anderem in Magdeburg.
Orte zum Vernetzen und Bestärken
"Wir wollen einen Ort schaffen, an dem Leute auf Gleichgesinnte treffen und an dem bestimmte Dinge keine Rolle spielen. Wo man nicht erklären muss, wie es im DDR-Kindergarten war oder dass die Jungs sehr militaristisch erzogen wurden, sondern wo man sich gegenseitig bestärkt", sagt Kinszorra.
Wir bringen mit unserer Transformationserfahrung und Resilienz Fähigkeiten mit, die helfen können, Herausforderungen wie Globalisierung und Digitalisierung besser zu bewältigen.
Ostdeutsche hätten gute Gründe dafür, selbstbewusst aufzutreten, findet die PR-Managerin: "Wir bringen mit unserer Transformationserfahrung und Resilienz Fähigkeiten mit, die helfen können, Herausforderungen wie Globalisierung und Digitalisierung besser zu bewältigen." Daraus, sagt Kinszorra, sollten Wendekinder Stärke ziehen.
Transparenzhinweis: Kerstin Kinszorra war bis 2014 als Journalistin für den MDR tätig.
Karrierenetzwerk Legatum: "Wir wollen, dass sich etwas ändert"
Als Jens Marchewski 1990 in Brandenburg geboren wurde, gab es noch zwei deutsche Staaten: im Westen die Bundesrepublik, im Osten die kurz vor dem Ende stehende DDR. Marchewskis Eltern waren in einem Arbeiter- und Bauernstaat aufgewachsen. "Ein Studium wurde damals nicht unbedingt gefördert", sagt Marchewski.
Die Folge: "Viele von uns Ostdeutschen wurden in Nicht-Akademikerkreisen groß. Unsere Eltern haben keine Netzwerke, können uns auch nicht beraten in Studiendingen. Manchmal bremsen sie uns sogar eher. Sie meinen das nicht böse, aber sie sagen eben: 'Mach doch erstmal was Solides, eine Ausbildung'". Das Erbe der DDR, sagt Marchewski, sei eine Ursache dafür, dass Ostdeutsche in Führungspositionen in der Wirtschaft und öffentlichen Verwaltung bis heute deutlich unterrepräsentiert sind.
"Neben uns sitzen nie besonders viele Ostdeutsche"
Um daran etwas zu ändern, hat Marchewski 2019 mit einigen Freunden, die er aus der brandenburgischen Heimat und vom Studium kannte, das Karrierenetzwerk Legatum gegründet. Ihr Ziel: Mehr Ostdeutsche in Führungspositionen – und ein Deutschland ohne strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West.
"Wir haben uns damit beschäftigt, wo wir herkommen und wie wir da hingekommen sind, wo wir sind. Und wir haben festgestellt, dass neben uns nie besonders viele Ostdeutsche sitzen", sagt Marchewski, der als Produktmanager für ein US-amerikanisches Unternehmen arbeitet und bald wieder in die USA ziehen wird, wo er auch Teile seiner Studienzeit verbracht hat.
Dass in Sachsen-Anhalts Ministerien und Landesbehörden weniger als 50 Prozent der Führungskräfte in Ostdeutschland geboren sind, überrasche ihn nicht, sagt Marchewski. "Im Vergleich mit der freien Wirtschaft ist diese Quote fast schon hoch." Denn in ostdeutschen Unternehmen komme gerade einmal jede vierte Führungskraft aus dem Osten. "Aus solchen Zahlen ziehe ich Motivation für das, was wir bei Legatum machen. Das muss sich ändern und wir wollen mit unserem Verein eine Rolle dabei spielen, dass sich etwas ändert."
Führungskräften aus dem Westen ist wahrscheinlich jemand näher, der aus NRW oder Bayern kommt, als jemand aus Cottbus oder Magdeburg.
Wenn es um die Auswahl neuer Führungskräfte gehe, sei die Qualifikation der potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten meistens annähernd gleich, sagt Marchewski. Deshalb entschieden oft weiche Faktoren – zum Nachteil von Ostdeutschen. Denn viele alteingesessene Chefinnen und Chefs kämen nun mal aus dem Westen: "Wenn lauter Hochqualifizierte vor denen sitzen, entscheiden die sich eher für denjenigen, der ihnen ähnlich ist. Und dann ist ihnen wahrscheinlich jemand näher, der aus NRW oder Bayern kommt, als jemand aus Cottbus oder Magdeburg", sagt Marchewski.
Mentoring-Programm für ostdeutsche Studierende
Um speziell ostdeutschen Studierenden rechtzeitig den Aufbau eines eigenen Karrierenetzwerkes zu ermöglichen, haben Marchewski und seine Mitstreitenden bei Legatum ein kostenfreies Mentoring-Programm auf die Beine gestellt. Studentinnen und Studenten bekommen dabei passend zu ihren Studiengängen und Karrierezielen Mentorinnen und Mentoren vermittelt, die als Führungskräfte bei Unternehmen oder in der öffentlichen Verwaltung tätig sind und ihr Wissen und Netzwerk mit den Mentees teilen. Derzeit nehmen an dem Programm rund 170 ostdeutsche Studierende und etwa 140 Mentorinnen und Mentoren teil.
Außerdem veranstalten sie regelmäßige Fragerunden mit Führungskräften aus verschiedenen Branchen sowie einmal jährlich das N5-Symposium, eine Konferenz für Studierende aus dem Osten mit Gästen aus Wirtschaft und Politik, zum Netzwerken und Wissensaustausch. Im vergangenen Jahr fand das Symposium in Magdeburg statt, in diesem Jahr soll es im Herbst in Erfurt über die Bühne gehen.
"Ich hoffe, wir können dadurch helfen, dass mehr junge Menschen aus dem Osten die richtigen Karriereschritte machen, um irgendwann für Führungspositionen infrage zu kommen", sagt Marchewski. Stellen in Wirtschaft, Verwaltung und Gerichten müssten zu fairen Anteilen mit Menschen aus Ostdeutschland besetzt sein. "Diese Repräsentation", sagt Marchewski, "ist super wichtig."
MDR (Lucas Riemer, Lars Frohmüller)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 19. März 2023 | 19:00 Uhr
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