Protest für die Zukunft Zwischen Gefängnis und Grundsicherung: So lebt eine Aktivistin der "Letzten Generation"
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27. September 2023, 08:18 Uhr
Lina Schinköthe ist Klimaaktivistin aus Magdeburg. Sie wird wahrscheinlich ins Gefängnis gehen, weil sie am Berliner Flughafen geklebt hat. Für sie ist das ein notwendiges Opfer für ein höheres Ziel.
- Lina Schinköthe gehört zu den "Wildbienen" bei den Klimaaktivisten der "Letzten Generation".
- Etwaige Haftstrafen für Protestaktionen nimmt die Aktivistin in Kauf.
- Die "Letzten Generation" sieht sich an einen sozialen Kipppunkt kommen – ähnlich wie im Wendeherbst 1989.
Lina Schinköthe ist eine sogenannte "Wildbiene" bei den Klimaaktivisten der "Letzten Generation". So bezeichnen sich Menschen in der Gruppierung, die es wegen der großen Klima-Notlage als notwendig betrachten, Proteste durchzuführen, die mit höheren persönlichen Konsequenzen verbunden sind. "Ich bekomme immer wieder von ganz vielen verschiedenen Seiten gesagt: Denk doch mal an deine Zukunft", erklärt Lina Schinköthe.
Auf der einen Seite kann sie verstehen, was die Menschen ihr raten – auf der anderen Seite kann sie aber nicht anders, als weiterzumachen mit dem Protest: "Das ist das an meine Zukunft denken – deswegen leiste ich diesen Protest – auch wenn er diese Konsequenzen für mich hat." Mit dem Protest will sie mit der "Letzten Generation" eine konkrete Frage stellen: "Wollen wir überleben – ja oder nein?"
Lina Schinköthe sieht in der Gesellschaft eine Einigkeit in der Antwort auf diese Frage und deswegen geht sie in den Protest. "Es geht darum, Lebensgrundlagen zu schützen", sagt Lina Schinköthe deprimiert von der aktuellen Situation. Sie sieht sich nicht als Aktivistin, sondern als Person, die Widerstand leistet.
Forderungen der "Letzten Generation":
- Tempolimit von 100km/h
- Ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket
- Ein Gesellschaftsrat soll für Maßnahmen zum Ende der fossilen Rohstoffe einberufen werden
Umfrage Tempolimit Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der BILD-Zeitung befürworten 57 Prozent der Befragten ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf deutschen Autobahnen. Nur rund ein Drittel (36 Prozent) ist dagegen. 57,2 Prozent der Autobahnabschnitte haben demnach kein Tempolimit. Auf 30 Prozent ist die Geschwindigkeit begrenzt, auf 12,8 Prozent der Strecken gilt eine Geschwindigkeitsbegrenzung wegen Baustellen.
Unterstützung der Familie
Die 21-jährige Magdeburgerin sieht sich in einer glücklichen Position: Ihre gesamte Familie unterstützt sie bei ihrem Protest. Ihre Mutter und auch ihre Schwester engagieren sich ebenfalls in der "Letzten Generation". Es ist ein Leben einer Familie ganz im Zeichen des Protests – und der ist ihnen wichtig. "Ich schaffe das nur, indem ich daran denke, dass ich einen 10-jährigen Bruder habe, der mich in zehn bis 20 Jahren fragen wird, was hast du damals gemacht?", erklärt Lina Schinköthe mit lauter werdender Stimme.
Es geht ihr laut eigenen Aussagen nicht darum, zu zählen, wie viele Blockaden sie gemacht hat oder wie oft sie im Gefängnis war – Lina führt keine Strichliste. "Was zählt, ist, dass wir uns jetzt zusammentun als Menschheit, um gemeinsam unsere Politik und verantwortliche Regierungen dahingehend zu bewegen, dass sie jetzt das machen, was notwendig ist", sagt sie mit einem durchdringenden Blick und selbstbewusster Stimme – sie ist sich sicher, sie tut das Richtige.
Ich war schon öfter eine Nacht in Gewahrsam – das Längste waren 16 Tage über Weihnachten und Silvester.
Jedes Mal aufs Neue Angst vor Protest
Doch der Protest muss aus Sicht von Lina Schinköthe weitergehen – auch wenn es ab und zu zu Übergriffen auf die Protestierenden kommt. Es koste jedes Mal aufs Neue eine "unheimliche Überwindung", erzählt sie. Sie wirkt gefasst, sieht sich mit ihren Aktionen als eine Art Opfer für ein höheres Ziel.
Damit auf der Straße alles glatt läuft, gibt es bei der "Letzten Generation" extra Trainings, die die Protestierenden darauf vorbereiten, ruhig zu bleiben, auch wenn es zu Beleidigungen oder Tätlichkeiten kommt. "Ich habe nach wie vor unheimliche Angst, bevor ich in den Protest gehe – mir ist dann schlecht, ich kann nichts essen, ich schlafe schlecht", erklärt sie. Aus Schinköthes Sicht geht es aber am Ende um unser aller Überleben – "und das stärkt mich dann", meint sie.
Kritik der Parteien an der "Letzten Generation"
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hält Gefängnisstrafen für bestimmte Protestformen von Klimaschutz-Gruppen für möglich. Mit Straßenblockaden oder der Beschädigung von Sachwerten leisteten "Klima-Blockierer" nicht nur "dem Klimaschutz einen Bärendienst, sondern begehen auch Straftaten", sagte der FDP-Politiker der "Bild". Auch der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, fordert härtere Strafen.
Auch von den Grünen gab es bereits Kritik. Grünen-Politikerin Renate Künast sagte, dass die Form des Protests in eine "Sackgasse" führe, wenn es nur noch um die Frage gehe, ob das ein legitimer Protest sei. Dasselbe gelte auch bei den Protesten in Museen, wo sich Angehörige der "Letzten Generation" an Kunstwerke klebten oder diese verschmutzten.
Die Hauptorganisatorin von Fridays for Future in Deutschland, Luisa Neubauer, äußerte zudem ihr Bedauern über das verspätete Eintreffen eines Rettungsfahrzeugs in Berlin, der wegen einer Blockade nicht rechtzeitig am Einsatzort sein konnte.
Haftstrafen werden in Kauf genommen
Festkleben auf der Straße – nicht das Einzige, was für die "Wildbiene" ein Nachspiel haben könnte. Sie war mit dabei, als sich Klimaschützer der "Letzten Generation" auf dem Berliner Flughafen aufs Rollfeld geklebt hatten. Gefährlicher Eingriff in den Luftverkehr lautet der Vorwurf – das kann zwischen sechs Monaten und zehn Jahren Haft bedeuten. "Natürlich macht mir das unfassbare Angst", meint die 21-Jährige. Sie geht kurz in sich, überlegt: Allerdings sei es aus ihrer Sicht so, dass Veränderungen im Klimaschutz blockiert würden.
Darin sieht sie die Notwendigkeit für ihren Protest: "Es ist nicht so, dass da einfach ein paar Ziele nicht erreicht werden – sondern das Menschenleben geopfert werden für die Profite Einzelner und das da einfach so viel hinter steckt, in so einem Ausmaß, das ich gar nicht weiß, was ich als Anfang 20 anderes machen sollte als das, was ich tue – ungeachtet dieser persönlichen Konsequenzen, die ich habe. Ja die sind unangenehm, ja die sind scheiße für mich – auf jeden Fall!"
Klimaprotest mit weitreichenden finanziellen Folgen
Auch neben möglichen Haftstrafen kann der Protest andere weitreichende Folgen für einige Klimaaktivisten haben. Wenn sie Geldstrafen nicht mehr bezahlen können, kommt irgendwann die Privatinsolvenz. Geraten Menschen in eine Privatinsolvenz, sieht die aktuelle Rechtslage vor, dass sie maximal 1.300 Euro auf dem Konto haben dürfen. Bereits im Vorfeld werden dann alle Eigentumsgegenstände gepfändet. Hat eine Person mehr als 1.300 Euro, eine Art Grundsicherung zum Leben in der Privatinsolvenz, wird dies direkt eingezogen und damit offene Schulden getilgt.
Auch das betrifft einige Mitglieder der "Letzten Generation", die ihre Strafen nicht immer bezahlen können – so auch Lina Schinköthe. Auch ihr werden in den nächsten 30 Jahren nicht mehr als 1.300 Euro pro Monat auf dem Konto bleiben. "Das ist jetzt für die nächsten 30 Jahre meine Lebensrealität. Das ist eine sehr lange Zeit – ich mein, das ist länger als ich überhaupt alt bin."
Das ist jetzt für die nächsten 30 Jahre meine Lebensrealität. Das ist eine sehr lange Zeit – ich mein, das ist länger als ich überhaupt alt bin.
Können nicht alle ausstehenden Strafen beglichen werden, geht es in eine sogenannte Ersatzhaft: Betroffene müssen für einen festgelegten Tagessatz ins Gefängnis und wenn der Betrag durch Tagessätze gedeckt wurde, dürfen sie wieder auf freien Fuß. Eine letzte Möglichkeit für die zumeist auf Grundsicherungsniveau agierenden "Wildbienen", das zu umgehen, sind Spenden.
Verantwortung durch gesunde Protestkultur
Auch wenn der Protest an sich und die daraus resultierenden Folgen für Lina Schinköthe nicht angenehm sind, in Deutschland sieht sie grundsätzlich eine gute Ausgangslage dafür. Es sei ein Rechtsstaat mit einer Demokratie, der aus ihrer Sicht glücklicherweise einigermaßen funktioniert. Kritik aus der Gesellschaft an der Art des Protests lässt sie nicht an sich heran.
In Deutschland habe man eine Sicherheit, die Aktivisten in anderen Ländern nicht hätten. "Menschen, die politisch aktiv sind, werden in anderen Ländern verfolgt und ermordet – ihre ganzen Familien werden bedroht", erklärt Lina Schinköthe mit Wut in der Stimme. "Deswegen denke ich, dass eine sehr, sehr große Verantwortung bei den Menschen hier in Deutschland liegt", ergänzt sie selbstbewusst.
Protest muss spürbar sein
Lina Schinköthe ist klar, dass es nicht jedem gefällt, was die "Letzte Generation" macht – aber der Protest funktioniert aus ihrer Sicht. "Es ist kein Beliebtheitswettbewerb – sondern es geht darum, dass wir jetzt diese Veränderungen brauchen."
Das Mittel des friedlichen zivilen Widerstands ist aus ihrer Sicht schon immer das Mittel der Wahl, wenn alle anderen versagt haben. "Wir haben Petitionen geschrieben, es gab bunte Kunstprojekte, es gab Informationsveranstaltungen und riesige Demonstrationen", rechtfertigt sie diese spezielle Art des Protests. Sorge, dass die Gesellschaft verprellt wird, hat sie nicht.
Die Regierung habe ein verfassungswidriges Klimaschutzgesetz vorgelegt. Und deswegen gibt es jetzt einen "friedlichen Widerstand, der stören muss", meint die 21-Jährige. Denn Lina Schinköthe sieht in einigen Jahren eine andere Situation auf der Welt – sie wird wieder lauter beim Erzählen. Todeszonen um den Äquator würden dann beispielsweise Menschen dazu zwingen, ihre Heimat aufzugeben. Es werde so viele Krisen geben, dass die Menschheit dann von einer in die nächste komme.
Vergleich zum Mauerfall: Wendepunkt im Herbst?
Lina Schinköthe sieht aus ihrer Sicht einer spannenden Zeit entgegen – sie zeigt sich aufgeregt, wackelt mit den Füßen: "Wir sehen, dass wir uns gerade an einem Punkt befinden, wo wir der festen Überzeugung sind, dass wenn wir uns alle zusammentun in diesem Herbst – wir die Möglichkeit haben, einen Wendepunkt anzustoßen", erklärt sie.
Zum Vergleich schaut sie in die Geschichte von Bewegungen. Es hätte oft Punkte gegeben, an denen ein exponentielles Wachstum aufgetreten sei und es dann schnell ging. "Zum Beispiel auch beim Mauerfall", meint Schinköthe und macht einen großen Vergleich nur im Nebensatz auf – ohne emotional darauf einzugehen.
Sie erklärt, dass zwischen den ersten Montagsdemonstrationen in Leipzig und dem Mauerfall zwei Monate gelegen hätten. Sie greift auf, dass die "Letzte Generation" immer näher an einen sozialen Kipppunkt rankommt, "wo auch solche Sachen möglich werden, die sich vielleicht jetzt noch sehr weit weg anfühlen." Das sei das, worauf die "Letzte Generation" hinarbeite. Lina Schinköthe sieht es als realistisch an, auch wenn ein Teil der Menschen von dem Protest, speziell der Protestform, genervt ist.
Proteste werden fortgesetzt
"Man kann den Widerstand nicht auf Dauer führen", meint Lina Schinköthe. Damit spielt sie nicht auf eine mögliche längere Gefängnisstrafe an: "Weil es einfach unheimlich anstrengend und intensiv ist. Das ist für mich kein Aktivismus oder Hobby, was ich irgendwie mal nebenbei mache – das berührt einfach alle Ebenen in meinem Leben", erklärt sie – bei höher werdender Stimme.
Und doch, so versichert die Aktivistin: Die "Letzte Generation" werde alles tun, was in einem "friedlichen Rahmen möglich ist" und weitermachen – weil sie der festen Überzeugung seien, dass es das Richtige ist.
MDR (Kevin Poweska, Moritz Arand)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 24. September 2023 | 22:00 Uhr
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