Fotografin dokumentiert Abschluss ohne Regelschule: So leben Kinder in einer Betreuungseinrichtung in Sachsen-Anhalt
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12. Mai 2024, 15:20 Uhr
Seit vier Jahren fährt eine Berliner Fotografin einmal im Monat nach Sachsen-Anhalt. Mayra Wallraffs Fotos dokumentieren das Leben in einer lernpsychotherapeutischen Einrichtung im Norden Sachsen-Anhalts. Zu vielen Kindern hat sie ein vertrautes Verhältnis aufgebaut. Viele von ihnen, sagt Wallraff, wollen vor allem besser verstanden werden.
- Seit 2020 dokumentiert die Berliner Fotografin Mayra Wallraff Kinder in einer Betreuungseinrichtung in Sachsen-Anhalt.
- In der Einrichtung soll ihnen ein Hauptschulabschluss außerhalb einer Regelschule ermöglicht werden.
- Wallraff hat zu vielen Kindern ein vertrautes Verhältnis aufgebaut, sie erzählen ihr von ihren Ängsten und Träumen.
Einmal im Monat packt die Berliner Bühnenfotografin Mayra Wallraff ihr Kameraequipment und den Hund Shlomo in ihr Auto und fährt nach Sachsen-Anhalt. Ganz weit draußen im Norden Sachsen-Anhalts gibt es hier eine lernpsychotherapeutische Einrichtung, in der 21 Kinder unterkommen können.
Für die jungen Menschen, die dort meist für einige Jahre leben, war der Alltag an Regelschulen mit zu viel Stress und Druck verbunden. In der Einrichtung sollen sie die Chance bekommen, einen Hauptschulabschluss zu machen. Seit 2020 dokumentiert die 39-jährige Wallraff das Leben der Kinder vor Ort. Im Interview mit MDR SACHSEN-ANHALT schildert Wallraff ihre Eindrücke.
MDR SACHSEN-ANHALT: Warum sind die Kinder in der Einrichtung?
Mayra Wallraff, Fotografin: Die Probleme sind oft sehr vielseitig und komplex. Bevor die Kinder in die Einrichtung kamen, waren sie in einer Regelschule. In einigen Fällen hat sich diese irgendwann an die Eltern gewandt, weil es Probleme gab. Viele Eltern sagen dann: Bei uns ist das auch so. Und dann gehen die Kinder aus der Regelschule und aus ihrem Elternhaus in diese Art Einrichtung. In anderen Fällen bemühen sich die Eltern bereits viele Jahre davor mit Therapien, Maßnahmen und Unterstützung, bevor die Kinder in die Einrichtung kommen.
Manche der Kinder können aktuell noch nicht die nötige Aufmerksamkeitsspanne aufbringen, die eine Regelschule voraussetzt. Manche können ihre Impulse nicht so gut kontrollieren und sind dann eventuell aggressiv gegen sich selbst oder ihr Umfeld. In der Regelschule fallen sie damit durchs Raster, in der Einrichtung nicht.
Und wie sieht dann das Leben der Kinder dort aus?
Es gibt 21 stationäre Plätze, der Großteil davon für Jungen. Aktuell wohnen dort circa drei oder vier Mädchen und acht bis zehn Jungs.
Die Idee ist, dass die Kinder am Wochenende nach Hause fahren. Durch die Betreuung unter der Woche soll das Zuhause gestärkt und aufrecht erhalten werden. Es wird aber auch am Wochenende und in den Ferien Betreuung angeboten für die Familien, die am Wochenende keine Kapazitäten haben.
Bekommen die Kinder dann trotzdem Unterricht?
Die Kinder werden trotzdem beschult, aber anders als in der Regelschule. Sie brauchen ein besonders sensibles Umfeld, mit viel Verständnis, Freiräumen, Zeit, weniger Druck. Sie werden dort weniger in ein System gepresst als in einer Regelschule. Im Schulgebäude vor Ort gibt es drei Klassenzimmer, in denen die Kinder an ihre Bedürfnisse angepasst unterrichtet werden.
Wie passt Ihr regelmäßiger Besuch in den Alltag der Kinder?
Ich komme meist am Nachmittag. Die Nachmittage der Kinder sehen ganz unterschiedlich aus. An einem Tag wird zum Beispiel Taschengeld verteilt und dann fahren alle zu einem Supermarkt. Dort können die Kinder sich etwas zu Naschen kaufen oder kleine Geschenke für ihre Geschwister oder Eltern zu Hause. An einem Tag wird das Haus geputzt, an anderen Tagen haben die Kinder therapeutische Angebote wie zum Beispiel Logopädie.
Meist komme ich an Tagen dazu, die die Kinder in der Einrichtung verbringen. Dann frage ich, wer Lust hat, Fotos zu machen, und wir gehen zusammen spazieren. Abends essen wir zusammen und spielen Spiele.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Kinder in der Einrichtung zu fotografieren?
Seit 2020 belege ich Seminar an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin. Im ersten Seminar 2020 habe ich nach einem Thema für mein Seminarprojekt gesucht. Das Thema Betreuung war mir auch privat nah: Nach meinem Auszug mit 16 Jahren hat meine Mutter Pflegekinder zu Hause aufgenommen. Zu beobachten, wie meine Mutter quasi eine öffentliche Mutter wurde, war zugleich spannend und befremdlich. Besonders, weil meine eigene Kindheit nicht ganz leicht war. Insofern habe ich mich den Kids auch immer verbunden gefühlt.
Zu der konkreten Einrichtung in Sachsen-Anhalt bin ich eher zufällig gekommen. Ich habe über 20 Einrichtungen angeschrieben, aber nie eine Antwort bekommen. Dann ist über eine Person aus dem Seminar ein privater Kontakt zu einer Einrichtung desselben Trägers in Berlin entstanden. Der Leiter war direkt sehr offen und hat gesagt: Alleine, wenn du vorbeikommst, als eine Person, die mit beiden Beinen im Leben steht und Kunst macht, bringt das den Kindern was. Bei der Berliner Einrichtung haben die Kinder allerdings anders als in Sachsen-Anhalt nicht mit im Objekt gewohnt. Die Einrichtung in Sachsen-Anhalt konnte viel mehr Nähe, Intimität und direkten Zugang zu den Kindern bieten. Das fand ich fotografisch spannender, deswegen bin ich zu der Einrichtung in Sachsen-Anhalt gewechselt.
Was macht es mit Ihnen, wenn Sie bei den Kindern sind?
Wenn ich von den Kindern komme, fühle ich mich immer sehr ausbalanciert. So groß der Aufwand auch ist – ich muss lange Auto fahren und bin immer mehrere Stunden da – es fühlt sich immer auch wie ein Durchatmen an. Für mich ist das auch ein bisschen Selbstermächtigung. Es schließt die Lücke zwischen dort, wo ich bin und dort, wo ich herkomme. Ich habe mehr Frieden gefunden mit diesem inneren Konflikt, warum sich meine Mutter anderen Kindern widmet, die ihr eigentlich viel ferner sind als ich.
Ich lerne so viel von den Kids. Zum Beispiel war für mich von Anfang an wahnsinnig beeindruckend, wie authentisch sie vor der Kamera sind. Dass eine Kamera da war, hat für sie nie eine Rolle gespielt. Das habe ich immer als Stärke wahrgenommen. Ich finde es toll, wie authentisch sie sind – und ich wünsche mir ein System, in dem sie das auch sein dürfen.
Wie ist die Beziehung zwischen den Kindern und Ihnen?
Über die Zeit habe ich zu vielen Kindern eine sehr vertraute Beziehung aufgebaut. Am Anfang war da sehr viel Konkurrenz zwischen den Kids um die Frage, wer zuerst mit mir Fotos machen darf. Das wurde besser, als sie mit der Zeit gesehen haben, dass ich regelmäßig wiederkomme.
Die Kinder freuen sich auf mich, freuen sich über die Aufmerksamkeit, die ich ihnen mitbringe. Wenn wir zu zweit spazieren gehen, geben sie mir immer einen kleinen Ausschnitt aus ihren Gedanken mit. Ich glaube, mir können sie auch unrealistische Sachen erzählen: was ihre Träume sind, wie viel Geld sie mal haben wollen, was ihre Berufsziele sind. Es rührt mich sehr und macht mich demütig, wie viel Vertrauen sie mir entgegenbringen.
Was ist es denn, wovon die Kinder träumen?
Das ist natürlich ganz unterschiedlich und verändert sich auch mit der Zeit. Ein Kind hat mir von seinem Traum erzählt, sehr viel Geld zu verdienen, so dass er sich Sneaker für 8.000 Euro kaufen kann. Dann gab es ein anderes Kind, dessen Traum war es, professioneller Computerspieler zu werden. Auch, weil man dafür keine Ausbildung braucht. Er hat mir erzählt, dass man einfach üben muss und wie viel er trainiert. Ein anderes Kind will Tierpfleger werden. Weil er da Gutes tun kann und die Tiere nicht mit ihm diskutieren, sondern ihm Wärme zurückgeben.
Von den Mädchen habe ich weniger konkrete Berufswünsche gehört, sondern eher offene Fragen: Sie wünschen sich, dass sie besser verstanden werden. Sie haben das Gefühl, dass sie zu sensibel sind für diese Welt, wünschen sich ganz viel Harmonie, Liebe und Wärme und Austausch und weniger Druck und weniger Härte.
Aber das war auch alles vor der Pubertät. Mit der Pubertät stellt sich oft langsam so eine Haltung ein, dass in der Welt eh nichts funktioniert – vielleicht einfach der Verlust der Kindheit. Da habe ich manchmal das Gefühl, das Träumen wird ein bisschen aufgegeben und stattdessen kommt eine Abwehrhaltung.
Wie nehmen Sie die Stimmung in der Einrichtung wahr?
Die Kinder sind untereinander sehr vertraut, aber auch sehr rüde. Viele haben mega viel Energie, die irgendwie raus muss. Am Anfang hat es mich irritiert, wenn die Kids bestimmte Dinge gesagt haben, mittlerweile versuche ich dann immer, einen lockeren Spruch zu machen. Ich will unsere Verbindung nicht zerstören – aber mir ist wichtig, zu sagen, dass ich das höre, dass ich anwesend bin und gegen verletzende Worte.
Mit mir gehen sie zum Glück ganz anders um. Da sind alle überaus höflich und respektvoll, fast wie frühere Generationen: "Guten Tag, Frau Wallraff!".
Sind junge Menschen heute gewalttätiger als früher?
Immer wieder sorgen Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen medial für Aufruhr. Im Schnitt sind Kinder und Jugendliche heute allerdings deutlich seltener gewalttätig als noch vor 20 Jahren, wie Statistiken zeigen.
Welche Zukunftsaussichten haben die Kinder, wenn sie die Einrichtung verlassen?
Eine Statistik dazu kenne ich nicht. Gefühlt würde ich aber sagen, dass die Einrichtung die Zukunftsaussichten der Kinder wesentlich verbessert – einfach, weil sie ihnen eine Zeitspanne mitgibt, in der sie weniger Druck und mehr Zuneigung erfahren.
Im Allgemeinen ist angedacht, dass die Kinder zwei Jahre in der Einrichtung bleiben. Viele Kinder sind aber deutlich länger da, bis zu fünf Jahre. In der Zeit wird versucht, den Kindern einen Hauptschulabschluss zu ermöglichen, so dass sie später eine Ausbildung machen können. Das gilt aber auch nur, bis sie 18 Jahre alt sind. Wer die Einrichtung verlässt, ist in den meisten Fällen also entweder 18 oder hat einen Hauptschulabschluss in der Tasche. Ich habe aber auch schon erlebt, dass Kinder nicht in der Einrichtung bleiben konnten, weil sie sich zu aggressiv verhalten haben. Einige der Jugendlichen gehen nach der Einrichtung in ein betreutes Wohnen.
Halten Sie mit den Jugendlichen Kontakt, die die Einrichtung verlassen?
Bisher ist das noch nicht passiert, ich wünsche es mir aber. Aktuell versuche ich zum ersten Mal, Kontakt zu einem Mädchen zu halten, das wieder zurück in sein Elternhaus gezogen ist. Ich möchte auch gern mit einem Jungen Kontakt aufnehmen, der 2022 nicht in der Einrichtung bleiben konnte wegen zu auffälligem Verhalten.
Ich habe mich das bisher nicht getraut, weil mir bewusst ist, dass ich viel mehr Verantwortung habe, wenn die Jugendlichen nicht von professioneller Hand betreut werden. In Zukunft möchte ich das aber ändern.
Wie soll es mit der Serie in den nächsten Jahren weitergehen?
Ich würde die Serie gern noch sehr viele Jahre fortsetzen. Ich glaube, es wird nur noch wertvoller, je länger ich die Kinder begleite. Weil die Beziehung zwischen mir und den Kindern enger wird, weil die Kinder persönlich wachsen, innerlich und äußerlich. Vielleicht werden die Zeitabstände zwischen den Treffen mit den Jahren größer, aber ich hoffe und wünsche mir, dass der Kontakt nie ganz abbricht.
Die Fragen stellte Alisa Sonntag.
MDR (Alisa Sonntag)