Grenzdenkmal Hötensleben Wenn in einem Ort in Sachsen-Anhalt noch DDR-Grenzanlagen stehen

27. Mai 2020, 11:07 Uhr

Hötensleben im Landkreis Börde ist ein besonderer Ort, denn hier steht das einzige erhaltene Stück DDR-Grenzanlage. Am 26. Mai 1952 wurde mit dem Bau begonnen. Hötensleben erinnert jedes Jahr an dem Tag an die Geschichte der Grenze. MDR SACHSEN-ANHALT hat mit Anwohnern gesprochen.

Julia Heundorf
Bildrechte: MDR/Kevin Poweska

Eine graue Mauer mit Stacheldraht, direkt vor dem Fenster. Dahinter in wenigen Metern Abstand ein rostiger, engmaschiger Zaun. Eine grüne Wiese und wieder eine Mauer. Hans-Joachim Ziemer und Carmen Buße wohnen in Hötensleben direkt an der ehemaligen Grenzanlage, dem sogenannten Todesstreifen.

In der Gemeinde im Landkreis Börde wurden nach der Wiedervereinigung Mauer und Wachturm unter Denkmalschutz gestellt. Ein beeindruckendes Bauwerk vor allem für junge Menschen: Schulklassen aus ganz Deutschland kommen in die Börde, um zu sehen, wie die DDR-Grenze ausgesehen hat.

Aber was sagen Hans-Joachim Ziemer und Carmen Buße? Und was René Müller vom Verein, der die Anlage pflegt? MDR SACHSEN-ANHALT hat sie kurz vor dem Jahrestag des Mauerbaus in Hötensleben getroffen.

Idee des Grenzdenkmals war bei Anwohnern unbeliebt

Dass das Denkmal in Hötensleben erhalten geblieben ist, ist keine Selbstverständlichkeit. René Müller engagiert sich beim Grenzdenkmalverein für die Anlage und erklärt: "Wir hatten zu Beginn große Probleme mit dem Grenzdenkmal." Die Anwohner direkt an der Grenze wollten die Mauern nicht erhalten.

Das ist verständlich, aber wenn ich jetzt überlege, dass wir das einzige authentisch erhaltene Stück Grenze in ganz Deutschland noch sind – nicht mal Berlin hat es geschafft, etwas authentisch zu erhalten – können wir schon ein bisschen stolz sein.

René Müller Grenzdenkmalverein Hötensleben

Über René Müller und den Grenzdenkmalverein

René Müller hat eine Ausbildung zum Elektronikfacharbeiter gemacht. Nach der Wiedervereinigung hat er das Abitur nachgeholt und zweimal studiert: Elektrotechnik und Technische Informatik. Er arbeitet im Stahlwerk Salzgitter und engagiert sich in Hötensleben im Gemeinderat und im Grenzdenkmalverein. Er wohnt nicht direkt am Denkmal, sondern ein paar Straßen davon entfernt.

Der Grenzdenkmalverein organisiert unter anderem Bildungsangebote für Schulklassen und Gedenkfeiern. Interessierte können beim Grenzdenkmalverein individuelle Führungen anfragen. "Wir kommen auch für zwei Leute raus", sagt Müller. Um eine Spende wird gebeten.

Zaun an Zaun mit der ehemaligen Grenzanlage

Hans-Joachim Ziemer ist 70 Jahre alt und war früher Grenzpolizist im Ort, der "Sheriff", wie er es nennt. Er führte am Montag seinen Hund entlang der ehemaligen Grenze spazieren. Sein Haus steht direkt am Grenzdenkmal:

Ich sag mal, dieses Ost und West wird dadurch immer noch geschürt. Das ist immer noch schlimm, da ist irgendwo dieser böse Unterschied immer noch. Dass es doch noch Leute gibt, die sich da noch ein bisschen eingeschränkt fühlen. Aber ansonsten – ja. Es wohnt sich schön.

Hans-Joachim Ziemer

Er scherzt: "Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich auf einer Seite einen Zaun habe, ich brauch keinen Zaun bauen." Ernsthaft sagt er, es sei wichtig für die nachfolgende Jugend, er glaube aber, dass das große Interesse nicht mehr da sei, zumindest nicht bei der Jugend.

Über Hans-Joachim Ziemer

Hans-Joachim Ziemer war Soldat in Hötensleben. Er arbeitete zunächst in Magdeburg bei der Berufsfeuerwehr, lebte in Buckau. Er studierte zwei Jahre, um einen Job bei der Ortspolizei in Hötensleben anzunehmen. Im Ort lernte er seine Frau kennen. Seit 1973 wohnt er direkt an der Grenze. Von 1983 bis 1990 war er Abschnittsbevollmächtigter und verantwortlich für die Sicherheit im Ort. Nach der Wende verließ er die Polizei und arbeitete unter anderem als LKW-Fahrer in einer Firma in Niedersachsen.

"Sichtblendmauer" gegen Adventsgesänge

René Müller erzählt Geschichten von den Menschen, die im Westen in Schöningen lebten und an der Grenze zum Beispiel Adventslieder sangen. Es hatte in Niedersachsen sogar eine kleine Aussichtsplattform gegeben, an die heute noch eine Tafel der Gedenkstätte erinnert, die aber nicht mehr erhalten ist. Bei Hötensleben war der Grenzabschnitt besonders eng – ein Grund warum die Grenze an dieser Stelle besonders gesichert wurde, während es, außer in Berlin, vor allem Zäune waren, die die Menschen trennten. Aber auch um vor Blicken zu schützen. "Sichtblendmauer" hieß das, sagt René Müller.

Das Haus von Carmen Buße steht direkt an der Grenze. Schon zu DDR-Zeiten zog sie in das Haus – aus einem anderen Gebäude, das ebenfalls an der Mauer lag. Die Giebelfenster ihres Hauses gehen direkt hinaus auf den Parkplatz der Gedenkstätte, also früher direkt auf den sogenannten Todesstreifen.

"Hier stand man voll unter Beobachtung"

Auf der Westseite hatten die Bundesdeutschen eine kleine Aussichtsplattform Richtung Osten gebaut. Einmal hätten ihr Jugendliche von der Westseite zugerufen: "‘Ey, hast du 'ne Telefonnummer? Ruf mal an!' und schon haben die von da geguckt, von da geguckt", Carmen Buße zeigt in Richtung der zwei Wachtürme und sagt weiter: "Hier stand man voll unter Beobachtung." Sie habe schnell die Gardinen zugemacht.

Nachts sei es wegen der Beleuchtung auf dem Todesstreifen immer hell gewesen.

Es sei immer noch ein komisches Gefühl, heute an der Grenze entlangzugehen – "sowas vergisst man nicht" – aber auch ein schönes Gefühl zu wissen: Es war einmal. Sie hadert:

Gut, zuerst habe ich mich geärgert: Nu haste die Grenze wieder vor dir. Wiederum sag ich mir, die Anlage wird gepflegt und es kommen so viele von so weit her. Das ist für die ein Schock, wenn die hier so langgehen.

Carmen Buße

Über Carmen Buße

Carmen Buße ist in Hötensleben aufgewachsen, in einem Haus an der Grenze. Ihren ersten Job hatte sie in der Landwirtschaft, später in einer Gärtnerei. Sie war 28 Jahre alt und hatte bereits ihre drei Kinder, als 1989 die Grenze im Ort geöffnet wurde. Nach der Wiedervereinigung war sie zunächst einige Zeit arbeitslos und suchte sich verschiedene Jobs wie Zeitungen austragen. Später bekam sie zunächst einen Job, dann eine Festeinstellung als Pflegerin bei der Diakonie, in dem sie noch heute arbeitet.

Gedenkfeier musste wegen Corona abgesagt werden

In Hötensleben im Landkreis Börde ist am Dienstag im stillen Gedenken ein Kranz niedergelegt worden. Die Gemeinde erinnert am 26. Mai an den Beginn des Ausbaus der innerdeutschen Grenze vor genau 68 Jahren und Zwangsaussiedlungen aus dem Grenzsperrgebiet und an die Opfer des Grenzregimes.

Geplant hatten der Grenzdenkmalverein und die Stiftung Gedenkstätten, zu der das Grenzdenkmal gehört, eine größere Gedenkveranstaltung. Ministerpräsident Reiner Haseloff hatte sich angekündigt, um eine Rede zu halten, eingeladen waren Journalisten. Mediale Präsenz sei wichtig für den Grenzdenkmalverein erklärt der Vorsitzende. Spenden und Fördergelder würden erfahrungsgemäß schneller fließen, je größer die Aufmerksamkeit.

Aufgrund der Coronamaßnahmen mussten die Veranstalter die Gedenkfeier absagen. Stattdessen legten fünf Leute gemeinsam Kränze am noch erhaltenen Mauerstück ab. Normalerweise wären um die hundert Leute gekommen, schätzt René Müller.

Kleiner Teil einer großen Geschichte

René Müller, Hans-Joachim Ziemer und Carmen Buße schweifen beim Besuch von MDR SACHSEN-ANHALT immer wieder ab und erzählen Geschichten: Die Hötenslebener berichten vom Fensterputzen, aus der NVA-Kaserne, von Schlägereien in der Dorfdisco. Warum man seine Puschen einfach vor der Tür stehen lassen und zum Bäcker gehen konnte oder wie man ein Kind mit nur drei Windeln versorgte.

Die Hötenslebener haben die Geschichte in Form von Mauer und Stacheldraht vor dem Fenster und sie erinnern sich gut.

Quelle: MDR/jh

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