Balkonrede vor 35 Jahren Sachsen-Anhalt richtet Gedenken in Prag aus: Viele Zeitzeugen und Tausende Besucher
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02. Oktober 2024, 18:35 Uhr
Vor 35 Jahren hielt Hans-Dietrich Genscher seine berühmte Rede auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag. Neben einem Tag der offenen Tür, zu dem Tausende Besucherinnen und Besucher kamen, hat es einen festlichen Empfang für geladene Gäste gegegeben.
- Sachsen-Anhalt hat zusammen mit der Prager Botschaft das Gedenken an Hans-Dietricht Genschers Balkonrede ausgerichtet.
- Oppostion und Bund der Steuerzahler störten sich an den Kosten der Feierlichkeiten.
- Das Gedenken wird sich verändern: Viele Zeitzeugen sind inzwischen kurz vor dem Rentenalter.
Es war ein prägender Moment der deutschen Geschichte: Als der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der Prager Botschaft Tausenden Geflüchteten aus der DDR mitteilte, dass ihre Ausreise ermöglicht worden sei – und seine Worte im Jubel untergingen. An dieses Ereignis vor 35 Jahren wird in Prag erinnert. Der Landtag von Sachsen-Anhalt richtet in diesem Jahr die Feierlichkeiten gemeinsam mit der Botschaft aus.
Das Gedenken begann am Montag mit einem Tag der offenen Tür in der Prager Botschaft: Viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen waren gekommen, um ihre Erinnerungen an ihre Flucht zu teilen – etwa mit den zahlreichen Schulklassen aus Tschechien und Deutschland, die bereits am Vormittag die Botschaft füllten. Sachsen-Anhalt präsentierte sich an mehreren Ständen. Es wurden Fotos und Dokumentationen der Ereignisse rund um den 30. September 1989 gezeigt und eine Ausstellung über Geflüchtete aus Sachsen-Anhalt vom Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Johannes Beleites, eröffnet.
Geschichtsvermittlung als zentrale Aufgabe
Am wichtigsten für die Geschichtsvermittlung sind aber die Menschen, die 35 Jahre nach ihrer Flucht aus der DDR wieder in die Prager Botschaft zurückgekehrt sind und ihre Erlebnisse teilen. Für Jens Schlicht aus Magdeburg ist die Euphorie von damals sofort wieder präsent, als er die Botschaft wieder betritt. Er habe damals das Gefühl gehabt, sein Leben würde sich komplett verändern. "Das fühle ich jetzt sofort wieder."
Ähnlich geht es Gunter Raecke aus Remkersleben, der 1989 unter den ersten Geflüchteten in der Botschaft war: Sofort habe er wieder eine Gänsehaut und die Bilder vor Augen, wie er und seine Frau über den Zaun kletterten.
Die Erinnerungen zu teilen und vor allem an die Schülerinnen und Schüler weiterzugeben, ist ihnen wichtig. Zurück an diesem besonderen Ort zu sein, lässt bei ihnen Erinnerungen und Emotionen wieder aufkommen, das ist den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen deutlich anzumerken. Gelegentlich fließen Freudentränen – auch 35 Jahre nach der Genscher-Rede.
Kosten: Geldverschwendung oder würdige Erinnerung?
Neben dem Tag der offenen Tür gab es am Mittwoch einen festlichen Empfang in der Botschaft, zu dem nur geladene Gäste kommen durften. Dass die Bundesländer solche Feierlichkeiten, etwa zum Tag der deutschen Einheit, oder eben zum Jubiläum in Prag, gemeinsam mit dem Bund ausrichten, ist durchaus üblich: Sachsen etwa richtet in diesem Jahre eine Feier zum Tag der deutschen Einheit in Warschau mit aus. Um die Kosten für den Empfang in Prag gibt es innerhalb von Sachsen-Anhalt aber geteilte Meinungen.
Der Bund der Steuerzahler kritisiert vor allem den Empfang am 2. Oktober als "inakzeptable Party auf Steuerzahlerkosten". Der BdS-Vorsitzende, Ralf Seibicke, sagte: "Dass man dieses Jubiläum würdigt, ist nachvollziehbar. Die Frage ist, wie man es würdigt." Seibicke forderte, andere Formen des Erinnerns zu finden.
Der Landtagspräsident, Gunnar Schellenberger (CDU) sieht die Reise nach Prag für das Gedenken an die dortigen Ereignisse als unumgänglich. Man könne über die Ereignisse auch im Geschichtsbuch lesen, aber den authentischen Ort zu erleben, sei etwas ganz anderes. Viele Zeitzeugen seien dankbar für die Veranstaltung. Außerdem hätten 2.000 Schüler und 500 Studenten den Tag der offenen Tür in der Botschaft besucht.
Ich glaube, alle, die hier dabei sind, sind begeistert und wissen, wie wichtig das ist. Und ich habe es gerade mit einem Zeitzeugen noch mal besprochen: Wenn es seine Gesundheit zulässt, ist er in fünf Jahren wieder dabei.
Kosten laut Schellenberger im Rahmen
Die Kosten für den Empfang und die Beteiligung am Tag der offenen Tür in der Botschaft blieben im dafür vorgesehenen Budget, sagte Schellenberger weiter – das heiße unter 100.000 Euro. Der Ältestenrat des Parlamentes hatte den Planungen zugestimmt.
Mehrere Oppositionsfraktionen sprechen hingegen von über 100.000 Euro, die der Landtag für die Reise nach Prag ausgibt und kritisieren die Ausrichtung der Gedenkveranstaltungen als finanziell unverantwortlich. Von den Oppositionsparteien fuhren keine Vertreter zu den Feierlichkeiten, aus den Fraktionen von CDU, SPD und FDP sind insgesamt 15 Abgeordnete nach Prag gereist. Neben den Feierlichkeiten gibt es ein Besuchsprogramm bei mehreren tschechischen bzw. deutsch-tschechischen Organisationen und Unternehmen.
Hans-Dietrich Genscher, ein Hallenser
Die Vertreter der drei Koalitionsfraktionen betonen die besondere Verbindung zwischen dem bundesdeutschen Außenpolitiker Hans-Dietrich Genscher und dem Land Sachsen-Anhalt: Genscher wurde in Halle geboren und hatte mit seinen Verhandlungen über das Schicksal der Botschafts-Flüchtlinge an einem Schlüsselmoment der jüngeren deutschen Geschichte mitgewirkt.
Die Einigung zwischen BRD und der damaligen DDR und ČSSR war ein herausragender Moment der Diplomatie. Deshalb hat auch der Zeitzeuge Jens Schlicht einen positiven Blick auf den festlichen Empfang am 2. Oktober, der sich auch an Diplomaten in Prag richtet: "Zum Gedenken gehört auch Kunst und Kultur dazu, auch eine Band aus Sachsen-Anhalt, die spielt, auch ein festlicher Rahmen. Ich empfinde das als würdig."
Was das Gedenken am historischen Ort bewirkt
Viele Zeitzeugen sind inzwischen kurz vor oder bereits im Rentenalter. Das Gedenken an ihre Erlebnisse in der Prager Botschaft wird sich verändern müssen. "Alle Gegenwart wird sich irgendwann historisieren", sagt der Historiker und Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Johannes Beleites. Als er auf dem berühmten Balkon des Botschaftsgebäudes steht, von dem Genscher 1989 seine Rede gehalten hat, hat er seine Kinder bei sich. Sie haben seine Ergriffenheit nicht nachfühlen können, sagt er.
"Meine Kinder sind zwischen 12 und 18 Jahre alt. Sie sagen: ‘Papa, du bist der Einzige, den das hier bewegt’. Sie können bei ihren Eltern und Großeltern Emotionalität spüren – aber für sie ist das Geschichte."
Diese Geschichte könne am historischen Ort anders vermittelt werden, als im Klassenzimmer – davon ist auch Jens Schlicht überzeugt: "Es ist eindrucksvoller, wenn man am Ort steht und die Fotos sieht, wie es hier aussah. Geschichte zu vermitteln funktioniert besser durch das Herz als durch den Kopf. Die Geschichte ist am Ort des Geschehens immer intensiver zu erleben – ob das nun der Magdeburger Dom ist oder eben die Prager Botschaft."
MDR (Roland Jäger, Daniel Salpius) / Erstmals veröffentlicht am 30. September 2024
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 01. Oktober 2024 | 21:45 Uhr
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