Drei ältere Menschen stehen vor einem Tor in Prag.
Gunter Raecke (l.) ist an den Ort zurückgekehrt, der mit einer der wichtigsten Erinnerungen seines Lebens verknüpft ist. Hier posiert er mit seiner Frau Marianne und Mike Schlensig aus Zeitz, einem der ersten Botschaftsflüchtlinge. Bildrechte: MDR/ Roland Jäger

Flucht aus der DDR Rückkehr in die Prager Botschaft nach 35 Jahren: "Sie stellen ja die ganze Welt auf den Kopf"

01. Oktober 2024, 11:40 Uhr

Gunter Raecke und Jens Schlicht haben als DDR-Bürger den Traum von Freiheit gelebt. Sie wollten über die Botschaft der BRD in Prag aus Ostdeutschland flüchten, gemeinsam mit tausenden anderen Geflüchteten. 35 Jahre nach diesem Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung richtet Sachsen-Anhalt die Feierlichkeiten zum Jubiläum aus. Ein Anlass für die beiden Zeitzeugen, in die Botschaft zurückzukehren und ihre Erinnerungen zu teilen.

MDR-Redakteur Roland Jäger
Bildrechte: Philipp Bauer

Gut gefüllt ist die Botschaft in Prag an ihrem Tag der offenen Tür. Schulklassen aus Tschechien und Deutschland sind angereist. Die Schülerinnen und Schüler kennen das Ereignis, an das hier erinnert wird, aus dem Geschichtsunterricht. Für sie ist das Jubiläum eine Gelegenheit, mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu sprechen, die ebenfalls an den historischen Ort gereist sind – unter anderem aus Sachsen-Anhalt.

Ich erinnere mich vor allem daran, über den Zaun zu klettern. Meiner Frau über den Zaun zu helfen – sie hatte sich die Hose aufgerissen, wir hatten Glück, dass sie sich nicht verletzt hat.

Gunter Raecke, Zeitzeuge

Mehrere Tausend Geflüchtete aus der DDR drängten sich im Spätsommer 1989 auf dem Gelände der Botschaft der Bundesrepublik. Gunter Raecke aus Remkersleben in der Börde war einer der ersten, die es in die Botschaft geschafft hatten. Als er heute vor dem Eingang steht, hat er seine stärkste Erinnerung direkt wieder vor Augen: "Ich erinnere mich vor allem daran, über den Zaun zu klettern. Meiner Frau über den Zaun zu helfen – sie hatte sich die Hose aufgerissen, wir hatten Glück, dass sie sich nicht verletzt hat", sagt Raecke.

Massive Repression gegen früheren Gastwirt

Raecke hatte in der DDR massive Repression erlebt, durfte unter anderem seinen Beruf als Gastwirt nicht weiter ausüben. Der Druck von den Behörden reichte soweit, dass nachts die Tür zu seiner Wohnung eingetreten wurde, sagt er. Tag und Nacht seien er und seine Frau von den Behörden beobachtet worden. Mehrere Ausreiseanträge hatten die beiden geschrieben – erfolglos.

Schlussendlich hatte sich Gunter Raecke ein Motorrad von seinem erwachsenen Sohn geliehen – für eine Harz-Rundfahrt, wie er ihm erklärt  hatte – und fuhr gemeinsam mit seiner Ehefrau nach Prag. Sein Sohn habe wohl geahnt, wohin beide wirklich fuhren, denn er verabschiedete sich mit den Worten: "Ich drücke euch die Daumen."

Ein älterer Mann zeigt eine Rote-Kreuz-Fahne mit Unterschriften.
Auf einer Fahne des Roten Kreuzes haben diejenigen unterschrieben, mit denen 
Raecke 1989 in der Deutschen Botschaft war.
Bildrechte: MDR/ Roland Jäger

Alte Gefühle noch immer präsent

Eine andere Art von Unterdrückung hat Jens Schlicht aus Magdeburg erlebt. Er habe den Entschluss gefasst, in die BRD zu fliehen, nachdem ihm bewusst wurde, wie sehr der DDR-Staat versuchte, in der Schule seine Kinder ideologisch zu beeinflussen. Auch er steht nach 35 Jahren heute wieder im Garten der Botschaft. Das lässt viele Erinnerungen wieder hochkommen. "Das ist Gänsehaut pur im Moment. Damals wie heute", bekräftigt Schlicht.

Das ist Gänsehaut pur im Moment. Damals wie heute.

Jens Schlicht, Zeitzeuge

Als er die Botschaft betreten hatte – übrigens nicht wie die meisten über den Zaun, sondern durch die Vordertür mit rund 200 anderen DDR-Geflüchteten – habe er sich mit einem Mal euphorisiert gefühlt: "Jetzt habe ich einen Schutz, jetzt ändert sich mein Leben und es geht in eine ganz neue Richtung." Dieses Gefühl von damals habe er immer noch.

Jens (r.) und Ulrike Schlicht auf dem Gelände der Deutschen Botschaft in Prag.
Jens (r.) und Ulrike Schlicht sind ebenfalls nach Prag zurückgekehrt. Bildrechte: MDR/ Roland Jäger

Die Rede Genschers und ihre Folgen

Den berühmten Moment, an den Sachsen-Anhalt heute in der Botschaft erinnert, hat Schlicht persönlich nicht erlebt: Den wohl bekanntesten Halbsatz der Geschichte, gesprochen vom bundesdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Er rief am 30. September 1989 den tausenden Geflüchteten vom Balkon aus zu "Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Ihre Ausreise…" – danach wurde Genscher vom aufbrandenden Jubel übertönt.

Blick auf den Balkon der Deutschen Botschaft in Prag. Darunter hatten die Geflüchteten aus der DDR ausgeharrt.
Auf dem Gelände der Deutschen Botschaft in Prag warteten die Geflüchteten aus der DDR. Heute müssen sie nicht mehr über Zäune klettern , um auf das Gelände zu kommen. Bildrechte: MDR/ Roland Jäger

Jens Schlicht hatte diesen Moment im Fernsehen gesehen. Daraufhin machte er sich selbst auf den Weg nach Prag. Seine Ehefrau Ulrike war bereits auf anderem Weg aus der DDR geflohen. Jens Schlicht gehörte zur zweiten Welle von DDR-Geflüchteten, die versuchten, über die Botschaft nach Westdeutschland zu gelangen.

"Als ich die Botschaft erreichte, waren die ersten schon alle weg, aber hundert Neue, wie ich, waren schon wieder da." Auch die Begrüßung auf dem Botschafts-Gelände hat Schlicht noch genau im Kopf: "Als ich rein bin in die Botschaft, da sagte ein Mitarbeiter zu mir: 'Sie stellen ja die ganze Welt auf den Kopf.'"

Erinnerung an Meilenstein auf dem Weg zur Wiedervereinigung

Die Ereignisse in der Prager Botschaft – wo tausende ausreisewillige Menschen wochenlang ausharrten, während Außenpolitiker fieberhaft nach einer Lösung suchten und schließlich eine Einigung fanden – sie beschleunigten den Niedergang der DDR enorm. Die Züge voller Geflüchteter, die nach dem 30. September von Prag über die DDR nach Westdeutschland rollten, lösten ein Beben in dem sozialistischen Staat aus. Wenig später gingen tausende Demonstranten, zunächst in Leipzig, später in vielen Städten, bei den Montagsdemos auf die Straßen. Nur wenige Wochen später, am 9. November 1989, fiel die Mauer. 

Letztes aufbäumen einer sterbenden Kraft

Die historische Bedeutung des 30. Septembers 1989 betont auch Johannes Beleites, der Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Auch er ist zu den Feierlichkeiten nach Prag gereist, die Sachsen-Anhalt in diesem Jahr gemeinsam mit der Deutschen Botschaft ausrichtet.

"Allein die Tatsache, dass die DDR darauf bestanden hat, dass die ganzen Flüchtlinge durch die DDR hindurchfahren, war damals für sehr viele schon so absurd, dass man schon wusste: Das ist eine absterbende Kraft, die sich ein letztes Mal aufbäumt", erklärt Beleites.

Johannes Beleites, Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Johannes Beleites Bildrechte: MDR/ Roland Jäger

Landtag Sachsen-Anhalt zum Gedenken in Prag: Umstrittene Reise

Neben den Zeitzeugen würdigen auch Politikerinnen und Politiker der CDU, SPD und FDP das Jubiläum. Abgeordnete aus den Oppositionsfraktionen hingegen lehnten die Reise und die Feierlichkeiten wegen ihrer Kosten ab. Zusätzlich zum Tag der offenen Tür in der Botschaft am 30. September wird es am 2. Oktober einen Empfang für geladene Gäste geben, für den Sachsen-Anhalt einen Teil der Kosten übernimmt.

Die genaue Höhe teilte der Landtag nicht mit, mehrere Fraktionen sprachen im Vorfeld aber von über 100.000 Euro. Sachsen-Anhalts Bund der Steuerzahler kritisiert diese Ausgaben als unverantwortlich. 

Landtagspräsident Gunnar Schellenberger (CDU) hält das Gedenken in Prag hingegen für wichtig: "Das Fest der Freiheit in Prag steht im Zeichen der Erinnerung an den Mut und die Entschlossenheit der Menschen, die vor 35 Jahren für ihre Freiheit eintraten."

Emotionales Jubiläum

Gunter Raecke und Jens Schlicht sind ergriffen von der Feier in der Botschaft – dem Ort, wo sie vor 35 Jahren in Zelten des Roten Kreuzes voller Hoffnung auf ihre Ausreise und ein Leben in Freiheit ausharrten. Zu purer Nostalgie dürfe das Gedenken nicht verkommen, sagen die beiden Zeitzeugen. "Ich glaube, es ist umso wichtiger heutzutage, dass wir genau noch mal über diese Zeiten nachdenken", betont Schlicht. "Das Vergessen ist da."

Gunter Raecke freut sich deshalb besonders über die vielen Schülerinnen und Schüler aus Tschechien und Deutschland, die heute hier sind, und die die Geschichte vom Mut der Geflüchteten, der Rede Genschers und ihrer Bedeutung für die Wiedervereinigung hören. Sogar um gemeinsame Fotos wird er von einigen Schülern gebeten. 

Die Botschaft ist für ihn ein so besonderer Ort, dass der 79-Jährige wieder hierherkommen möchte, wenn die Gesundheit von ihm und seiner Frau es zulässt – zum 40. Jahrestag der Genscher Rede.

MDR (Roland Jäger, Oliver Leiste)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 30. September 2024 | 19:00 Uhr

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