Kommentar Bildungsgipfel: Wir brauchen einen Systemwandel
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23. Januar 2023, 08:12 Uhr
Nicht für die Schule zu lernen, sondern für das Leben – das ist schon immer ein hehres Ziel der Bildung. Mit Blick auf den aktuellen Zustand der Bildung in Sachsen-Anhalt muss man allerdings fragen, auf welches Leben die jungen Landeskinder da vorbereitet werden sollen. Denn der Bildungsgipfel steht offenbar für die Idee eines beherzten "Weiter so". Das Herumdoktern an Symptomen ändert aber nichts an den Ursachen – Uli Wittstock kommentiert.
- Das Bildungssystem in Sachsen-Anhalt ist im "Schweinezyklus" der Überalterung gefangen, schreibt MDR-SACHSEN-ANHALT-Kommentator Uli Wittstock.
- Das liege auch daran, dass in den letzten Jahrzehnten an der Bildung mit Geld und Aufmerksamkeit gespart wurde.
- Wittstock findet: Ein Systemwechsel weg vom dreigliedrigen Schulsystem würde helfen.
Der Zustand der Bildungslandschaft in Sachsen-Anhalt gleicht dem Zustand der Wälder im Land: Zerzaust, mit kahlen Stellen, wenig Aufwuchs, und wie für den Wald gilt auch für die Schulen: Es gibt keine schnellen Lösungen. Daran ändert auch ein Bildungsgipfel nichts, denn selbst der Ministerpräsident kann dem akuten Personalmangel im Bildungswesen nichts entgegensetzen.
Allerdings ist Rainer Haseloff bereits seit zwölf Jahren Ministerpräsident. Drei Landtagswahlen und drei Bildungsminister konnten aber offenbar der dramatischen Zuspitzung der Bildungsmisere kein Einhalt gebieten.
Der Schweinezyklus
Dieser unschöne Begriff stammt aus den Wirtschaftswissenschaften und ist inzwischen auch im öffentlichen Dienst eine geläufige Vokabel, vor allem in den neuen Bundesländern. Denn in den Schulen wurden nach der Wende viele ältere Kolleginnen und Kollegen in den Vorruhestand versetzt. Wegen der Abwanderung junger Frauen hatte sich die Zahl der Kinder deutlich reduziert. Deshalb wurden über mindestens zweieinhalb Jahrzehnte kaum neue Lehrkräfte eingestellt. Die Folgen zeigen sich nun deutlich: Über 40 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in Sachsen-Anhalt sind älter als 55 Jahre.
Anders als Hochwasserkatastrophen oder pandemische Großlagen war die Bildungsmisere in Sachsen-Anhalt seit langem absehbar. Eine vorausschauende Personalpolitik im Bildungsbereich hätte einen Teil der gegenwärtigen Probleme wohl verhindern können. Das freilich hätte Einsparungen in anderen Bereichen erfordert.
Bildung ist auch Infrastruktur
Würden für den öffentlichen Straßenbau ähnliche Vorgaben gelten wie für die Bildung in Sachsen-Anhalt, dann wäre die Nordverlängerung der A 14 wohl kaum über die Planungsphase hinausgekommen. Denn man hätte sowohl am Planungspersonal als auch an der Technik gespart und beim Beton nur mit der halben Menge gerechnet.
Dass die Kosten für den Autobahnbau jährlich steigen, wird achselzuckend hingenommen, die Angleichung der Gehälter von Grundschullehrern auf bundesdeutsches Normalmaß gilt hingegen als nahezu ausgeschlossen. Der Vorschlag, auch Seiteneinsteigern mit Bachelorabschluss eine Verbeamtung anzubieten, sorgte sofort für Kritik beim obersten Kassenwart des Landes. Landesrechnungshofpräsident Barthels warnte vor einer weiteren Kostenlawine. Autobahnen finanziert der Bund, für die Bildung ist das Land zuständig. Für Sachsen-Anhalts Schullandschaft ist dies keine gute Regelung.
Zeit für eine Systemfrage
Dabei ist bei genauerem Hinsehen ja nicht das ganze Bildungssystem in Schieflage, sondern es betrifft vor allem die Sekundarschulen des Landes. In diesen ist der Lehrermangel besonders gravierend, ein Umstand, der in der Debatte gern verschwiegen wird. Statt nach den Gründen zu fragen, wird nun die Stundenzahl für Lehrerinnen und Lehrer erhöht.
Es wäre also eigentlich dringend an der Zeit, das dreigliedrige Schulsystem nach seiner Zukunftsfähigkeit zu befragen, ein Schulsystem, das der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts entstammt und diese Prägung bis heute nicht abgestreift hat. Mit diesem System produziert Sachsen-Anhalt im bundesweiten Vergleich die meisten Schulabbrecher.
Und solange die frühe Trennung nach Schulnoten in den Sekundarschulen das Gefühl des Aussortiertseins produziert, wird sich daran wohl wenig ändern. Während in erfolgreichen Bildungssystemen wie dem finnischen die hohe Durchlässigkeit ein wichtiges Element ist, bleibt in Deutschland der Aufstieg durch Bildung allenfalls ein laues Versprechen, das den Praxistest nicht besteht.
Klassenkampf von Oben
Als hätte die CDU-Landtagsfraktion die Debatte erahnt, beschloss sie am Tag nach dem Bildungsgipfel, sich für eine weitere Verschärfung der Schullaufbahnempfehlungen stark machen zu wollen. In Zukunft solle der Elternwille keine Rolle mehr spielen, sondern nur noch der Notendurchschnitt, mit dem Ziel, das Niveau der Sekundarschule deutlich zu stärken. Ob eine derartige Zwangsbeschulung allerdings geeignet ist, das Bildungsniveau in den Sekundarschulen zu heben, darf bezweifelt werden. Zudem suche das Handwerk dringend Nachwuchs, so CDU-Fraktionschef Heuer.
Die CDU-Fraktion besteht, wie die übrigen Fraktionen des Landtags, überwiegend aus Akademikern. In Deutschland besuchen von 100 Akademikerkindern 83 die gymnasiale Oberstufe. Man kann also davon ausgehen, dass die Kinder und Enkel der Parlamentarier von deren Überlegungen weitestgehend nicht betroffen sind. Die Hände mögen sich doch bitte andere schmutzig machen.
Blick über den Tellerrand
Die Bundesländer legen sehr viel Wert auf ihre Gestaltungshoheit in Bildungsfragen, denn nur im Wettbewerb könnten sich die besten Ideen durchsetzen, so die Erklärung für diese zunehmend altbacken wirkende Form der Bildungspolitik.
Sachsen-Anhalts bahnbrechende Idee ist es, bei Bedarf den Schulunterricht auf eine Vier-Tage-Woche zu verkürzen, bemerkenswerterweise nur an Sekundarschulen. In Nordrhein-Westfalen will man stattdessen mehr als 3.000 Gymnasiallehrer an Grundschulen versetzen, um so dem akuten Lehrermangel zu begegnen. Das gilt in Sachsen-Anhalt als nicht umsetzbar.
Bildung als politisches Gedöns?
Wer in Deutschland politische Karriere machen will, muss sich mit Themen profilieren, die als relevant gelten: Wirtschaft, Klimaschutz, innere Sicherheit oder Finanzen. Die Bildung ist leider nicht Teil dieser Megatrends, sondern rangiert irgendwo zwischen Verbraucherschutz und Wohnungsbau. Weder in Berlin noch in Sachsen-Anhalt gehört die Bildung zu einem der wichtigen Schlüsselressorts, ganz im Gegenteil.
Sachsen-Anhalts Ministerium für Bildung wurde schon vor Jahren von der Kultur getrennt und ist nun in seiner Rumpffunktion alles andere als ein schlagkräftiges Haus im Konzert der übrigen Ministerien. Daran ändert auch ein Bildungsgipfel in der Staatskanzlei nichts. Es dürfte nicht das letzte solcher Treffen gewesen sein.
MDR (Uli Wittstock, Alisa Sonntag)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 20. Januar 2023 | 05:00 Uhr
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