Kommentar Von wegen anders – Jugend und Generationenkonflikte in Sachsen-Anhalt
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28. Mai 2023, 16:56 Uhr
In Sachsen-Anhalt leben nach aktuellen Zahlen rund 180.000 Jugendliche im Alter von 15 bis 25 Jahren – vor dreißig Jahren waren es noch doppelt so viele. Etwa 600.000 Menschen sind hingegen älter als 65 Jahre. Es gibt also über dreimal mehr Senioren als Jugendliche im Land. Und obwohl sich Schulen, Unternehmen und politische Parteien mühen, sich für junge Leute attraktiv zu machen, gibt es offenbar Probleme, diese zu erreichen. Was läuft da falsch? Unser MDR-Kolumnist sucht nach Antworten.
Die politische Wertschätzung von Themen lässt sich an Türschildern von Ministerien ablesen. So hat Sachsen-Anhalt seit der letzten Wahl ein Ministerium für Digitales, das sich den Titel allerdings mit dem Bereich Infrastruktur teilen muss. Aber auch die Begriffe Gleichstellung, Arbeit, Gesundheit, Sport oder Forsten tauchen auf den Briefköpfen den Ministerien auf. Die Zielgruppe Jugend ist jedoch nur indirekt vertreten, vor allem unter dem Begriff Bildung. Dass so ein Türschild nicht unbedingt der Garant für eine gute Politik sein muss, zeigt sich derzeit in Berlin, wo ja Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) gerade erhebliche Probleme mit der Umsetzung seiner Vorstellungen hat.
Doch die Wertigkeit einer Idee oder Zielgruppe zeigt sich eben auch am Zuschnitt von Ministerien. Dass die Jugend unsere Zukunft ist, wird gerne zu gegebenem Anlass in allen Parteien festgestellt, doch im politischen Alltag verengt sich der Fokus leider sehr schnell auf den nächsten Wahltermin. Und die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler sind nun einmal jenseits des fünften Lebensjahrzehnts.
Streitfrage Wahlalter 16
"Wenn ich hier in Wittenberg auf die konkreten Verhältnisse schaue, dann gehöre ich ja mit unter 55 noch zum jüngeren Teil der Einwohner." Das sagt Tobias Thiel, Studienleiter für politische Jugendbildung an der Evangelischen Akademie Wittenberg. Jüngst hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) die alte Idee ins Spiel gebracht, nämlich Wahllokale bereits für Jugendliche ab 16 Jahren zu öffnen, auch um die Belange junger Generationen in der Politik stärker zu verorten.
Allerdings hält Tobias Thiel diese Debatte für zu kurz gegriffen. "Ein Wahlalter ab 16 nützt schon nichts mehr, denn die Anzahl der Jugendlichen Wahlberechtigten bliebe trotzdem klein. Wollte man das Interesse junger Leute demokratisch abbilden in Wahlen, dann müsste man jetzt ein Familienwahlrecht ab null einführen. Das wird aber zurzeit nicht diskutiert."
Dass die Debatte durchaus politische Relevanz hat, zeigt sich in zahlreichen Entscheidungen zur Krisenbewältigung der letzten Jahre. Denn um anstrengende politische Debatten zu umgehen, verlagern Parteien die Risiken gerne auf nächste Generationen. Während im letzten Sommer die Großeltern begeistert mit dem neun Euro Ticket durchs Land cruisten, wurden ihre Enkel dazu nicht befragt. Die allerdings werden dafür die Rechnung präsentiert bekommen, in Form von Staatsschulden.
Sondersituation Ost
Aber nicht nur wegen der verstärkten demografischen Veränderungen, sondern auch aus historischen Gründen, ist der Osten Deutschlands stärker von diesen Entwicklungen betroffen. "Wir haben die Situation, dass viele Kinder in Familien aufwachsen, in denen Eltern und Großeltern Transformationsprozesse erlebt haben, die für sie sehr belastend waren. Das kann zu Demokratiemüdigkeit und rassistischen Einstellungen führen", so Thiel.
Aus Wittenberger Perspektive hat er die ländlichen Räume gut im Blick, denn hier zeigen sich die Probleme besonders stark: "Wir leben in der sehr ausdifferenzierten Gesellschaft. Und wenn ich diese Vielfalt leben will, dann ist das im ländlichen Raum schwerer, als in einer größeren Stadt." Für viele bleibt da nur die Abwanderung, was dann vor Ort das Gefühl des Abgehängtseins zusätzlich verstärkt.
Manche Regionen sind geprägt vom Fatalismus einer älteren Generation, die einfach enttäuscht und politikverdrossen ist.
Thiel, der in Radebeul geboren ist und später in Jena und Paris Politikwissenschaft, Philosophie und Psychologie studierte, räumt ein, eine Lösung für dieses Problem bislang nicht gefunden zu haben. "Manche Regionen sind geprägt vom Fatalismus einer älteren Generation, die einfach enttäuscht und politikverdrossen ist." Eine Erkenntnis allerdings stehe für ihn nach den Erfahrungen der letzten Jahre jedoch fest: "Damit sich Zivilgesellschaft entwickelt, braucht es auch einen gewissen Reichtum." Oder anders ausgedrückt, wer sich Sorgen um seine soziale und wirtschaftliche Zukunft macht, der hat wenig Sinn für die Probleme zukünftiger Generationen.
Damit sich Zivilgesellschaft entwickelt, braucht es auch einen gewissen Reichtum.
Gewissheiten schwinden
In beiden Teilen Deutschlands gab es nach dem verlorenen Krieg die ausgesprochene Hoffnung, dass es den kommenden Generationen besser gehen möge. Diese Sichtweise hat sich mit Blick auf die krisenhafte Gegenwart in wohl vielen Familien verflüchtigt. Und auch wenn es so mancher derzeit gerne ausblendet, so ist doch deutlich, dass unsere bisherige Form des Wirtschaftens und Konsumierens ein Auslaufmodell ist. Und auch diese Erkenntnis trifft den Osten Deutschlands noch einmal in besonderer Form: "So mancher sagt, ich will jetzt nicht noch eine Transformation. Ich bin jetzt endlich so halbwegs angekommen, jetzt sollte doch mal für 20 Jahre Ruhe sein. Das ist individuell nachvollziehbar, aber leider illusorisch."
Doch angesichts der zahlreichen Krisen und Herausforderungen bleibt es zwischen Generationen überraschend friedlich. Die Große Rebellion, verglichen etwa mit dem Aufbruch der 68er, ist ja bislang ausgeblieben. Wohl nicht zufällig so Tobias Thiel: "Anfang der 2000er Jahre zeigte sich in Umfragen noch, dass die Jugendlichen alles anders machen wollten als ihre Eltern. Das hat sich inzwischen geändert. Die Jugendlichen finden nun ihre Eltern ganz in Ordnung, übrigens auch die Erziehung."
Für Thiel ist das auch ein Erfolg der Politik, denn mit der Kinderschutzgesetzgebung habe sich generell ein neuer Blick entwickelt im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Zudem hat die Landesregierung auch die Kommunalverfassung geändert. Im Paragraph 80 ist festgeschrieben, dass Kinder und Jugendliche an Entscheidungen beteiligt werden, wenn es sie selbst betrifft. Doch in der Praxis erweist sich die Umsetzung als schwierig.
Überlastung durch Vielfalt
Dass jungen Menschen heutzutage beruflich deutlich mehr Möglichkeiten haben als ihre Eltern, ist auch eine Folge des demographischen Wandels. Dennoch wirke ein Schatten der Massenarbeitslosigkeit bis heute nach, so Tobias Thiel: "Spätestens seit der Erfindung der Ich-AGs, haben Jugendliche das Gefühl, dass sie selbst verantwortlich sind für ihre Entscheidungen. Das hat etwas Positives, weil sie wirklich selbst Verantwortung übernehmen. Das kann aber auch ganz schnell zu einem Überlastungs-Effekt führen."
Neben den Familien stehen eigentlich auch die Schulen in der Pflicht, ihrer Verantwortung über die reine Stoffvermittlung hinaus nachzukommen. Doch nicht nur wegen des akuten Personalmangels blieben da die Schulen hinter den Erwartungen zurück: "Zu DDR-Zeiten hatte die Schule einen ganz klaren Auftrag zur sozialistischen Erziehung. Um sich davon abzugrenzen, wollen Lehrerinnen und Lehrer nun oft heute keine Verantwortung mehr übernehmen für soziale Beziehungen."
Möglicherweise klingt der Begriff Orientierungslosigkeit sehr hart in diesem Zusammenhang, doch er könnte für die Situation vieler junger Menschen stehen. "Forever Young" hieß ein Hit der deutschen Band Alphaville in den 80ziger Jahren. Fragt man heute ältere Menschen, jetzt noch einmal jung sein zu wollen, hält sich die Begeisterung in Grenzen. Vielen ahnen wohl, dass dies keine Rückkehr in eine unbeschwerte Jugend wäre.
MDR (Uli Wittstock, Johanna Daher)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 28. Mai 2023 | 12:00 Uhr
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