Mauerfall Steffi Lemke über den 9. November 89: "Nacht der Ungewissheit"
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10. November 2024, 09:35 Uhr
Der 9. November 1989 ist in die Geschichte eingegangen. Damals verkündete der SED-Funktionär Günther Schabowski, dass die Grenzen offen stehen. Eine junge Frau, die diese politische Wende herbeigesehnt hat, sitzt jetzt in der Bundesregierung: Umweltministerin Steffi Lemke von den Grünen. Die Dessauerin war 1989 in der Umweltbewegung aktiv.
MDR SACHSEN-ANHALT: Das ist ja relativ klares Wasser. Freut Sie das, wenn Sie hier spazieren gehen und sehen, wie sich die Elbe entwickelt hat?
Steffi Lemke: Das grenzt schon an einem Wunder, dass dieser mal dreckigste Fluss Europas heute eine solche Qualität hat, dass Menschen hier drin baden können, dass es Fische wieder in großer Anzahl gibt. Und gerade wenn wir noch auf die Mulde schauen, das war ja der Abwasserkanal des Chemie-Dreiecks Bitterfeld, auf der schwammen in meiner Kindheit Schaumkämme. Die waren einen halben oder einen ganzen Meter hoch in verschiedenen Farben. Es grenzt an einem Wunder, dass diese Entwicklung umgekehrt werden konnte.
Macht Sie das persönlich auch ein bisschen beschwingt, wenn Sie das sehen?
Ich bin groß geworden in dieser Landschaft. Ich lebe hier. Ich kann das natürlich genießen. Ein wunderbares Naturschauspiel, was sich hier in jeder Jahreszeit bietet. Aber ich weiß natürlich auch, dass es mit massiver Deindustrialisierung, mit dem Zerstören von Arbeitsplätzen in den 90er Jahren verbunden war, dass die Natur sich hier erholen konnte. Deshalb setze ich meine Kraft jetzt darauf, dass wir wirklich umweltverträgliche Technologien entwickeln. Denn es ergibt ja keinen Sinn, dass wir die Umweltverschmutzung nur in andere Länder der Welt exportieren, den Dreck jetzt in Vietnam hinterlassen zum Beispiel, unsere Produkte dort herbeziehen. Es geht ja darum, dass alle Menschen in intakter Natur leben wollen.
Jetzt machen wir mal eine kleine Zeitreise, 35 Jahre zurück, 1989. Was haben Sie damals gemacht?
Ich war damals 21 Jahre. Ich habe zur damaligen Zeit in Berlin studiert, mein Landwirtschaftsstudium absolviert und bin ein bisschen wie jetzt zwischen Berlin und Dessau hin und her gependelt. Das heißt, der private Lebensmittelpunkt war damals, wie heute hier in Dessau und erst das Studium, jetzt das Ministeramt in Berlin. Das heißt, ich habe in den späten 80er Jahren angefangen, mich in der DDR-Umweltbewegung zu engagieren. Ich sage dazu, ich war keine Bürgerrechtlerin, ich war jung. Ich habe Anschluss gesucht, um mit Gleichgesinnten darüber diskutieren zu können, wie wir die Umwelt schützen können, Natur retten können und was politisch dafür notwendig ist. Und das war dann in der DDR-Umweltbewegung.
War das so einfach, so als Studentin bei so einer Umweltbewegung mitzumachen?
Das war natürlich überhaupt nicht einfach, denn Umweltpolitik existierte in der DDR quasi nicht. Es war verboten, Daten über den schlechten Zustand der Umwelt zu publizieren. Die Umweltbibliothek in Berlin ist von der Stasi bekämpft worden. Es sind Menschen verhaftet worden, eingesperrt worden, einfach nur, weil sie sich für Umweltpolitik engagiert haben. Aber ich war sehr jung. Ich kam erst im Herbst 1989 in diese Gruppierungen mit hinein, dann wurde es leichter. Die Umweltbewegung war ein relevanter Bestandteil der friedlichen Revolution. Viele Menschen wollten die massive Luftverschmutzung, die mit Gesundheitsproblemen für die kleinen Kinder einherging, wollten die massive Verseuchung, gerade hier im Chemiedreieck Bitterfeld, nicht mehr akzeptieren.
Es hatte ja auch immer etwas mit der menschlichen Gesundheit zu tun. Und deshalb ist es gut, dass wir heute über Technologien verfügen, die die Umwelt sauberer halten. Wir haben längst noch nicht alles erreicht, was nötig ist. Klimaschutz, Artenaussterben, die Plastikvermüllung. Die Probleme sind nach wie vor riesengroß. Wir haben noch eine lange Strecke Weges zu gehen und der ist verdammt steinig, dieser Weg. Aber an der Elbe kann man auch sehen, dass Natur sich regenerieren kann. Und das ist ein Zeichen von Hoffnung, das Mut macht, wenn wir es richtig anstellen, dann können wir Umwelt, Natur bewahren und trotzdem Arbeitsplätze und Wirtschaft haben.
Sie haben sich damals schon als junger Mensch engagiert, mit der Unbekümmertheit der Jugend. Was war Ihr innerer Antrieb, dass Sie gesagt haben, ich setze mich für die Elbe, für den Umweltschutz ein?
Ich wollte nicht Zeit meines Lebens in einer Umwelt leben, die immer stärker verschmutzt wird, die immer stärker kaputt geht. Man konnte das ja sehen, greifen, spüren damals. Ich wollte mich mit dieser massiven Umweltverschmutzung nicht abfinden. Meine Mutter hat mich und meine beiden Geschwister so oft wie es ging aus der Neubauwohnung heraus in die Muldeauen mitgenommen. Wir haben dort Picknick gemacht, gespielt auf den Wiesen. Und das prägt natürlich. Meine Mutter war Biologielehrerin. Sicherlich ist da die Liebe zur Natur auch daraus erwachsen. Aber es war nicht so, dass man sich im Herbst 89 mit der Unbeschwertheit einer Jugendbewegung engagiert hat.
Es war uns absolut bewusst, dass das gefährlich ist. Dass die Stasi Umweltschützer verfolgt hat, eingesperrt hat. Dass es Durchsuchungen bei der Umweltbibliothek gegeben hat. Und dass das dem Staat ein Dorn im Auge gewesen ist. Umweltschützer, Naturschützer sind verfolgt worden. Ich persönlich, glücklicherweise muss ich sagen, aber nicht. Ich hatte nicht unter diesen Repressalien zu leiden. Aber als ich im Herbst 89 auf den Straßen Berlins mitdemonstriert habe, sind Kommilitonen von mir verhaftet worden. Das war schon eine verdammt gefährliche Situation. Man wusste da nicht, ob man in der Nacht ins Studentenwohnheim zurückkommt. Oder ob man möglicherweise in der Stasi-Zentrale landet.
Sie können sich bestimmt erinnern. Der 9.11. Wo waren Sie da? Wie haben Sie den Tag des Mauerfalls persönlich erlebt?
Da stand ich tatsächlich im Studentenwohnheim abends und habe mir Tee gekocht. Und habe die Nachrichten gehört. Konnte das kaum glauben. War auch sehr skeptisch, was das zu bedeuten hat. Das wusste man in dieser Nacht nicht. Man wusste nicht, ob jetzt kurz die Grenze aufgemacht wird, um Menschen in den Westen hinüberzulassen. Und danach, um so größere Repressalien einzuleiten. Und Menschen auch nicht zurückgelassen würden, die vielleicht wieder nach Hause zurückkehren wollten. Das war eine Nacht der Ungewissheit. Und auch eine Nacht, in der klar wurde, dass die runden Tische eine wichtige Funktion für die Demokratie, für Freiheit haben. Weil wir uns von einem Repressalien-System, einem Staat, befreit haben in diesem Herbst. Aber dass dann der Anschluss an die alte BRD erfolgen würde, das konnte man in diesem Herbst dann auch bereits ahnen.
Wann sind Sie zum ersten Mal in den Westen gefahren? Gleich am 9.11.oder eher später?
Ich bin einige Wochen später nach West-Berlin gefahren. Und danach habe ich meine Großmutter in Nürnberg besucht, die ich sehr geliebt habe. Und dort tatsächlich einige Zeit verbracht. Und ja, vielleicht habe ich damals eher Nürnberg als Berlin erobert.
Wenn wir uns jetzt mal so die Elbe angucken, man kann wieder fischen in der Elbe, man kann baden gehen. Ist das so eine Sache, die einen zufriedenmacht, dass man das geschafft hat?
Definitiv. Das ist ein Wunder. Ich kann es nicht anders bezeichnen, dass es gelungen ist und vor allem die Elbe auch danach zu beschützen. Es gab ja dann in den 90er Jahren massive Bestrebungen, die Elbe zu einem Schifffahrtskanal umzubauen, sie zu kanalisieren. Und das heißt, der Kampf ging schlichtweg weiter für den Schutz der Elbe gegen etwas anderes dann. Aber heute hier zu stehen und zu wissen, dass doch langsam, zu langsam, aber sicher begriffen wird, wie wichtig das Süßwasser für uns alle ist, sauberes Trinkwasser zu haben, eine intakte Aue zu haben, die Hochwasser speichern kann, die bei Trockenheit Wasser zur Verfügung stellen kann, dass sich dieses Wissen doch ganz allmählich durchsetzt, das ist schon eine große Freude.
Das Gespräch führte André Damm.
MDR (André Damm, Hannes Leonard)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 09. November 2024 | 08:00 Uhr
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