Ruhe beim Einkauf "Stille Stunde" im Supermarkt entlastet Menschen mit Autismus in Naumburg
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10. April 2024, 08:26 Uhr
Der Einkauf im Supermarkt kann für Menschen mit Autismus extrem belastend sein: zu laut, zu voll, zu viele Reize. In einem Markt in Naumburg gibt es deshalb jede Woche eine "Stille Stunde", bei der die Hürden abgebaut werden sollen. Zwei Autisten haben das Angebot für MDR SACHSEN-ANHALT getestet.
- Der Einkauf im Supermarkt kann für Menschen mit Autismus eine extreme Belastung sein.
- Ein Markt in Naumburg hat deshalb eine "Stille Stunde" eingeführt, von der nicht nur Autisten profitieren.
- Autismus ist eine unsichtbare Behinderung, auf die oft wenig Rücksicht genommen wird. Angebote wie die "Stille Stunde" sorgen für Inklusion.
Es ist 14:30 Uhr in der Friedrich-Nietzsche-Straße in Naumburg. Klaus Renziehausen und Karl Hollerung, beide Autisten, betreten den Cap-Markt. Cap ist eine Abkürzung für Handicap, also Behinderung. Der Lebensmittelmarkt ist auf die Bedürfnisse von Menschen mit verschiedenen Behinderungen ausgerichtet: Breite Gänge, niedrige Regale, bei Bedarf Begleitung.
Draußen vor der Automatiktür steht das Elektromobil einer Kundin. Ihr kleiner Hund wartet auf seine Besitzerin und bellt. Laut, ausdauernd. Für Klaus Renziehausen und Karl Hollerung ist das die erste Hürde. Drinnen angekommen, hinter den wieder verschlossenen Türen, wird es bedeutend ruhiger. Man hört die typischen Supermarkt-Geräusche. Es läuft leise Musik, Wagen werden geschoben, irgendwo im Hintergrund piept die Kasse, Kundinnen und Kunden unterhalten sich, alles ganz normal. Zumindest für viele Menschen ohne Autismus, die all das anders wahrnehmen.
Wie Einkaufen Menschen mit Autismus belasten kann
Klaus Renziehausen erklärt, womit alle Autistinnen und Autisten zu kämpfen haben. Es sei eine sogenannte Reizfilterschwäche. Sie könnten deshalb nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Sinneseindrücken trennen. Häufig würden dann zu viele davon auf sie einwirken: "Die Musik, dann sind es die vielen hellen Lichter und das kombiniert mit der Situation, dass man neben diesen ganzen Sinneseindrücken auch noch drüber nachdenken muss: Was wollte ich denn noch mal einkaufen? Wo steht das jetzt im Regal? Und wo sind da Leute um mich rum?"
Man ist von allen möglichen Reizen umgeben, die belasten.
Was das mit den Betroffenen macht, beschreibt Karl Hollerung aus seiner Sicht: "Man ist von allen möglichen Reizen umgeben, die belasten. Mir gelingt es noch einigermaßen, das im Laden selbst zu kompensieren. Bei mir ist es dann häufig so, dass ich zu Hause merke, dass ich jetzt sehr erschöpft bin, mental sehr erschöpft bin, mich erst mal ausruhen muss."
"Stille Stunde": Die Ruhe im Cap-Markt gefällt auch älteren Menschen
15 Uhr im Cap-Markt in Naumburg. Die Musik ist aus, die Kassengeräusche leise, insgesamt ist es auf einmal sehr viel ruhiger, die Gespräche wirken gedämpfter. Der stellvertretende Marktleiter Sven Erler erklärt, dass die "Stille Stunde" (eigentlich zwei Stunden, mittwochs von 15 bis 17 Uhr) zum Konzept der Cap-Märkte gehöre: "Wir drehen unser Marktradio hier runter, wir achten auch darauf, dass wir beim Öffnen der Warenkartons keinen Krach machen, der Ton der Kassen wird runtergefahren, allgemein ist es ein bisschen ruhiger halt." Das Angebot komme an: "Gerade so die Älteren, die finden das sehr gut."
Der Markt bleibt während der "Stillen Stunde" für alle Menschen geöffnet. Einzig ein Schild an der Automatiktür weist auf Besonderheit am Mittwochnachmittag hin. Einkaufen dürfen auch dann alle. Sie sollten sich nur an das Gebot der "Stillen Stunde" halten.
Mehr zur "Stillen Stunde"
Die Idee für die "Stille Stunde" stammt aus Neuseeland von einem Supermarkt-Angestellten mit autistischem Kind. Zu den Basis-Maßnahmen gehören nach Angaben des Vereins "gemeinsam zusammen e.V." möglichst gedimmtes Licht, keine Durchsagen oder Musik, keine lauten (Handy-)Gespräche und keine aktiven Displays. All das für mindestens eine Stunde pro Woche.
Supermarkt in Naumburg bietet als einziger in Sachsen-Anhalt eine "Stille Stunde" an
Für Klaus Renziehausen und Karl Hollerung ist das Angebot eine echte Erleichterung. Die beiden leben seit vielen Jahren mit ihrer Autismus-Diagnose. Sie haben Strategien entwickelt, wie sie den Alltag bewältigen können. Ein Angebot wie in Naumburg wünschen sie sich flächendeckend. In ganz Sachsen-Anhalt gibt es bislang nur diesen einen Markt, der eine "Stille Stunde" anbietet.
Grundsätzlich gebe es im Bereich Autismus noch viel zu tun, sagt Renziehausen, der Mitglied im Landesbehindertenbeirat ist: "Was wir Autisten in Sachsen-Anhalt uns mehr wünschen würden, wären deutlich mehr Angebote in der Diagnostik. Es gibt im Moment innerhalb von Sachsen-Anhalt für Erwachsene leider keine einzige Anlaufstelle. Und auch außerhalb von Sachsen-Anhalt sind die Anlaufstellen bereits schon überlaufen und die Wartezeit sind bereits Jahre." Er selbst habe seine Diagnose im Alter von 24 Jahren erhalten – damals noch in seiner Heimat in Südniedersachsen. Ihm habe es geholfen, zu verstehen, warum er manchmal anders ist als andere.
Klaus Renziehausen leitet Selbsthilfegruppe für Autisten in Halle
Renziehausen leitet und organisiert inzwischen die Selbsthilfegruppe "Starke Autisten" in Halle, die sich jeden dritten Freitag im Monat trifft. Dort hat er auch Karl Hollerung kennengelernt. Die beiden sind befreundet, unternehmen Reisen zusammen und können sich austauschen. Wenn man die beiden beobachtet, fällt auf: Hier fällt nichts auf. Klaus Renziehausen trägt beim Einkauf Kopfhörer, die den Lärm unterdrücken, Karl Hollerung trägt eine Mütze, die die Ohren bedeckt.
So weit, so gewöhnlich. Sie haben einen guten Humor, lachen viel, reden, sind interessiert, antworten auf alle Fragen. Manchmal brauchen sie für einen Satz mehrere Anläufe, aber das kann an diesem Tag auch der außergewöhnlichen Situation mit dem Kamerateam von MDR SACHSEN-ANHALT geschuldet sein. Rollt der Satz erst einmal, fließt es danach.
Autismus ist eine unsichtbare Behinderung
Klaus Renziehausen hat einen Doktor-Titel in theoretischer Chemie. Der 41-Jährige arbeitet in Jena als Softwaretester. Er prüft Computerprogramme, mit denen Abläufe in Arztpraxen verwaltet werden. Karl Hollerung ist 34 Jahre alt, für den 2-Fach-Masterstudiengang Theologie und Judaistik eingeschrieben, arbeitet nebenberuflich als wissenschaftliche Hilfskraft bei der Universitätsmedizin Halle und beginnt im August eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten beim Landesverwaltungsamt.
Sie sehen einem Autisten nicht an, dass er das ist. Dementsprechend ist es so, dass Menschen gegenüber Autisten oftmals keine Rücksicht nehmen [...].
Die beiden Männer sind ein Teil dieser Gesellschaft, unauffällig und freundlich. Genau das aber, dieses Nicht-Sichtbare ihrer Störung, macht es ihnen immer wieder schwer. Renziehausen erklärt: "Das Problem ist, dass Autismus eine sogenannte 'Hidden disability' (Nicht sichtbare Behinderung, Anm. d. Red.) ist. Das heißt, Sie sehen einem Autisten nicht an, dass er das ist. Dementsprechend ist es so, dass Menschen gegenüber Autisten oftmals keine Rücksicht nehmen, die möglicherweise gegenüber Menschen mit anderen Behinderungen sehr wohl Rücksicht nehmen würden, weil sie da die Behinderung ganz offen sehen."
Die gesellschaftliche Lösung ist aus seiner Sicht, dass die Gesellschaft auf Autismus sensibilisiert werde, um hinter einem Verhalten abseits der sozialen Norm vielleicht Autismus zu erkennen. "Das andere wäre aber für Autisten vor allem eine Atmosphäre, wo sie das Gefühl haben, ich kann mich mit dem Autismus in der Gesellschaft outen, dazu selbstbewusst stehen und in einer Situation, wo ich in eine Schwierigkeit komme, das auch offen sagen, ohne dafür befürchten zu müssen, deswegen diskriminiert zu werden."
"Stille Stunde" im Supermarkt bedeutet Inklusion
Ein anderer Teil der Lösung sind Angebote wie die "Stille Stunde" in Naumburg. Inzwischen ist es 16 Uhr. Die beiden Männer haben einen Eindruck gewonnen. Ihnen gefällt, was sie hier erlebt haben, auch wenn an der einen oder anderen Stelle noch etwas getan werden könnte. Karl Hollerung ist aufgefallen, dass die Hintergrundgeräusche noch etwas zu laut seien. Er höre noch die Kasse, Gespräche von Kundinnen und Kunden, aber insgesamt sei es deutlich ruhiger und damit stressärmer.
Ich persönlich empfinde es jetzt als wesentlich ruhiger und es ist wesentlich entspannter, so einzukaufen, weil weniger Sachen auf einen einprasseln.
Klaus Renziehausen würde beispielsweise gedimmtes Licht befürworten. Dennoch: "Ich persönlich empfinde es jetzt als wesentlich ruhiger und es ist wesentlich entspannter, so einzukaufen, weil weniger Sachen auf einen einprasseln." Und er merkt an: "Das ist für mich wiederum ein Beispiel dafür, dass Inklusion nicht nur den behinderten Menschen unmittelbar hilft, sondern es hilft darüber hinaus gehend auch noch allen anderen Menschen. Genauso wie im Endeffekt eine Rampe nicht nur für Rollstuhlfahrer gut ist, sondern auch für Menschen, die gerne mal einen Rollkoffer oder so etwas hochziehen müssen."
Gelebte Inklusion also, Strukturen, die es allen Menschen ermöglichen, unter anderem am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Laut "Aktion Mensch" ist Inklusion, wenn alle mitmachen dürfen. Oder anders ausgedrückt: "Wenn alle Menschen dabei sein können, ist es normal verschieden zu sein."
Wie barrierefrei ist Sachsen-Anhalt? Das wollen MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV mit einem gemeinsamen Projekt herausfinden. Mehr dazu erfahren Sie hier.
MDR (Anja Höhne, Maren Wilczek)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 10. April 2024 | 19:00 Uhr
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