Inklusion Dämmerlicht und Radio-Aus: "Stille Stunde" im Supermarkt Annaberg
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25. Januar 2024, 14:19 Uhr
Für viele ist einkaufen gehen eine lästige Alltagspflicht. Für Autisten kann das eine fast unüberwindliche Herausforderung sein. Die vielen verschiedene Reize überfordern sie oft. Um das Einkaufen für sie angenehmer zu machen, hat ein Supermarkt in Annaberg-Buchholz jetzt eine "Stille Stunde" eingeführt.
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Einkaufen heißt für den 18 Jahre alten Max* vor allem eines: Stress. "Die Musik übertönt alles. Und dann auch noch Unterhaltungen von Menschen. Das ist mir zu laut", erzählt er. Max ist Autist und vor allem Geräusche stören ihn sehr. Um trotzdem einkaufen gehen zu können, hatte er bislang seine eigenen Kopfhörer und entspannende Musik dabei. Damit könne er sich besser konzentrieren. "Trotzdem ist für mich alles sehr hektisch und ich vergesse viel, was ich eigentlich kaufen wollte", sagt er.
Um Menschen wie Max das Einkaufen zu erleichtern, hat der Edeka Gläßer in Annaberg-Buchholz in Kooperation mit dem Autismuszentrums Chemnitz eine sogenannte "Stille Stunde" eingeführt. Jeden Mittwoch von 15 bis 17 Uhr dimmt der Supermarkt Reize herunter.
Gedämpftes Licht und Stille
"Das Licht ist gedimmt. Es werden sämtliche Geräusche reduziert", erklärt die Marktleiterin Simone Gläßer. Nur jede dritte Lampe sei dann noch eingeschaltet und das Radio samt Werbejingles verstummt. "Außerdem piepsen die Scannerkassen nicht und die Mitarbeiter führen nur die notwendigsten Arbeiten aus", so Gläßer. Insgesamt herrsche dadurch eine ruhigere Atmosphäre. Um alle Kunden zu informieren, gibt es kurz vorher immer eine kurze Durchsage.
In den zwei Stunden arbeiten mehr Mitarbeiter im Supermarkt. "Dadurch, dass die Kassen nicht piepsen, müssen die Mitarbeiter genauer hinschauen und es dauert auch etwas länger", erklärt Gläßer. Deswegen werden alle Kassen besetzt. Außerdem ist auch der Leergutautomat außer Betrieb. Stattdessen nimmt ein Mitarbeiter das Leergut persönlich entgegen. "Das liegt daran, dass die Notrufknöpfe an der gleichen Leitung wie das Radio hängen", sagt Gläßer. Es könne also nicht bei einem Problem geklingelt werden, wenn das Radio ausgeschaltet ist.
Positive Resonanz der Kunden
Bereits seit Juni 2023 läuft das Projekt. Bislang werde es von den Kunden sehr gut angenommen. Auch viele Menschen ohne Beeinträchtigungen sagen der Betreiberin, dass sie das Einkaufen in der "Stillen Stunde" sehr angenehm fänden. Auch die Mitarbeiter würden sich inzwischen auf diese Zeit freuen. "Sie empfinden diese zwei Stunden als sehr erholsam." Zwei Mitarbeiterinnen an den Kassen bestätigen, dass die Pause von der Dauerbeschallung des Radios guttue.
Auch die Außenstelle Annaberg-Buchholz des Autismuszentrums Chemnitz bekommt viel positives Feedback. "Für viele unserer Klienten wird das Einkaufen erst durch die 'Stille Stunde' überhaupt möglich", erzählt Elisa Siegel, die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Auch für wahrnehmungssensible Menschen und Menschen mit psychischen Erkrankungen sei die ruhige Atmosphäre beim Einkaufen entspannend. "Für mich ist es ein Herzensanliegen, Inklusion lebbar zu machen", sagt Siegel.
Mir gefällt besonders, dass die Kassen nicht piepsen. Das war sehr störend.
Weitere Supermärkte für "Stille Stunde" gesucht
Sie hofft, dass sich zukünftig noch mehr Supermärkte dem Projekt anschließen. "Wir haben schon viele Märkte angesprochen, aber keine Rückmeldung bekommen", so Siegel. Angeregt vom Erleben der "Stillen Stunde" im Edeka habe aber ein Fitnessstudiobetreiber in Annaberg das "Stille Training" in seinem Studio eingeführt. Außerdem gebe es sogenannte "Relaxed Performances" vom Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz und eine "Stille Stunde" im Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz (Smac). "Wir suchen weitere Institutionen, mit denen wir ein Konzept erarbeiten können", so Gläser.
Max hat es sich inzwischen angewöhnt, seine Einkäufe mittwochs in der "Stillen Stunde" zu erledigen. "Es ist viel entspannter und ich kann in Ruhe alles aussuchen", sagt er. Besonders gefällt ihm, dass auch die Kassen nicht piepsen. "Das war sehr störend." Er ist sich sicher, dass das Projekt vielen Menschen Entlastung bietet, ob Autisten oder nicht.
*Name redaktionell geändert
Fakten über Autismus
- Autismus ist eine tiefgreifende neurologische Entwicklungsstörung, die angeboren ist. Die genauen Ursachen für Autismus sind noch nicht gänzlich erforscht.
- Autismus ist eine Spektrum-Störung. Das bedeutet, dass Betroffene viele unterschiedliche und verschieden starke Symptome aufweisen können.
- Zahlen über die Häufigkeit von Autismus in Deutschland liegen nicht vor. Derzeit wird laut dem Umweltbundesamt eine weltweite Prävalenz (Krankheits-Häufigkeit) von 0,6 - 1 Prozent angenommen.
- Bei Jungen tritt Autismus viermal häufiger auf als bei Mädchen.
Quelle: Hamburger Autismus-Institut
MDR (ali)