Schläge und Beleidigungen Gewalt gegen Einsatzkräfte: "Der Rettungsdienst ist ein Ventil für den Frust"
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29. Juli 2024, 11:44 Uhr
Wenn Helfer bedroht werden, sorgt das immer wieder für Aufregung. Ein Beispiel ist der Angriff auf einen Notarzt kurz vor Weihnachten 2022 in Wernigerode. MDR SACHSEN-ANHALT hat seinerzeit darüber berichtet. Wie hat sich die Situation in Sachsen-Anhalt seither entwickelt? Steigt die Zahl der Rettungskräfte weiterhin? Und was wird unternommen, um Einsatzkräfte zu schützen?
- "Der Rettungsdienst fungiert als Frust-Ventil", sagt Sven Siebert, Leiter der Rettungswache der Johanniter in Naumburg, über Gewalt gegen Rettungskräfte.
- Das Bundesjustizministerium will das Strafrecht verschärfen, um Einsatz- und Rettungskräfte besser vor Anfeindungen und Gewalt zu schützen.
- Wie sollten sich Rettungskräfte in kritischen Situationen verhalten? Die Landesrettungsschule in Halle setzt auf Deeskalationstraining.
Der Pieper ertönt. Ein Notruf geht ein in der Rettungswache der Johanniter in Naumburg. Sven Siebert und seine Kollegin gehen schnellen Schrittes zum Einsatzwagen. Ein eingespieltes Team. Wenige Sekunden später sitzen beide im Rettungswagen. Blaulicht und Martinshorn werden eingeschaltet, während das Fahrzeug sich bereits in Bewegung setzt. Das Alarm-Signal ist ohrenbetäubend.
Beleidigungen, Faustschläge, Messerangriffe
"Angst fährt nicht mit", sagt der Leiter der Rettungswache, Sven Siebert. "Aber Respekt, vor dem, was einen erwartet und vor dem, wie sich Patienten verhalten." Er stellt fest: Die Gewalt gegenüber Rettungssanitätern habe in den vergangenen Jahren zugenommen, während die Wertschätzung für ihre Arbeit weniger werde. Der 58-Jährige hatte bisher Glück. Aber er kennt Kollegen, die im Einsatz angegriffen wurden. "Das fängt an", erzählt Siebert, "mit Faustschlägen in den Bauchraum, mit Angreifern, die mit einem Messer vor einem stehen und endet schließlich in alltäglichen verbalen Angriffen, Beleidigungen. Das komplette Repertoire."
Das fängt an mit Faustschlägen in den Bauchraum, mit Angreifern, die mit einem Messer vor einem stehen und endet schließlich in alltäglichen verbalen Angriffen, Beleidigungen. Das komplette Repertoire.
Ursachen für Gewalt gegen Rettungskräfte sind unterschiedlich
Die Gründe für Übergriffe sind verschieden: Drogen- oder Alkoholsucht. Psychische Erkrankungen, aber auch Demenz. Und dann kommt noch ein neuer Faktor hinzu: "Wir haben es zunehmend mit Menschen zu tun, die einfach mit sich selbst beziehungsweise mit der Gesellschaft, mit dem Staat nicht zufrieden sind. Diese Menschen sehen den Rettungsdienst als Organ des Staates. Sie lassen an uns ihren Unmut aus, obwohl der Rettungsdienst nichts mit den Staat zu tun hat."
Der Rettungsdienst fungiere als Frust-Ventil, so Sven Siebert.
Wie ist die aktuelle Situation?
Seit Jahren nimmt bundesweit die Zahl der Gewalttaten auf Rettungskräfte zu. Wie sieht die Situation in Sachsen-Anhalt aus? Aktuelle Zahlen des Landeskriminalamts zeigen: Die Zahl der Angriffe auf Rettungsdienste und Feuerwehren ist zwar noch hoch – im vergangenen Jahr ist sie aber leicht gesunken – auf 121. Und auch für das erste Halbjahr 2024 hält der rückläufige Trend an, zeigt die Recherche von MDR SACHSEN-ANHALT.
Bundesjustizministerium will Strafrecht verschärfen
Das Bundesjustizministerium will das Strafrecht verschärfen, um Einsatz- und Rettungskräfte besser vor Anfeindungen und Gewalt zu schützen. Im Juli wurde ein Referentenentwurf veröffentlicht und an Länder und Verbände übermittelt. Diese können bis zum 2. August dazu Stellung nehmen. Dann wird aus dem Entwurf ein Regierungsentwurf erarbeitet, der im Bundeskabinett beraten wird. Der Entwurf sieht unter anderem bei besonders schweren Taten eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten bis maximal fünf Jahren vor.
Der Leiter der Rettungswache Naumburg, Sven Siebert, findet den Entwurf grundsätzlich gut, aber: "Wenn Gesetze verschärft werden, dann muss auch konsequent kontrolliert und geahndet werden. Aber dazu fehlt Personal." Hinzu komme, dass die Dunkelziffer sehr hoch sei. Viele Rettungssanitäter würden Vorfälle gar nicht anzeigen, weil sie sie zum Teil verdrängen, also mit sich allein ausmachen.
Wie sollten sich Rettungskräfte in kritischen Situationen verhalten?
Wenn es riskant wird – wie sollen sich die Helfer verhalten? Genau darauf werden zukünftige Rettungs- und Notfallsanitäter in Halle in der Landesrettungsschule vorbereitet. Dafür wurde sogar eine eigene Übungswohnung im Keller eingerichtet. Es gibt ein nachgebautes Bad, einen Wohnraum mit Schränken und einer Sofagruppe. Leere Bierflaschen stehen auf dem Tisch. Im Schlafraum liegt in einem Schulungsbett eine lebensgroße Puppe.
Andreas Krebs, der Leiter der Rettungsschule, sagt: "Das A und O ist die Prävention. Wir schulen die Auszubildenden von Beginn an. Schwerpunkt: Wie erkenne ich Konfliktpotential? Wie kann ich eine riskante Situation vermeiden?"
Für die Ausbildung gibt es einen speziellen Deeskalationstrainer. Ken Oesterreich ist einer der ersten in Deutschland, der sich mit dem Thema "Gewalt gegen Einsatzkräfte" befasst hat. Seit 20 Jahren entwickelt er spezielle Verhaltens-Strategien. Dabei verzichtet Ken Oesterreich bewusst auf Rollenspiele.
Praktische Tipps für die Einsatzkräfte
"Wir arbeiten nicht mit erdachten und fiktiven Fallbeispielen, sondern ausschließlich mit Dingen, die anderen Kollegen im nationalen oder internationalen Kontext leider schon passiert sind."
Im Training mit den angehenden Sanitätern gibt er viele praktische Hinweise wie zum Beispiel: "Schaut immer zuerst auf die Hände. Sie zeigen den Grad der Erregtheit. Auf ruckartige Bewegungen achten, denn schnell ist mal ein Messer aus der Hosentasche gezogen."
Der Ratschlag von Ken Oesterreich: "In einer brenzligen Situation, lieber mal einen Schritt zurückgehen, um es nicht eskalieren zu lassen!"
MDR (Beatrix Heykeroth)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 28. Juli 2024 | 19:00 Uhr
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