Dachdecker Mucha Oranienbaum
Maurice Mucha will den Dachdeckerbetrieb seines Vaters übernehmen. Bildrechte: MDR/Anja Höhne

Ohne Groll und Enttäuschung Einer, der bleibt: Warum ein 21-Jähriger Oranienbaum nicht verlässt

11. November 2024, 10:24 Uhr

Am 9. November 1989, vor 35 Jahren, ist die Mauer gefallen. Nicht ganz ein Jahr später erfüllte sich für viele Menschen ein Traum, den sie kaum zu träumen gewagt hatten: Deutschland wurde vereinigt. Heute leben wir in einer Realität, in der sich die Frage immer wieder aufdrängt, wie weit wir sind. Sind wir ein vereinigtes Deutschland?

"Ich würde immer eher sagen, wenn ich mich beschreibe, dass ich ein typisches Dorfkind, Handwerker bin. Ich würde eher drauf verzichten, zu sagen, ich bin ein Ossi", sagt Maurice Mucha, 21 Jahre alt. Die DDR, die Friedliche Revolution, die Wendezeit kennt er nur aus Erzählungen und aus dem Geschichtsunterricht.

Seine Heimat ist seit 21 Jahren Oranienbaum-Wörlitz im Landkreis Wittenberg. Ein Ort mit gut 8.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, mit dem Wörlitzer Park, dem Gartenreich Dessau-Wörlitz, das seit dem Jahr 2000 zum UNESCO-Welterbe gehört. Maurice ist leidenschaftlicher Schrauber, Enduro und Motocross sind sein Hobby. Er hat sich eingerichtet in seiner Heimat.

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Arbeiten im Familienbetrieb

Maurice kann sich nicht vorstellen, jemals hier wegzugehen: "Ich könnte mir auch keinen besseren Ort zum Leben vorstellen." Das hat auch berufliche Gründe, denn der 21-Jährige wird Ende dieses Jahres seine Dachdeckermeister-Ausbildung beendet haben. Er arbeitet im Betrieb seines Vaters, Dirk Mucha. Der hat die Firma, die sein Vater 1977 als Klempnerbetrieb gegründet hatte, übernommen.

Irgendwann will Maurice den Betrieb übernehmen. Momentan ist ihm die Verantwortung noch zu groß. Ihm ist mehr als bewusst, was es heißt, für acht Angestellte verantwortlich zu sein, die ihre Familien ernähren wollen.

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Lohnunterschiede als Abwanderungsgrund

Der Blick in die Zukunft lässt den angehenden Dachdeckermeister nachdenklich werden: "Die größte Herausforderung an sich ist eigentlich, Leute zu finden. Das ist am schwierigsten, weil es nicht mehr genügend Fachkräfte gibt, nicht mehr genug Auszubildende." Einer der Gründe dafür ist nach seiner Ansicht die ungleiche Entlohnung in Ost und West. Die Preise würden immer weiter steigen, aber an den Löhnen tue sich nichts. Handwerker würden gern besser bezahlt werden, um ihr Leben zu bestreiten. Für deren höhere Preise fehle dann aber oftmals das Verständnis. "Und wenn das Verständnis da ist, dann sind halt die finanziellen Mittel nicht da", meint Maurice.

Schon jetzt beobachtet Maurice diese Entwicklung. Er hat kein Verständnis, findet es ungerecht, wenn die Freunde an seiner Meisterschule, die aus dem Westen kommen, bis zu zehn Euro mehr pro Stunde verdienten. Das seien Sachen, die hier im Osten solchen Unmut schürten und Unzufriedenheit mit der Regierung. "Das ist auch einer der Gründe, warum viele Leute aus dem Osten – viele junge Leute aus dem Osten – abhauen."

Vorurteile sind nicht weg

Das Gefühl von Abwertung kennt Maurice auch an anderer Stelle. "Wenn man in den Westen fährt, ist das schon manchmal ein bisschen ein komisches Gefühl, weil man ist jemand anderes. Das merkt man ja auch. Ich spreche anders, ich habe sicherlich auch eine andere Körpersprache, einen anderen Dialekt. Das fällt halt den anderen sofort auf."

Er sagt, man würde dann komisch angeguckt, direkt kategorisiert werden. Er selbst würde nicht verallgemeinern, nicht behaupten, alle "Wessis" seien gleich. Unterschiede gebe es eher regional, zwischen den Bundesländern. Er kenne aber auch Menschen, die Vorurteile gegen Menschen aus Westdeutschland haben. Es seien eher ältere Leute im dörflichen Umfeld.

Freundinnen und Freunde in seinem Alter dagegen würden darüber weniger nachdenken. Aus Maurice‘ Sicht machen junge Leute weniger schlechte Erfahrungen mit Vorurteilen gegenüber Menschen aus dem Osten. Und er vermutet, dass viel von dem, was davon noch im Umlauf ist, von der Vorwende-Generation kommt. Die gebe ihre Erfahrungen, ihr Wissen, ihre Eindrücke weiter.

Stolz auf die eigene Wendegeschichte

Auch Maurice‘ Eltern haben ihre Geschichte mit ihrem Sohn geteilt. Vater Dirk Mucha wurde 1966 geboren, war 20, als die Mauer fiel, so alt wie sein Sohn jetzt. Er war damals bei der Armee, hat seinen Grenzdienst abgeleistet, sagt er. "Ich habe den Wahnsinn von der anderen Seite gesehen und hätte nie für möglich gehalten, dass die Wende so stattfinden könnte, so friedlich."

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Dirk Mucha war 20, als die Mauer fiel. Bildrechte: MDR/Anja Höhne

Nicht ohne Stolz erinnert er sich daran, dass auch er in Dessau auf der Straße war, demonstriert hat und damit, wie er sagt, an der Friedlichen Revolution mitgewirkt hat. Die Wende war aus seiner Sicht die beste Sache, die passiert ist. Dabei beeindruckt ihn vor allem die Art und Weise. Auch im europäischen Ausland, sogar in Australien, wo er im Urlaub war, hätten Menschen ihm gegenüber deshalb immer wieder ihre Bewunderung ausgedrückt. Dirk Mucha kann sich nicht daran erinnern, jemals schlechte Erfahrungen aufgrund seiner ostdeutschen Herkunft gemacht zu haben.

Sohn mit klaren Vorstellungen

Maurice hat seinen Weg schon früh erkannt und dann extrem fokussiert verfolgt. Nach dem Kindergarten, als er noch davon geträumt hatte, Feuerwehrmann zu werden, hat festgestanden, dass er Handwerker werden wollte. Anfang dieses Jahres ist er von der Handwerkskammer und vom Handwerkstag als einer der besten Nachwuchshandwerker Sachsen-Anhalts ausgezeichnet worden.

Vater-Sohn-Zusammenarbeit

Die Arbeit mit den Händen und die Zusammenarbeit mit seinem Vater hätten ihn gereizt. Das sei nicht immer einfach, aber sie würden sich auch ergänzen. Er selbst komme frisch aus der Schule, sei in vielen Dingen auf dem neuesten Stand, aber ihm fehle die Erfahrung, wie es auf der Baustelle laufe. Das wiederum wisse sein Vater.

Maurice Zukunft scheint festgelegt. Er hat eine Freundin, mit der er zusammen in Oranienbaum-Wörlitz wohnt. Er sagt, er sei schließlich 21, da müsse man wissen, was man wolle. Das zumindest sieht er für sich persönlich so. Für seine Freundinnen und Freunde gelte das nicht. "Ich würde sagen, man soll da bleiben, wo man sich am wohlsten fühlt. Und man soll auch ruhig mal Sachen ausprobieren."

Osten braucht "attraktive Angebote"

Maurice‘ Pläne lassen dieses Ausprobieren nicht zu. Er könne nicht einfach seine Tasche packen, die Firma dort mit reinstecken und irgendwo anders seine Zelte aufschlagen. Er wolle das auch nicht, aber er wünscht sich etwas für seine Heimat. Dem Osten fehle es an attraktiven Angeboten für junge Leute. "Man muss versuchen, größere Firmen hier anzusiedeln. Man muss wieder mehr Einkaufsmöglichkeiten schaffen, mehr Bars, mehr Kneipen, wo man dann abends mal hingehen kann. Das ist hier alles extrem mau und da muss man dann eben dran arbeiten, dass das wieder mehr wird. Das funktioniert dann nur Schritt für Schritt."

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Optimisten mit realistischem Blick

Der 21-Jährige ist jung genug, um zu ahnen, was junge Leute brauchen, um eine Ausbildung im Osten der Republik zu beginnen. Das ist etwas, was auch sein Vater an ihm schätzt. Dirk Mucha erhofft sich von seinem Sohn, dass der frischen Wind ins Unternehmen bringt und noch mehr junge Menschen anzieht.

Das Vater-Sohn-Gespann lebt inmitten des vereinigten Deutschlands, wirkt dabei vorsichtig optimistisch und vor allem realistisch. Die Wende hat ihnen das Leben ermöglicht, das sie führen. Groll oder Enttäuschung scheinen ihnen – zumindest bezogen auf die Mitmenschen im Westen Deutschlands – fremd.

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MDR (Anja Höhne, Moritz Arand) | Erstmals veröffentlicht am 9.11.2024

Dieses Thema im Programm: MDR um 2 | 02. Oktober 2024 | 14:00 Uhr

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