Folgen der Pandemie Haustier-Boom wegen Corona: Tierheime am Limit

13. Januar 2022, 20:12 Uhr

Hund, Katze oder Kaninchen: Während der Corona-Pandemie haben sich viele Menschen in Sachsen-Anhalt ein Haustier angeschafft. Doch oft war die Freude nur von kurzer Dauer. Nun sind die Tierheime im Land voll – und leiden zudem unter Finanz- und Personalproblemen.

Der neueste Zuwachs im Dessauer Tierheim ist erst seit einem Tag da: ein kleines, schwarz-weißes Kaninchen, das in der klirrenden Januarkälte ausgesetzt wurde. "Der wurde in einer Kiste vor einem Dessauer Einkaufszentrum gefunden", sagt Tierheimleiterin Ute Rieche und setzt das Kaninchen zurück in seine Box.

Vor dem Zimmer, in dem das Kaninchen nun vorerst eine Bleibe gefunden hat, stehen Europaletten, auf denen sich Säcke voller Katzenstreu stapeln. Jeder Winkel im Dessauer Tierheim wird derzeit als Lagerfläche oder Gehege genutzt. Selbst dort, wo Ute Rieche normalerweise am Schreibtisch setzt, läuft jetzt ein Hund umher. Die Mitarbeitenden müssen sich derzeit um so viele Tiere kümmern wie wahrscheinlich noch nie.

Volles Haus im Dessauer Tierheim

Rund 130 Vierbeiner sind momentan im Dessauer Tierheim untergebracht, darunter verschiedene Kleintiere, 16 Hunde – und etwa 100 Katzen. Trotz der hohen Auslastung sollen die Tiere nicht zu bloßen Nummern werden. Ute Rieche kennt von fast allen die Vorgeschichte auswendig, und auch anonym ausgesetzte Neuankömmlinge bekommen von den Mitarbeitenden des Tierheims einen Namen. Das schwarz-weiße Kaninchen heißt deshalb jetzt Lenny.

Was Ute Riechert und ihre Kolleginnen und Kollegen spüren, sind die Folgen des durch die Corona-Pandemie ausgelösten Haustier-Booms. Homeoffice, Kurzarbeit und eingeschränkte Reisemöglichkeiten führten gerade zu Beginn der Pandemie zu einem wahren Run auf Hunde, Katzen und Kleintiere. Allein von Ende 2019 bis Ende 2020 stieg die Zahl der in Sachsen-Anhalt registrierten Hunde um mehr als zehn Prozent – von 131.000 auf knapp 145.000.

Für Katzen und Kleintiere werden keine offiziellen Zahlen erfasst, doch Experten gehen auch hier von einem deutlichen Anstieg aus. Zunächst profitierten die Tierheime sogar von diesem Boom. "Wir haben am Anfang der Corona-Zeit gemerkt, dass sehr viele Tiere aus den Tierheimen geholt worden sind", sagt Rudolf Giersch, der Vorstandsvorsitzende des Landesverbandes Sachsen-Anhalt im Deutschen Tierschutzbund.

Unterschätzer Aufwand

In Dessau seien im Frühjahr 2020 vor allem Katzen und Kleintiere wie Kaninchen und Meerschweinchen beliebt gewesen, sagt Ute Rieche. "Wenn man viel zu Hause ist, denkt man natürlich, man hat viel Zeit, sich um die Tiere zu kümmern. Wenn man dann aber wieder normal arbeiten muss, wird es schwieriger", sagt sie. Viele Menschen hätten den Zeitaufwand und die Kosten, die mit Haustieren verbunden sind, unterschätzt.

Die Folge: Nicht wenige bringen ihre Tiere ins Heim oder setzen sie einfach aus, um sich die Abgabegebühr im Tierheim zu sparen. Diesen unerfreulichen Trend beobachtet Ute Rieche in letzter Zeit verstärkt: "Wir hatten schon Fälle, bei denen Tiere direkt hier vor dem Heim ausgesetzt wurden und wir nur noch das davonrasende Auto gesehen haben."

Mehr Tiere, als eigentlich erlaubt sind

Inzwischen hätten alle Tierheime in Sachsen-Anhalt mehr Tiere, als ihnen laut Betriebserlaubnis eigentlich gestattet sei, sagt Rudolf Giersch vom Tierschutzbund. "Wir stecken in einer sehr schwierigen Situation", so Giersch. Es gebe landesweit eine regelrechte Katzenschwemme, die die Tierheime an ihre Grenzen bringe. Der Grund: Viele Katzenbesitzer hätten ihre Vierbeiner ausgesetzt, sodass diese sich nun unkontrolliert vermehren würden.

"Selbst die Leute, die seit 30 Jahren dabei sind, haben etwas Vergleichbares noch nicht erlebt", sagt Giersch. Mancherorts gibt es bereits Aufnahmestopps, doch diese seien keine Lösung des Problems. "Wir wollen den Tieren ja helfen", sagt Giersch.

Weniger Spenden, weniger Freiwillige

Erschwerend hinzu komme die prekäre finanzielle und personelle Situation der Tierheime, ergänzt Giersch. Das Spendenaufkommen sei seit Beginn der Pandemie deutlich zurückgegangen – auch, weil es keine Möglichkeiten für Veranstaltungen gegeben habe. Vom Bund habe es lediglich eine einmalige Corona-Hilfe für Tierheime gegeben, die bei Weitem nicht ausreiche, um die Spendenausfälle und die höhere Zahl der zu betreuenden Tiere auszugleichen.

Das Tierheim in Zerbst musste bereits schließen. Giersch befürchtet, dass weitere folgen könnten – zumal es zunehmend an Personal fehlt: Seit Ausbruch der Pandemie kämen immer weniger freiwillige Helfer und Bundesfreiwilligendienstleistende in die Tierheime, sagt er.

Auf der Suche nach einem neuen Zuhause für die Tiere

In Dessau arbeitet Ute Rieche derweil daran, für Lenny und möglichst viele andere Tiere bald ein neues Zuhause zu finden. Denn die nächste Welle an Neuankömmlingen steht bereits vor der Tür: "Im Frühjahr beginnt traditionell die Zeit, in der bei uns viele Katzenbabys abgegeben werden", sagt die Tierheimleiterin. Um ihre Tiere zu vermitteln, will sie künftig neben der Lokalpresse und der Website des Tierheims verstärkt auf soziale Medien setzen.

Einfach so könne sich aber niemand ein Tier abholen, sagt Rieche. Zuvor müsse man herausfinden, ob Mensch und Vierbeiner überhaupt zueinander passen. Und wer noch nie ein vergleichbares Tier besessen habe, bekomme erstmal eine umfangreiche Beratung – damit die künftige Beziehung hoffentlich eine langfristige wird.

Über den Autor Lucas Riemer arbeitet seit Juni 2021 bei MDR SACHSEN-ANHALT. Der gebürtige Wittenberger hat Medien- und Kommunikationswissenschaft in Ilmenau sowie Journalismus in Mainz studiert und anschließend mehrere Jahre als Redakteur in Hamburg gearbeitet, unter anderem für das Magazin GEOlino.

Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er vor allem über kleine und große Geschichten aus den Regionen des Landes.

MDR (Lucas Riemer)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 13. Januar 2022 | 18:00 Uhr

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