Krieg gegen die Ukraine Warum Leerstand in Zerbst nicht für Geflüchtete genutzt werden kann

30. Oktober 2022, 17:54 Uhr

Der Landkreis Anhalt-Bitterfeld hat bisher fast so viele Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht wie laut Verteilungsschlüssel vorgesehen. In Zerbst leben derzeit mehr als 350 geflüchtete Menschen aus der Ukraine. In der Stadt steht viel leer. Eigentlich also gute Voraussetzungen, um geflüchtete Menschen abseits von Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen. Nur: Die Wohnungen können nicht bereitgestellt werden. Die Herrichtung ist zu teuer und Handwerkerinnen und Handwerker fehlen.

Julia Heundorf
Bildrechte: MDR/Kevin Poweska

In der Brüderstraße in Zerbst steht im Erdgeschoss eines gepflegten, weißen Mehrfamilienhauses eine Zweizimmerwohnung leer. Die Wohnung ist frisch saniert.

Vom Flur gehen ein Bad mit Wanne, Waschbecken und Toilette, ein Küchenraum mit Fliesenwand und Anschlüssen sowie ein helles Zimmer ab, von dem man in ein weiteres Zimmer kommt. Am Nachmittag kommt durch die großen Fenster viel Tageslicht in die Wohnräume.

Es ist die einzige Wohnung, die die Zerbster Bau- und Wohnungsgesellschaft (BWZ) derzeit noch zur Verfügung hat, wenn neue Geflüchtete in der Stadt ankommen.

Dass die Zahl geflüchteter Menschen, die nach Deutschland und Sachsen-Anhalt kommen, wieder wächst – nicht nur aus der Ukraine –, das war zuletzt immer wieder thematisiert worden. Von "Kommunen am Limit" war die Rede, davon, dass es keinen Platz mehr gebe.

Recherchen von MDR SACHSEN-ANHALT zeigen jetzt: Pauschalisieren lässt sich das nicht. Die Lage in Sachsen-Anhalt ist unterschiedlich – die Probleme ebenso.

Wenn mehrere Krisen aufeinandertreffen

Die neue Herausforderung bei der Ankunft vieler Menschen aus der Ukraine ist dass die Unterbringung von Asylsuchenden noch durch mindestens zwei weitere Krisen überlagert wird, darunter die zunehmende Inflation und stockende Lieferketten. Das sagt Andreas Dittmann (SPD), der Bürgermeister von Zerbst. Bei ihm in der Kommune gibt es zwar leerstehende Wohnungen, in denen Menschen unterkommen könnten, aber es fehlen Material sowie Handwerkerinnen und Handwerker zur Herrichtung.

Das zweite Problem ist laut Dittmann die Corona-Pandemie: "Auch hier dürfen wir ja nicht ganz außer Acht lassen, dass wir immer noch unter einer Corona-Pandemie leiden." Man könne Wohnraum deshalb nicht übermäßig voll machen.

Warum Zerbst keine Flüchtlingsunterkunft will

Portrait eines älteren Mannes mit Brille im Anzug
Andreas Dittmann ist Bürgermeister in Zerbst und Vorsitzender des Städte- und Gemeindebunds Sachsen-Anhalt. Bildrechte: MDR/Julia Heundorf

Gemeinschaftsunterkünfte lehnt der Bürgermeister trotzdem ab: Der Stadt ist es aber vor allem wichtig, dass Geflüchtete dezentral unterkommen und dass es "eine soziale und ethnische und religiöse Durchmischung" gibt.

Er sagt: "Wir haben uns in Zerbst von Anfang an an eine dezentrale Unterbringung orientiert. Auch als es in der 2015-Hochphase Bestrebungen des Landkreises gab, in Zerbst eine Gemeinschaftsunterkunft zu schaffen, haben wir mit Verweis auf leerstehende Wohnung den anderen Weg beschritten."

Damals war die Situation offenbar insofern leichter, weil nicht mehrere Krisen auf einmal bewältigt werden mussten.

In Zerbst wohnen nach Angaben des Statistischen Landesamtes etwas mehr als 21.000 Menschen. In der Stadt sind laut Dittmann 352 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine registriert. Im ganzen Kreis Anhalt-Bitterfeld sind seit Februar etwa 2.000 Ukrainerinnen und Ukrainer eingetroffen.

Weshalb Leerstand vorerst leer bleibt

2015 hatte die Zerbster Bau- und Wohnungsgesellschaft 17 Wohnungen an den Landkreis und Dritte vermietet, um Flüchtlinge unterzubringen.

Nun sind 25 Wohnungen der BWZ auch zur Unterbringung ukrainischer Kriegsflüchtlinge vermietet. Doch nur eine einzige Wohnung ist derzeit noch kurzfristig verfügbar. Weitere bereitzustellen, würde mehrere Wochen dauern – und zu viel kosten.

Im Vergleich zum Vorjahr kostet es laut Geschäftsführerin in diesem Jahr 50 Prozent mehr als vergangenes Jahr, Wohnraum herzurichten. Matthias Pelka von der BWZ sagt: "Die Bevölkerung wird älter. Es kommen nicht so viel junge Leute nach, wie man vielleicht bräuchte." Demnach verschwinden in Zerbst immer mehr Handwerksbetriebe."

Was passiert, wenn Wohnraum knapp wird

Kurzfristig kann Zerbst deshalb keinen weiteren Wohnraum zur Verfügung stellen. Drei bis vier Wochen müssten für eine einzelne Renovierung eingeplant werden. Aber was, wenn nun weitere Menschen untergebracht werden müssen?

Die schlechteste Lösung ist laut Andreas Dittmann immer die Unterbringung in Turnhallen, wie es in anderen Orten, zum Beispiel Halle, gehandhabt werden musste. In Magdeburg hatten zahlreiche Menschen in den Messehallen zusammen gelebt.

Dort, wo zu viele Menschen ankommen, ist nicht nur die Unterbringung ein Problem, sagt Dittmann. Auch die Kita-Betreuung und der Schulbesuch seien für sehr viele Menschen nicht einfach zu organisieren. Die Stadt habe in der Vergangenheit mit der Diakonie vor Ort zusammengearbeitet, um Betreuung für Eltern aus der Ukraine zu besorgen, die Sprachkurse belegten.

Warum eine Wohnsitzauflage nicht ihren Zweck erfüllt

Mitte September kündigte das Landesinnenministerium zudem an, dass Landkreise und Städte, die bisher weniger Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hatte als der Verteilungsschlüssel vorgibt, sogenannte Wohnsitzauflagen aussprechen könnten, sodass neu ankommende Menschen verpflichtet würden, ihren Wohnsitz in dem Kreis zu nehmen. Eine solche Auflage hatten etwa der Altmarkkreis Salzwedel und der Landkreis Harz ausgesprochen.

Andreas Dittmann, der auch der Präsident des Städte- und Gemeindebunds in Sachsen-Anhalt ist, hält nicht viel von der Auflage. Sie stehe und falle mit der Umsetzung, sagt er. Es gebe keine Kontrolle oder Sanktionen für den Fall, dass die Auflage nicht eingehalten werden: "Es geht ja nicht darum, die Menschen zu bevormunden, sondern dass wir eine Verteilgerechtigkeit im Land und unserer Bundesrepublik bekommen." Da sich Menschen aber trotzdem bewegen würden, sei das Instrument nicht zielführend.

Warum Menschen aus der Ukraine in Zerbst bleiben

Besonders gefragt sind die Oberzentren, die Städte: Sowohl Magdeburg als auch Halle haben deutlich mehr Geflüchtete aufgenommen als ihnen gemäß Verteilungsschlüssel zugeteilt würden.

In Zerbst haben Dittmann zufolge schon vor dem Krieg viele Ukrainerinnen und Ukrainer gelebt, die etwa als Fachkräfte, zum Beispiel in der Lebensmittelindustrie, kamen, aber auch durch Bekannte.

Das sei ein wesentliches Argument für Menschen aus der Ukraine, nach Zerbst zu kommen, und dort zu bleiben. "Das sind natürlich Andockstellen", so der Bürgermeister, "und das würde wir uns ja genauso gehen. Wenn wir gezwungen wären, unser Land zu verlassen, würden wir ja auch umhorchen. Wo ist denn jemand, den wir kennen?"

Hinweis der Redaktion: Die Interviews für diesen Artikel sind bereits vor dem Anschlag auf eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Bautzen geführt worden.

MDR (Tanja Ries, Julia Heundorf)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 30. Oktober 2022 | 19:00 Uhr

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