Interview "Ich bin überzeugt, dass Menschen mit Behinderung den Arbeitsmarkt bereichern"
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18. April 2023, 19:04 Uhr
Sachsen-Anhalt liegt bei der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen bundesweit auf dem letzten Platz. Der Landesbehindertenbeauftragte Christian Walbrach fordert mehr Anreize und einen Sinneswandel bei Unternehmen, damit mehr Menschen mit Behinderung eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt erhalten.
MDR SACHSEN-ANHALT: Herr Walbrach, in Sachsen-Anhalt sind nur 3,3 Prozent der Arbeitsplätze in Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden mit schwerbehinderten Menschen besetzt, so wenige wie in keinem anderen Bundesland. Wie blicken Sie als Landesbehindertenbeauftragter auf diese Statistik?
Christian Walbrach: Die Zahlen sind ernüchternd. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Beschäftigungsquote sogar um 0,1 Prozent gesunken. Diese Entwicklung kann uns auf keinen Fall zufriedenstellen. Wir sind seit rund zehn Jahren bundesweit das Schlusslicht. Damit kann man natürlich in keiner Weise zufrieden sein. Das ist nicht zu rechtfertigen, denn auch andere Länder haben demografische Verwerfungen. Wir müssen uns der Situation stellen und müssen uns fragen, warum wir von dieser Quote nicht wegkommen.
Zur Person: Christian Walbrach
Christian Walbrach ist seit 2019 Behindertenbeauftragter des Landes Sachsen-Anhalt. Zuvor war der promovierte Förderschullehrer als Leiter von integrativen Grundschulen in Magdeburg sowie im Landesschulamt tätig.
Wo liegen denn in Ihren Augen die Ursachen?
Es gibt viele Bemühungen, wir haben gute Gesetze und Verordnungen. Aber wir haben ein Gestaltungs- und Umsetzungsproblem. Hinzu kommt, und ich sage das mit allem Respekt und wertungsfrei, dass wir eine sehr kleinteilige Betriebs- und Unternehmensstruktur in Sachsen-Anhalt haben. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt dort besser gelingt, wo die Betriebsstrukturen größer sind. Das haben wir kaum in Sachsen-Anhalt und deswegen verschärft sich die Problematik.
Wir sehen Ängste, Vorurteile und Ignoranz bei Arbeitgebern.
Und wir sehen nach wie vor Ängste, Vorurteile, auch Ignoranz bei Arbeitgebern. Manche Unternehmen bezahlen lieber die Ausgleichsabgabe, als tatsächlich schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Da gibt es Probleme in Sachen Einstellung und Willen, das Thema angehen zu wollen. Über diese Hürde müssen wir erkennbar springen.
Was muss passieren, damit sich etwas ändert?
Wir betreiben bereits einen unwahrscheinlich hohen Aufwand. Wir haben ungefähr 30 Unterstützungs- und Vermittlungsprogramme in Sachsen-Anhalt, um schwerbehinderte Menschen in Arbeit zu vermitteln oder den barrierefreien Umbau von Arbeitsplätzen zu finanzieren. Das System der Förderangebote und Unterstützungsmöglichkeiten ist also vorhanden, aber nicht für jeden problemfrei zugänglich.
Wir brauchen eine stärkere Vermittlung und Öffentlichkeitsarbeit – vor allem, aber nicht nur auf dem Gebiet der privaten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, bei denen die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen besonders niedrig ist. Da müssen wir schauen, wie bringt man das an den Mann und über die Jobcenter rein in die Peripherie unseres Landes. Wir sind nun mal ein Flächenland, das erfordert eine spezifische Form der Öffentlichkeitsarbeit.
Unternehmen, die ihrer Beschäftigungspflicht für schwerbehinderte Menschen nicht nachkommen, müssen eine "Ausgleichsabgabe" in Höhe von 140 bis 360 Euro pro Monat und unbesetztem Pflichtarbeitsplatz zahlen. Müsste diese Abgabe nicht viel höher sein?
Die Diskussion geht da sehr stark auseinander. Es gibt fundamentalistische Überzeugungen, die sagen, die Ausgleichsabgabe ist viel zu niedrig, die muss höher sein, die muss richtig wehtun. Ich habe dafür Verständnis, glaube aber nicht, dass das Andrehen dieser finanziellen Schraube auch einen Sinneswandel erzeugt. Mein Ansatz wäre, beides in den Blick zu nehmen, ein Malus- und ein Bonussystem.
Wir müssen den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern die Förderprogramme schmackhaft machen. Wir müssen versuchen, an der Einstellung und Bewusstseinsbildung so zu arbeiten, dass es nicht als Strafe betrachtet wird, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen, sondern als Gütesiegel der eigenen Arbeit.
Wir dürfen nicht nur aus der Perspektive der Defizite und der Schwächen auf Menschen mit Behinderung schauen.
Welche Rolle können schwerbehinderte Menschen bei der Bewältigung des Fachkräftemangels in Sachsen-Anhalt spielen?
Der Fachkräftemangel wird sich eher verschärfen. Das ist eine Chance für Menschen mit Behinderungen. Wir dürfen nicht nur aus der Perspektive der Defizite und der Schwächen auf Menschen mit Behinderung schauen. Menschen mit Behinderungen sind im Regelfall gut qualifiziert. Von denen, die als Schwerbehinderte arbeitslos sind, haben 69 Prozent eine abgeschlossene Berufsausbildung. Bei den nicht schwerbehinderten Arbeitslosen sind es 55 Prozent. Trotzdem sind Schwerbehinderte wesentlich länger arbeitslos. Da verträgt sich was nicht.
Solche Widersprüche müssen aufgelöst werden. Wenn man die Stärken der Menschen erkennt und stärkt, können sie den ersten Arbeitsmarkt bei uns im Lande stärken. Ich bin jedenfalls fest davon überzeugt, dass die Menschen mit Behinderung arbeiten wollen, dass sie den Arbeitsmarkt bereichern und dass sie etwas für die Wirtschaftskraft des jeweiligen Unternehmens beisteuern.
Die Fragen stellte Lucas Riemer.
MDR (Lucas Riemer)
Dieses Thema im Programm: SACHSEN-ANHALT HEUTE | 18. April 2023 | 19:00 Uhr
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