Drei Fabriken, die kleiner werden, sowie drei Personen
Die schrumpfende Bevölkerung lässt die Wirtschaft in Sachsen-Anhalt schrumpfen. Bildrechte: MDR DATA

Studie Bertelsmann Stiftung Babyboomer-Abschied mit langfristigen Folgen für Sachsen-Anhalts Arbeitsmarkt

11. Dezember 2024, 05:00 Uhr

In Sachsen-Anhalt droht eine Abwärtsspirale auf dem Arbeitsmarkt. Grund dafür sind die Renten-Eintritte der Babyboomer und die fehlende Zuwanderung von Fachkräften. Alexander Kubis, Co-Autor einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung, erklärt, welche drei politischen Entscheidungen jetzt notwendig sind.

Volontär Tycho Schildbach
Bildrechte: MDR/ Felix Schlagwein

Eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung hat die Auswirkungen einer schrumpfenden Bevölkerungszahl auf die deutsche Wirtschaft analysiert. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Deutschland jährlich 288.000 zusätzliche ausländische Arbeitskräfte benötigt. MDR Data hat die Studienergebnisse speziell für Sachsen-Anhalt ausgewertet: Es droht eine Abwärtsspirale aus Bevölkerungsschwund, sinkender Wirtschaftskraft, schrumpfendem Arbeitsmarkt und Abwanderung.

Abwärtsspirale beginnt mit Abschied der Babyboomer

Nirgends sinkt die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bis 2040 so stark wie in Sachsen-Anhalt. In diese Zeitspanne fällt der Abschied der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt. "Viele Industriegesellschaften altern im Moment. Durch die starke Babyboomer-Generation in Deutschland vollzieht sich das aktuell in einem rasanten Tempo", sagt Dr. Alexander Kubis, Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Co-Autor der Bertelsmann-Studie.

Dr. Alexander Kubis, Wirtschaftswissenschaftler am IAB
Dr. Alexander Kubis, Wirtschaftswissenschaftler am IAB Bildrechte: Wolfram Murr, Photofabrik

In keinem anderen Bundesland wird der Abschied der Babyboomer so spürbar sein wie in Sachsen-Anhalt. Fast 13 Prozent aller Beschäftigten sind dort über 60 Jahre alt – mehr als überall sonst in Deutschland. Zu der besonderen demografischen Lage trägt ein Phänomen der neuen Bundesländer bei. Mit dem Zusammenbruch der DDR brachen auch die Geburtenraten in Ostdeutschland ein. Allein im Jahr 1991 sank die Zahl der Neugeborenen schlagartig um 40 Prozent. Deshalb fehlen dem ostdeutschen Arbeitsmarkt heute viele junge Menschen.

Die Studien-Autoren erwarten, dass sich bis 2040 in Sachsen-Anhalt die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 67 Jahren um fast ein Fünftel reduzieren wird (-19,1%), bis 2060 sogar um 28,4 Prozent. Dabei legt die Studie ein jährliches Wanderungs-Saldo von 250.000 Personen zugrunde – das bedeutet, dass Jahr für Jahr eine Viertelmillion Menschen mehr nach Deutschland einwandern als auswandern. Es fällt auf, dass neben Sachsen-Anhalt auch Thüringen deutschlandweit abfällt.

Erwerbspersonenpotenzial in Sachsen-Anhalt sinkt ebenfalls

Studien-Autor Alexander Kubis kommt selbst aus Sachsen-Anhalt. Der erwartete Arbeitskräfte-Rückgang in seiner Heimat sorgt ihn, etwa im Pflegebereich: "Ein Betrieb hat natürlich immer die Möglichkeit, entsprechend durch Technik zu reagieren. Aber das kann man in bestimmten Bereichen eben nur in begrenztem Maße. Auch ich möchte später nicht ausschließlich von einem Service-Roboter bedient werden im Krankenhaus."

Die Wissenschaftler berechnen auch die Entwicklung des sogenannten Erwerbspersonenpotenzials der Bundesländer. Dazu zählen Arbeitnehmer, Arbeitslose und die sogenannte Stille Reserve. Diese umfasst Personen, die dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung stehen, aber gerade nicht erwerbstätig sind und sich nicht als arbeitslos melden. Zu ihnen gehören unter anderem Menschen, die andere betreuen oder keine Arbeit suchen, weil sie glauben, keinen passenden Job finden zu können. Auch beim Erwerbspersonenpotenzial erwarten die Forschenden, dass Sachsen-Anhalt und Thüringen in Zukunft deutlich zurückfallen werden.

Mit der Bevölkerung schrumpft auch die Wirtschaft

Der Rückgang der arbeitenden Bevölkerungszahl löst voraussichtlich eine Kettenreaktion aus. Unternehmen werden ihre Produktion verringern müssen, weil Arbeitskräfte fehlen. Wenn Wirtschaft und Bevölkerungzahl schrumpfen, werden lokale Dienstleistungen und Produkte weniger gefragt sein. Letztlich werden die Unternehmen betroffener Regionen auch weniger Arbeitsplätze anbieten können.

Sachsen-Anhalt kämpft neben der schrumpfenden Bevölkerungszahl mit einer zweiten großen Herausforderung. "Der Strukturwandel in Ostdeutschland und insbesondere in Sachsen-Anhalt und Thüringen führt dazu, dass Branchen im Moment mit Rückgängen zu kämpfen haben, zum Beispiel die Braunkohle oder die Automobilbranche mit ihren vielen Zulieferern", sagt Wirtschaftswissenschaftler Kubis.

Bedarf an Arbeitskräften wird geringer

Die regional ungleich verteilten wirtschaftlichen Hürden haben Folgen. Alexander Kubis und Co-Autor Lutz Schneider von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg berechnen zwar, dass Deutschland jährlich 288.000 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland braucht. Aber dieser Bedarf könnte sich je nach Bundesland drastisch unterscheiden.

Laut ihrer Prognose wird die Wirtschaft von Sachsen-Anhalt so stark schrumpfen, dass der Bedarf an Arbeitskräften 2040 um 17 Prozent geringer sein könnte als 2021. Nur in Thüringen erwarten die Wissenschaftler einen noch höheren Rückgang. Beim Spitzenreiter Berlin soll der Bedarf an Arbeitskräften hingegen um mehr als vier Prozent steigen.

Zu wenig Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland

Damit wird sich der Arbeitskräfte-Bedarf in Sachsen-Anhalt sogar noch stärker verringern als der Umfang der arbeitsfähigen Bevölkerung. Dies gilt auch für andere, vor allem ostdeutsche Bundesländer. 2040 könnte das Erwerbspersonenpotenzial, also die Zahl aller potenziellen Arbeitskräfte, in Sachsen-Anhalt 18 Prozent über dem Bedarf an Arbeitskräften liegen – selbst bei einer optimalen Zuwanderung von 288.000 Personen pro Jahr.

Zusammengefasst droht den ostdeutschen Flächenländern folgendes Szenario: Weil heute die Babyboomer in Rente gehen und zu wenig ausländische Arbeitskräfte zuwandern, leiden die Unternehmen und müssen sich verkleinern. Die Wirtschaft schrumpft und mit ihr die Nachfrage, weshalb Unternehmen in Zukunft noch weniger Arbeitsplätze anbieten können. Eine Abwärtsspirale, die dazu führt, dass sich der ursprüngliche Mangel an Arbeitskräften in ein Überangebot umkehrt. Die ostdeutschen Flächenländer sind in diesem Szenario künftig weniger auf Zuwanderung angewiesen als die westdeutschen Bundesländer.

Brandenburg zeigt in den Prognosen die mit Abstand höchste Überversorgung an Arbeitskräften im Verhältnis zum Bedarf. Dort greift allerdings eine brandenburgische Besonderheit: Viele in Berlin arbeitende Menschen leben in Brandenburg und pendeln nach Berlin. Die statistische Überversorgung mit Arbeitskräften in Brandenburg fällt daher in der Realität deutlich geringer aus.

Abwanderung in den Westen droht

In letzter Konsequenz droht als Folge der schrumpfenden ostdeutschen Wirtschaft eine Abwanderung in die alten Bundesländer – allen voran nach Baden-Württemberg und Bayern.

Sowohl das zukünftige Ungleichgewicht zwischen Arbeitskräfte-Bedarf und Arbeitskraft-Angebot als auch die Binnen-Migration sind womöglich noch abwendbar. "Ob es so kommen muss, hängt wesentlich von der Frage ab, ob der Osten zum Schrumpfen verurteilt ist oder ob nicht auch hier die Weichen so gestellt werden können, dass die Wirtschaft zumindest nicht im unterstellten Maße schrumpft", schreiben die Studien-Autoren.

Der Fachkräftemangel bleibt ein ungelöstes Problem

Wichtig zum Verständnis dieser Szenarien ist, dass die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte nichts über deren Eignung aussagt. So stellt die Bundesagentur für Arbeit in einer Analyse des Fachkräftemangels fest, dass Bedarf und Angebot auf dem Arbeitsmarkt auseinanderklaffen. Fast 80 Prozent der offenen Jobs richten sich an Fachkräfte. Aber mehr als die Hälfte der Arbeitslosen sucht lediglich Jobs auf Helfer-Niveau. "In den Prognosen sehen wir, dass der Bedarf an hoch qualifizierten Kräften im Vergleich zu heute eher steigt und der Bedarf an Helfer-Tätigkeiten im Vergleich zu heute eher sinkt", sagt Kubis.

Flucht-Migration ist nicht Arbeits-Migration

Eine hohe Anzahl an Zugewanderten erfüllt daher nicht automatisch den Arbeitskräfte-Bedarf – es kommt auch darauf an, welche Qualifikation die Zugewanderten mitbringen. Flucht-Migration etwa komme deutlich langsamer im Arbeitsmarkt an als Arbeits-Migration, so die Studie. Trotzdem warnt Alexander Kubis vor einer einseitigen Perspektive auf Zuwanderung: "Das Recht auf Zuwanderung darf sich nicht ausschließlich an Arbeitsmarktthemen wie Ausbildung und Erwerbstätigkeit ausrichten. Es gibt auch andere wichtige Gründe, wie den Schutz vor Verfolgung und Gewalt oder familiäre Gründe."

Drei Personen schauen gemeinsam auf ein technisches Gerät. 4 min
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Qualifikation von Einheimischen und Zugewanderten verbessern

Was muss Sachsen-Anhalt heute tun, um die Abwärtsspirale aus Arbeitskräfte-Verlust und Wirtschafts-Schrumpfung zu verhindern?

Erstens sei Bildung eine Lösung, sagt Studien-Autor Kubis. "Wir sind als Exportnation angewiesen auf innovative Produkte. Wir schaffen es nicht, über den Preis am Markt zu bestehen, sondern wir müssen über Innovation und Qualität am Markt Fuß fassen. Das schaffen wir nur mit qualifizierten Menschen. Deshalb ist Bildung aus meiner Sicht nach wie vor das A und O, was wir auch in Sachsen-Anhalt vorantreiben müssen."

Mit einer besseren Qualifikation könnten Geflüchtete schneller und besser die Lücken im deutschen Arbeitsmarkt schließen. Dies gilt insbesondere für Sachsen-Anhalt, wo der Abschied der Babyboomer gegenwärtig einen hohen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften schafft. Um die Fachkräfte-Lücke zu schließen, müsse auch die Qualifikation der deutschen Bevölkerung dringend verbessert werden, fordert Kubis. "Auch die Zahl der Studienabbrüche oder der Leute, die ohne Ausbildung ins Leben gehen, ist in Sachsen-Anhalt wie in ganz Deutschland viel zu hoch."

Nicht alle Lösungsansätze sind populär

Alexander Kubis‘ weitere Lösungsansätze sind wenig populär und werden wohl auch deshalb in der Politik kaum diskutiert. Höhere Wochenarbeitszeiten könnten die Folgen des Bevölkerungsrückgangs mildern. "Wenn jemand nur noch die Hälfte arbeitet, dann muss diese Arbeit, die natürlich trotzdem vorhanden ist, dann unter Umständen von zwei Personen erledigt werden", sagt Kubis. Der kontinuierliche Trend zu geringeren Wochenarbeitszeiten sei daher ein Problem. "Da muss man schon schauen, inwieweit da vielleicht eine präferenzgerechte Ausweitung von Arbeitszeiten helfen kann."

Drittens müsse die Politik nicht nur die Arbeitszeit pro Woche, sondern auch die Arbeitszeit im Leben anfassen. Ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren ab 2031 reicht laut Kubis nicht aus: "Da ist es schon eine Frage, inwieweit man nach 2031 schrittweise dieses Renteneintrittsalter erhöhen müsste. Wenn sich die Lebenserwartung bei guter Gesundheit erhöht, könnte man einen kleineren Teil dieser gewonnenen Jahre am Arbeitsleben teilnehmen."

MDR (Tycho Schildbach)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 11. Dezember 2024 | 09:00 Uhr

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