Von der Silberhöhe in bessere Viertel Was gegen Kinderarmut in Städten wie Halle helfen könnte
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27. September 2020, 12:33 Uhr
Jedes dritte Kind in Halle lebt in Armut. Einzelne Viertel in Halle-Neustadt oder in Halle-Silberhöhe sind besonders betroffen. Der Soziologe Reinhold Sackmann schlägt deswegen vor, dass arme Familien aus Problemvierteln in teurere Viertel umziehen sollen. Die Stadtverwaltung ist dagegen. Sie befürchtet, dass dann insgesamt die Mieten steigen.
Halle hat ein Problem mit Kinderarmut. Jedes dritte Kind in der Stadt lebt in einem Haushalt, der Sozialleistungen bezieht. In den letzten Jahren sind die Zahlen auf hohem Niveau leicht zurückgegangen: 2010 lag der Anteil der Kinderarmut laut dem "Wegweiser Kommune" der Bertelsmann-Stiftung, einer privaten Denkfabrik und Forschungsinstitution, noch bei 35,8 Prozent, 2018 waren es nur noch 32,8 Prozent. Armut an sich ist kein Problem, das spezifisch nur in Halle existiert. Aber sie spitzt sich hier besonders zu. Bundesweit liege der Anteil von Kinderarmut im Schnitt bei etwa 20 Prozent – deutlich weniger als in Halle. Bei einem anderen Wert erreicht Halle sogar im Bundesvergleich traurige Spitzenwerte, nämlich wenn es um die Zunahme der sogenannten Segregation geht.
Ab wann gilt ein Kind als arm?
Eine allgemeingültige Definition für Armut in Deutschland gibt es nicht. Nach den Zahlen der Bertelsmann Stiftung gilt ein Kind dann als arm, wenn es entweder in einem Haushalt aufwächst, in dem das Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt (eine gängige Armutsdefinition) und/oder der Haushalt Sozialleistungen wie Hartz IV bezieht. Die Bertelsmann Stiftung ist eine einflussreiche private Stiftung des Unternehmens Bertelsmann, die eigene Projekte und Studien verfolgt.
Am schlimmsten betroffen: Halle-Neustadt
Je nach Stadtviertel ist der Anteil der Kinderarmut sehr unterschiedlich. Während die Zahlen für Halle insgesamt gesunken sind, sind sie in einzelnen Stadtteilen gestiegen. Besonders schlimm ist die Situation Im Süden von Halle-Neustadt: Während dort der Anteil der Kinderarmut 2011 noch bei 62,6 Prozent lag, waren es 2017 schon 72,9 Prozent – also fast drei Viertel der Kinder. Auch auf der Silberhöhe leben doppelt so viele Kinder in Haushalten, die Sozialgeld beziehen, wie auf die gesamte Stadt gerechnet, nämlich 62 Prozent der Kinder.
Reinhold Sackmann hat den Lehrstuhl für Soziologie an der Uni Halle inne, er ist außerdem Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Sozialforschung Halle e.V. Stadtentwicklung in Halle ist ein Thema, das ihn schon lange beschäftigt – seit 1993 macht sein Institut in der Stadt Umfragen mit Bürgerinnen und Bürgern. Kinderarmut, sagt er, ist dabei ein Thema, das besonders heraussticht. Und eines, das die Stadt noch länger beschäftigen könnte. Denn dass die Kinder aktuell in Armut leben, ist nur die eine Seite. Zu welchen Erwachsenen diese Kinder werden, ist die andere. Denn Armut wirkt sich negativ auf die Bildungschancen der Kinder aus. Wer als Kind arm ist, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, die Schule abzubrechen, straffällig zu werden und auch später arm zu bleiben.
Was bedeuten Konzentration von Armut und Segregation?
Wenn sich Armut in einem Viertel konzentriert, wohnen dort besonders viele arme Menschen. Wenn die Konzentration von Armut zunimmt, bedeutet das also, dass der Anteil der armen Menschen in bestimmten Vierteln steigt. Wenn immer mehr Menschen mit wenig Geld in einem bestimmten Viertel wohnen und immer mehr reiche Menschen in anderen Viertel, nennt man das auch soziale Segregation. In der Lebensrealität bedeutet das, das Reiche und Arme immer weniger miteinander zu tun haben – und die Schere zwischen beider immer weiter auseinander geht.
Professor Sackmann erklärt, dass Armut viele verschiedene Ursachen haben kann: "In den 1990er und 2000er Jahren haben vor allem Arbeitslosigkeit und Scheidungen Kinderarmut verursacht, nach 2014 waren es Fluchtbewegungen." Alle drei Entwicklungen seien aber mittlerweile rückläufig. Aus seiner Sicht ist aktuell in Ostdeutschland die Wohnungspolitik ein wichtiger Faktor, der zu Kinderarmut beiträgt.
Wie Wohnungspolitik helfen könnte
Im Osten, erklärt er, gab und gibt es im Vergleich mit Westdeutschland wenig sozialen Wohnungsbau. Außerdem hätten verschiedene Investmentgesellschaften Wohnungen für Empfängerinnen und Empfänger von Sozialhilfe zu einem Geschäftsmodell gemacht: "Die haben den Städten in den 90ern kaputte Wohnungen abgekauft und sie bewohnbar gehalten. Wer Sozialhilfe empfängt, ist dann oft gezwungen, in diese Wohnungen zu ziehen, weil das Wohngeld für nichts anderes reicht." Für die Investmentgesellschaften sei das ein sicheres Geschäft, schließlich ist auf das Wohngeld vom Staat Verlass. Doch diese Entwicklung verstärkt soziale Segregation.
Für Politikerinnen und Politiker gibt es auf den verschiedenen Ebenen Stellschrauben, mit denen etwas gegen Kinderarmut getan werden kann. Städte wie Halle können das Problem nicht alleine, sondern nur mit bundes- und landespolitischer Unterstützung lösen. Aber es gibt durchaus Maßnahmen, die Kommunen ergreifen könnten.
Am besten gegen Kinderarmut wirkt eines, erklärt Reinhold Sackmann: Bildungschancen. Dabei sei zum einen wichtig, in benachteiligten Stadtteilen Kindergärten und Schulen zu verbessern, zum Beispiel mit Renovierungen. "Wenn man sich die Kastanienallee-Schule in Halle-Neustadt anschaut und das Gymnasium daneben, dann weiß man, wie Hass entsteht", sagt er. Wichtig sei aber auch, gegen soziale Segregation vorzugehen. Das geht aus seiner Perspektive am besten, indem betroffene Familien die Möglichkeit bekommen, benachteiligte Stadtteile zu verlassen. Kinder, sagt er, werden nicht nur von Eltern und Lehrpersonal erzogen, sondern erziehen sich auch gegenseitig. Deswegen könne soziale Durchmischung bei ihnen besonders viel bewirken.
Sackmann schlägt vor, dass keine weiteren Familien mehr gezwungen sein sollen, in Viertel wie die Silberhöhe und Halle-Neustadt zu ziehen, in denen die Kinderarmutsrate über 50 Prozent beträgt. Gleichzeitig soll Familien, die Sozialhilfe empfangen, ermöglicht werden, aus ebendiesen Vierteln wegzuziehen. Trotz allem nicht in die teuersten Wohnungen der Stadt. Aber in Wohnungen, die bis zu 15 Prozent mehr kosten, als es Sozialhilfeempfangenden momentan erlaubt ist. Nach seiner Einschätzung wäre das für die Stadt durchaus finanzierbar.
Stadt will Selbstverpflichtung für Wohnungsgesellschaften
Katharina Brederlow, die Beigeordnete für Bildung und Soziales der Stadt Halle, steht dem Vorschlag kritisch gegenüber. "Wir sehen das eher skeptisch, weil aus unserer Perspektive dann automatisch auch die Mieten insgesamt steigen würden." Die Stadt habe das Argument aber auf dem Schirm und erarbeite gerade ein Konzept, in dem das eine Rolle spiele. Langfristig sei dabei ein Ziel, dass die Wohnungsgesellschaften sich selbst verpflichten, in allen Stadtteilen genügend Wohnungen für Geringverdiener zur Verfügung zu stellen. Die Hallesche Wohnungsgesellschaft HWG hat eine solche Verpflichtung schon unterschrieben. 20 Prozent ihrer Wohnungen will die HGW Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern zur Verfügung stellen. Die Wohnungen der Gesellschaft liegen zum Beispiel in den Vierteln Altstadt, Heide-Nord, Silberhöhe und Südstadt.
Aus Brederlows Perspektive hat sich in den letzten Jahren in Bezug auf Kinderarmut in Halle schon einiges getan. "Zum Beispiel hat sich die Arbeitsmarktsituation durch die Ansiedlung größerer Firmen deutlich verbessert", sagt sie. Als weitere städtische Maßnahmen nennt sie die Förderung von Sozialarbeit in Schulen und Kitas und das "Haus der Jugend", in dem die Stadt seit 2014 gemeinsam mit dem Jobcenter und der Agentur für Arbeit in Halle-Neustadt verschiedene Angebote für Jugendliche bietet.
Kritik an der Arbeit der Stadtverwaltung
Aber es gibt auch Kritik an den Maßnahmen der Stadt gegen Kinderarmut. So erzählt Reinhold Sackmann, dass ein Versuch von Sozialrechtsexperten der Martin-Luther-Universität, mit Juristen der Sozialbehörde zu dem Thema ins Gespräch zu kommen, gescheitert sei – an der geringen Offenheit der Sozialbehörde.
Aus dem Stadtrat kommt unter anderem von Inés Brock von der Stadtratsfraktion der Grünen die Kritik, dass drei Vollzeit-Stellen, die zur Umsetzung städtischer Maßnahmen gegen Kinderarmut seit 2018 im städtischen Stellenplan sind, noch nicht besetzt sind. Katharina Brederlow erklärt: "Zuerst musste noch erarbeitet werden, was der genaue inhaltliche Fokus der Stellen sein sollte", erklärt sie. Sie rechne damit, dass die Stellen im nächsten Jahr tatsächlich besetzt werden können.
Nach der Wiedervereinigung zu lange gezögert
Aber auch Katharina Brederlow kritisiert die Zusammenarbeit mit dem Stadtrat im Hinblick auf Kinderarmut. "Am sinnvollsten sind Maßnahmen ganz konkret dort, wo sie gebraucht werden, also zum Beispiel in Halle-Neustadt oder auf der Silberhöhe", erklärt sie. Wenn die Stadt ansetze, um dort die Unterstützung aufzustocken, habe es aber teilweise schon Gegenwind von sozialen Trägern und dem Stadtrat gegeben. "Da war die Forderung, dass es die Unterstützung nicht nur dort, sondern überall bräuchte", sagt Brederlow. Die finanziellen Möglichkeiten der Stadt seien jedoch nicht unendlich.
Teilweise, findet Brederlow, ist die Kritik am Umgang der Stadtverwaltung mit Kinderarmut auch berechtigt. In der Vergangenheit habe es ihrer Meinung nach seitens der Stadt durchaus Fehleinschätzungen gegeben: "Nach der Wiedervereinigung ist man lange davon ausgegangen, dass Halle schrumpfen würde, und hat deswegen, finde ich, nicht genug beispielsweise in Halle-Neustadt investiert." Hätte die Stadt früher erkannt, dass Halle langfristig wieder wachsen würde, könnten Viertel wie Halle-Neustadt und die Silberhöhe jetzt schon deutlich attraktiver sein, schätzt sie. Dann wäre auch Segregation nicht so ein großes Problem.
Über die Autorin Neugierig ist Alisa Sonntag schon immer gewesen – mit Leidenschaft auch beruflich. Aktuell beendet sie ihre Master in Multimedia und Autorschaft in Halle. Dabei schreibt sie außer für den MDR SACHSEN-ANHALT unter anderem auch für die Journalismus-Startups Buzzard, Veto-Mag und Krautreporter.
Quelle: MDR/aso
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