Zu sehen ist eine Collage: Ein Hirsch liegt auf einem aufgeklappten Buch. 4 min
Nicht nur in der Natur, sondern auch zwischen den Zeilen nimmt das Artensterben zu. Bildrechte: IMAGO / ingimage
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Das Sterben von Tier- und Pflanzenarten zeigt sich nicht nur in der Natur, sondern auch in der Literatur. Dabei spielen Bücher und Texte eine wichtige Rolle für unser Naturverständnis. Beitrag von Julia Seegers

MDR KULTUR - Das Radio Mi 20.03.2024 07:40Uhr 03:57 min

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Wissenschaftliche Studie Vom Wandel der Artenvielfalt in der Literatur

30. März 2024, 04:00 Uhr

Das Verschwinden von Arten ist nicht nur in der Natur, sondern auch in der Literatur zu beobachten. Das zeigt eine Studie, die sich mit literarischen Werken der letzten 300 Jahre befasst. Die Darstellung und Vielfalt von Tieren und Pflanzen in Büchern nahm im 18. Jahrhundert stark zu, ab den 1830er-Jahren jedoch kontinuierlich ab. Ein Hinweis auf die zunehmende Entfremdung des Menschen von der Natur?

Ein interdisziplinäres Team aus Biologen und Literaturwissenschaftlern, das von Leipziger Forschenden des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) geleitet wurde, hat eine digitale Bibliothek durchkämmt und literarische Texte mit Hilfe von KI auf ihre Artenvielfalt hin untersucht. Es handelte sich dabei um den Bestand westlicher Belletristik in englischer Version des Project Gutenberg. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift "People and Nature" veröffentlicht.

Wie viele Lebewesen gibt es in Büchern?

Lars Langer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Biodiversitätsforschung in Leipzig, erklärt das Konzept: "Wir haben Bücher als Ökosysteme behandelt und gezählt, wie viele verschiedene Lebewesen wir darin finden können." Die gesammelten Daten wurden von den Forschenden dann genauso analysiert, wie sie es mit Daten aus der Natur tun würden. Das Team wollte herausfinden, ob die Biodiversitätskrise in der realen Welt sich auch in der Literatur widerspiegelt. Die Literatur diente ihnen als Spiegelbild menschlicher Gedanken und Wahrnehmungen.

Wir haben Bücher als Ökosysteme behandelt und gezählt, wie viele verschiedene Lebewesen wir darin finden können.

Lars Langer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Biodiversitätsforschung in Leipzig

Mit Künstlicher Intelligenz Bücher in Statistiken umwandeln

Um dieses Ziel zu erreichen, entwickelten die Wissenschaftler eine neue Forschungsmethode. Mit Hilfe von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz haben sie die Bücher in Statistiken umgewandelt. Für zwei Studien hat das Forschungsteam fast 16.000 Bücher von 4.000 Autorinnen und Autoren untersucht, die zwischen 1705 und 1969 erschienen sind, darunter sind Werke von Johann Wolfgang von Goethe, Edith Nesbit oder Victor Hugo.

Die Wissenschaftler haben die Texte mit Natural Language Processing (NLP) bearbeitet, um Verben, Substantive und Wortformen zu identifizieren. Dann erstellten sie ein umfassendes Wörterbuch der Lebewesen mit ca. 240.000 Wörtern wie Maikäfer, Pferd oder Lavendel – und untersuchten danach die Texte. Die gefundenen Arten haben Langer und sein Team in Tabellen und Statistiken gesammelt.

ein schwarzer Panther in einem Käfig
"Sein Blick ist im Vorübergehn der Stäbe …" – das Gedicht "Der Panther" von Rainer Maria Rilke ist weltberühmt und ein prominentes Beispiel für Tiere in der Literatur. Bildrechte: picture alliance/dpa/CTK | Dalibor Gluck

Entdeckung der Welt lässt Spuren in der Literatur

Die Ergebnisse waren überraschend. "Wir waren erstaunt, dass die Biodiversität im 18. Jahrhundert so stark zunimmt", sagt Langer. Die Biologen sind zwar auf das Gewinnen und Auswerten von Daten spezialisiert, aber um diese zu interpretieren waren Langer und sein Team auf Unterstützung angewiesen: "In der Diskussion mit dem Literaturwissenschaftler haben wir festgestellt, dass das auch eine Zeit der Entdeckung und Erforschung der Welt war."

Naturwissen sinkt mit Industrialisierung

Seit den 1830er-Jahren jedoch, so die Forschenden, fallen den Autoren und Autorinnen immer weniger Tier- und Pflanzenarten ein. Roland Borgards, Professor für Germanistik und Mitglied des Forschungsteams, hat zwei mögliche Erklärungen. Eine ist, dass das Wissen über Tiere, Pflanzen und die Natur durch Entdeckungsreisen von Forschern wie Alexander von Humboldt bis Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich anstieg. Eine mögliche Gegenbewegung hat mit der Industrialisierung und der Verstädterung zu tun. "Das Wissen hat sich in die Spezialbereiche der Naturwissenschaften zurückgezogen", erklärt Borgards. Das Forschungsteam hat auch untersucht, wer wie über die Natur schreibt. Sie wollten wissen, welchen Einfluss Geschlecht, Elternschaft und Wohnort der Autorinnen und Autoren auf die Wahrnehmung von Biodiversität haben und in welchen Textsorten sie darüber schreiben.

Das Wissen hat sich in die Spezialbereiche der Naturwissenschaften zurückgezogen.

Roland Borgards, Professor für Germanistik, über den Rückgang von Biodiversität in der Literatur seit 1830

Buchseite mit Witwe Bolte und toten Hühnern von Wilhelm Busch
Der Umgang mit Lebewesen in der Literatur ist vielfältig: In "Max und Moritz" von Wilhelm Busch weint Witwe Bolte um ihr Federvieh. Bildrechte: IMAGO / Artokoloro

Vor allem Gedichte sind literarischer Ort der Artenvielfalt

Bogards berichtet von erwartbaren Ergebnissen, zum Beispiel vom auffälligen Gender-Gap: "Weibliche Autorinnen sind sehr viel differenzierter in der Darstellung von Biodiversität als männliche Autoren." Auffallend ist auch, dass Menschen unter 30 und über 60 Jahren detaillierter über die Natur schreiben. Überrascht war Borgards davon, dass in der Prosa, also in den erzählenden Texten, viel weniger Arten vorkommen als in der Poesie. "Gedichte sind der literarische Ort der Biodiversität."

Der Germanist betont den kulturellen Wert der literarischen Vielfalt von Natur. "Literatur kann uns zeigen, wie die Gesellschaft mit der Natur umgeht", sagt er. Dazu kommt der didaktische Wert der Literatur. Sie kann Probleme beschreiben und Gedankenexperimente durchspielen. Er erklärt, dass ein literarischer Text veranschaulichen kann, wie sich das Business-As-Usual-Szenario mit fortgesetztem CO2-Ausstoß und Artensterben in 100 Jahren entwickeln könnte.

Literatur kann uns zeigen, wie die Gesellschaft mit der Natur umgeht.

Roland Borgards, Professor für Germanistik und Mitglied des Forschungsteams

Literatur kann die Naturverbundenheit stärken

Borgards betont, dass Bücher und Texte zukünftige Auswirkungen vom Artensterben erlebbar machen und Lösungsansätze durchspielen können. "Literatur spricht unsere Gefühle an und über die Gefühle könnten wir dazu kommen, etwas im Handeln zu ändern", sagt er. Literatur kann dabei helfen, der Gesellschaft die Schönheit und Vielfalt der Natur zu vermitteln. "Eine gute Literatur ist eine, die den Lesenden diese Schönheit der Natur nahe bringt und damit klar macht, macht nicht kaputt, was euch gefällt", erklärt Borgards.

Quellen: Julia Seegers, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung
Redaktionelle Bearbeitung: jb

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 20. März 2024 | 07:40 Uhr

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