"Brüche – ein ostdeutsches Leben" Soziologe Wolfgang Engler untersucht im neuen Buch die eigene DDR-Biografie
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12. März 2025, 03:00 Uhr
Auch noch 35 Jahre nach ihrem politischen Ende stresst und polarisiert die DDR. Geschockt von den Wahlergebnissen im Osten Deutschlands wird nach den Gründen verbliebener "Putin-Sympathie" oder neu aufgeflammter Begeisterung für nationalistische Ideen gefragt. Sind sie Zeugnis einer in den letzten drei Jahrzehnten erfahrenen sozialen Deklassierung? Bücher von Dirk Oschmann oder Ilko-Sascha Kowalczuk analysieren die DDR und Ostdeutschland. Der Philosoph Wolfgang Engler überprüft nun in "Brüche – ein ostdeutsches Leben" seine Erkenntnisse zur DDR-Geschichte an der eigenen Biografie.
- Der Soziologe und Philosoph Wolfgang Engler untermauert seine früheren wissenschaftlichen Thesen nun mit einer Lebensbilanz.
- In "Brüche – ein ostdeutsches Leben" hinterfragt er Anpassung, Widerstand und Privilegien seiner ostdeutschen Vita.
- Im Gegensatz zu Ilko-Sascha Kowalczuks Unfreiheitsthese war die DDR für Engler zunächst auf das Ideal von Gleichheit ausgerichtet.
Mit Katja Hoyer, Dirk Oschmann, Ilko-Sascha Kowalczuk, Wolfgang Engler und noch anderen im Bereich der Belletristik haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den letzten Jahren ihre je verschiedenen DDR-Geschichts- und Ostdeutschland-Gegenwartsbilder vorgelegt – unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit. Die DDR ist ein Bestseller-Garant.
Alle Genannten, das ist auffällig, markieren die DDR anhand solcher Kriterien wie "Freiheit", "Gleichheit", "soziale Sicherheit" oder auch "Aufstiegs- und Bildungschancen" jeweils verschieden. Je nachdem, welche Kategorie als die gesellschaftlich wichtigste ausgerufen wird, fällt das Urteil über die DDR aus.
Englers Habitus der "arbeiterlichen Gesellschaft"
Das lässt sich auch beim 1952 in Dresden geborene Philosoph Wolfgang Engler beobachten. Mit seinem 1999 erschienenen Buch "Die Ostdeutschen – Kunde von einem verlorenen Land" setzte er den für seine Analyse wohl entscheidenden Begriff, "die arbeiterliche Gesellschaft". Davon ausgehend unterstützt er seine Erkenntnisse nun mit einer Art Lebensbilanz. Der Blick des Wissenschaftlers wird um den Blick auf das eigene Leben ergänzt.
Im Besonderen legt hier der Kontrast mit den Thesen Ilko-Sascha Kowalczuks die Konfliktlinien beim Ausdeuten der Verhältnisse in der DDR offen. Englers "arbeiterliche Gesellschaft" meint einen bestimmten Habitus und Umgangston, der wenig mit der von der SED propagierten Diktatur der Arbeiterklasse zu tun hat.
Dieser kommt eher zum Ausdruck in Ritualen wie dem täglichen Handschlag unter Kollegen, in der gemeinsamen Verachtung für "die da oben" (die Sesselfurzer"), in sexuell-körperlicher Freizügigkeit ("FKK"), in der Begeisterung für den Sport oder in den selbstverständlich angenommenen Bildungschancen (Meisterlehrgang, Berufsausbildung mit Abitur usw.).
Ein Leben zwischen Anpassung, Widerstand und Privileg
Wolfgang Engler arbeitete von 1981 bis 2017 im Wesentlichen als Dozent an der Schauspielhochschule Ernst Busch in Berlin, war ab 2005 deren Rektor. Insofern gehörte er zu jenen, die in der DDR eine Hochschullaufbahn einschlagen konnten und somit eine hervorgehobene Position einnahmen – und sich dennoch schnell auch in den Nachwendeverhältnissen zurechtgefunden haben.
Wer sich in beiden Systemen so durchsetzen konnte, wird natürlich verdächtigt, ein Angepasster, womöglich ein gewissenloser Aufsteiger zu sein. Englers Entgegnung ist die Beschreibung einer, seiner konkreten Biografie – die sich eben gerade nicht in solchen einfachen Kategorien abrechnen lässt. Mal war er mutig und widerständig, dann wieder verzagt und darauf bedacht, den eigenen Status nicht aufs Spiel zu setzen.
Die DDR: das bessere Deutschland?
Berufsausbildung, Parteieintritt, Volkshochschule, NVA-Grundwehrdienst, Heirat, Philosophie-Studium an der Humboldt-Uni in Ost-Berlin, Prag 1968, Biermann 1976, Kulturpolitik unter Honecker – der Glaube an das bessere Deutschland namens DDR wird manchmal erschüttert, hält aber bis in die 80er-Jahre. Wolfgang Engler erzählt, wie ihn die Stasi anwerben will und er diesem Versuch widersteht. Doch er weiß auch, dass er zu den Privilegierten gehörte, weil er vor 1989 in den Westen fahren durfte.
Engler setzt auf Gleichheit, Kowalczuk auf Freiheit
Zwischendrin gibt es im Buch immer wieder Einlassungen zur Gegenwart, zum Nahostkonflikt etwa oder zu Sahra Wagenknecht. Anders als Ilko-Sascha Kowalczuk, der jede, einst an der DDR mitgestaltende Biografie als eine der Einübung in die Unfreiheit klassifiziert, geht es Engler um die konkreten Lebensbilder, die er nur zögerlich oder gar nicht beurteilt. Für ihn war die DDR zunächst einmal jener Staat, der zwar nicht auf die Freiheit, aber auf das Ideal von Gleichheit und Gerechtigkeit ausgerichtet war.
Gleichheit vor Freiheit also – was dann aber, so würde Kowalczuk erwidern, auch das Gerechte und Gleiche in dieser Gesellschaft wieder verschliffen und in einen kleinbürgerlich, manisch überwachten Rahmen gezwängt hat. Und so stehen denn zu diesem Thema auch weiterhin die verschiedenen Thesen gegeneinander.
Sicher ist, dass die DDR bis heute in der gesamtdeutschen Gegenwart lebt, aufbricht und rumort. Wolfgang Engler fasst das, dieses Erbe, auf seine, immer wieder lesens- und bedenkenswerte Art und Weise zusammen.
Informationen zum Buch
Wolfgang Engler: "Brüche – ein ostdeutsches Leben"
Erschienen im Aufbau Verlag
347 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-351-04245-5
Redaktionelle Bearbeitung: jb, lm
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 12. März 2025 | 08:10 Uhr