Nach der Absage Leipzig ohne WGT: eine Stadt auf Entzug
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20. Januar 2022, 11:16 Uhr
Das Wave-Gotik-Treffen ist eines der weltgrößten Festivals der Gothic-Szene. Normalerweise kommen jedes Jahr rund 20.000 Besucher zu etwa 50 Veranstaltungsorten in Leipzig. Die diesjährige Ausgabe fällt wegen Corona aus. Die Stadt reagiert auf die Absage mit Entzugserscheinungen – und einem kleinen Ersatzprogramm.
Wer schon lange hier lebt, weiß aus Erfahrung: Zuerst kann man das WGT riechen, und zwar am Patschuli, einem ätherischen Öl, das viele der Szeneanhänger als Parfüm tragen und dessen vornehm-morbider Duft sich jedes Jahr zu Pfingsten über die Innenstadt legt.
Diesmal muss man aber schon lange schnuppern, um einen Hauch davon zu erhaschen. Kaum öfter als sonst im Jahr huscht ein Goth durch die Fußgängerzone. Das Festival hinterlässt ein Vakuum.
WGT ist nur einmal im Jahr
Das bemerken auch viele Leipziger, die meisten mit großem Bedauern. Viele haben sich auf diese Tage gefreut, vor allem auf die ausgefallenen Kleider. Eine Passantin erzählt, dass sie extra Urlaub genommen hat, einfach um die schwarzen Besucher zu bestaunen. "Das ist mir jetzt nicht vergönnt", resümiert sie lachend, aber auch ein bisschen wehmütig.
Damen mit Reifröcken in der Straßenbahn, Industrial Goths mit Gasmaske beim Bäcker, der Leichenwagentreff vorm Völkerschlachtdenkmal und dunkle Groves bis tief in die Nacht – all das fehlt dieser Tage spürbar. Doch immer der Nase nach, und den Augen! Ein paar Szene-Anhänger sind nämlich trotzdem angereist.
Da war das Hotel schon gebucht, der Urlaub bereits eingereicht – und es wäre doch zu schade, jetzt mit der Tradition zu brechen. So erklärt ein Szene-Anhänger, der extra aus Berlin gekommen ist: "Weil's einfach ein Jahres-Highlight ist. Leipzig bleibt Leipzig, auch wenn es nicht ganz so schwarz ist wie die Jahre zuvor."
"Man ist der Paradiesvogel schlechthin"
Und dunkles Programm gibt es ja trotzdem, zum Beispiel im Clara-Zetkin-Park. Jeden Freitag vor Pfingsten findet hier traditionell das Viktorianische Picknick statt. Offiziell wurde es abgesagt. Inoffiziell ist trotzdem eine Menge los. Goths aller Couleur speisen und zeigen sich, mit Spitzenschirmchen, Plateauschuhen, Nickelbrillen ... kaum anders als sonst beim WGT.
Etwas abseits flaniert eine junge Frau mit Hörnern auf dem Kopf. Sie kommt aus einer Kleinstadt in Bayern. Mit ihren blau-pinken Haaren, erzählt sie, falle sie dort schon beim Bäcker auf. "Man ist der Paradiesvogel schlechthin. Auch wenn man ein schwarzes Outfit trägt. Dann ist man verschrien, als wenn man gleich das nächste Grab umbuddeln würde." Hier aber seien die Leute offener. Sie sähen, wie viel Mühe in den Outfits stecke, weshalb die junge Frau findet: "Es ist wie ein Stück Heimat hier."
Sind inoffizielle Goth-Treffen erlaubt?
Manche der Kleider sind derart ausladend – da erledigt sich das Thema Sicherheitsabstand ganz von selbst. Trotzdem fragen sich viele: Darf ich überhaupt hier sein? Das Ordnungsamt zumindest sieht das Picknick nicht so gern.
Amtsleiter Helmut Loris teilte MDR KULTUR mit, grundsätzlich dürfe zwar jeder eine Parkanlage aufsuchen. Aber große Ansammlungen, die einen gemeinsamen Zweck verfolgten, seien laut sächsischer Corona-Schutz-Verordnung untersagt.
Das gelte zum Beispiel, wenn Menschen nach einem zufälligen Zusammentreffen gezielt die Nähe zu Gleichgesinnten suchten – etwa bei einem Picknick oder um Kostüme zur Schau zu stellen. Auch Schaulustige dürften sich einer solchen Zusammenkunft nicht anschließen. Bei Verstößen drohen Bußgelder.
Ein Hauch WGT bleibt
Für Pfingsten gilt also: Nur gucken, nicht anbändeln. Oder gleich eine Veranstaltung besuchen, die offiziell genehmigt ist, so wie das "Kleine schwarze Pfingsten", zu dem das Kulturzentrum Moritzbastei einlädt. Dafür wurden die Terrassen geöffnet, wo man bei Getränken und Snacks Konzerte erleben kann – auf einem Bildschirm. Dort wird das kurzfristig ins Leben gerufene virtuelle Darkstream-Festival gezeigt.
Finanziell kann das "Kleine schwarze Pfingsten" das WGT-Geschäft nicht aufwiegen, sagt der Pressesprecher der Moritzbastei, Torsten Reitler. Aber darum gehe es auch nicht, sondern darum, "dass die Moritzbastei ohne WGT und das WGT eben auch ohne Moritzbastei nicht vorstellbar ist."
Torsten Reitler hofft nun auf reges Treiben, auch ohne WGT. So will die Moritzbastei ein Zeichen setzen: "Sehen und gesehen werden, sozusagen. Dass man noch existiert, dass man noch am Leben ist, dass die schwarze Szene trotz Corona noch lebt. Das wäre schon sehr, sehr toll und auch ein sehr schönes Erlebnis."
Für das Wochenende sind weitere Open-Air-Parties angekündigt, neben Stadt- und Friedhofsführungen und einem einen heidnischen Biergarten. Trotz Absage weht also dennoch ein Hauch WGT durch Leipzigs Straßen.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 30. Mai 2020 | 12:10 Uhr