NÄCHSTE GENERATION Leipziger Ensemble für mehr Diversität im Musiktheater: Schluss mit männlich, alt, elitär

14. März 2022, 15:32 Uhr

Mit relevanten, zeitgemäßen Themen und viel Kreativität will das Roter Mond Ensemble das Musiktheater entstauben. Das Trio aus Leipzig hat es sich auf die Fahnen geschrieben, nahbare und zugängliche Programme zu zeigen, die mehr Menschen ansprechen – unabhängig von Alter oder Nationalität. Und so begibt sich das Trio zum Beispiel auf die Suche nach dem Feminismus in Werken von Bertolt Brecht und Kurt Weill.

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Über das Format NÄCHSTE GENERATION

In unserem Format MDR KULTUR – NÄCHSTE GENERATION stellen wir junge Künstlerinnen und Künstler vor, die unsere Gesellschaft kritisch in den Blick nehmen, Debatten anregen und gleichzeitig Ideen für die Zukunft entwerfen wollen. Jeden zweiten Montag, stellen wir diese Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen vor – die Themen reichen von der Frage, ob es okay ist, das Elternsein zu bereuen, ob die 40-Stunden-Woche noch angemessen ist, bishin zu Klimaschutzfragen oder Patriotismuskritik.

Vor dem schweren, schwarzen Vorhang entsteht eine Bar aus Holz, darauf Flaschen und Gläser – das Bühnenbild wird aufgebaut, dazu erklingen Akkorde am Flügel. Es ist eine intensive Probenzeit für das Roter Mond Ensemble, das gerade mit seiner ersten Produktion an den Start geht. In der "Blackbox", einer der Probebühnen der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig, erzählt das Trio, was es antreibt.

Lissa Meybohm und Ayda-Lisa Agwa
Das Ensemble bei einer szenischen Probe in der "Blackbox" der HMT Leipzig Bildrechte: MDR/Mandy Schalast-Peitz

Ayda-Lisa Agwa und Lissa Meybohm lernten sich hier 2019 während ihres klassischen Gesangsstudiums kennen. Vor allem die Arbeit an einer politischen Oper inspirierte sie, eigene Produktionen auf die Beine zu stellen. Die Sopranistinnen wollen gesellschaftskritische, zeitgemäße Themen auf die Bühne bringen und ihr Publikum zum Nachdenken anregen.

Jüngere Menschen ansprechen

Dabei spielen auch die Erfahrungen eine Rolle, die sie bislang auf den Bühnen etablierter Opern- oder Konzerthäuser gesammelt haben: überwiegend männliche Regisseure und Intendanten, klischeebesetzte Rollen und ein sehr homogenes, älteres Publikum mit konkreten Erwartungen an die Aufführung klassischer Werke. "Man geht dahin, setzt sich hin, klatscht. Das ist zu viel Form und der Inhalt verschwindet langsam. Man weiß nicht mehr, was der Inhalt war" beschreibt Pianist, Komponist und Ensemblemitglied Ehsan Mohagheghi Fard die Situation im Konzertsaal.

Lissa Meybohm und Ayda-Lisa Agwa
Lissa Meybohm und Ayda-Lisa Agwa wünschen sich ein jüngeres, diverseres Publikum. Bildrechte: MDR/Mandy Schalast-Peitz

Doch in den Werken selbst liege das Potential, ein größeres Publikum anzusprechen. Man müsse nur herausholen, was heute interessiert. Gerade kleinere Companys und Ensembles, die die Möglichkeit haben, sich auszuprobieren, könnten einen großen Beitrag leisten, um mehr Menschen und jüngere Generationen für Musiktheater zu begeistern, meint Meybohm. Agwa beschreibt ihre Vorstellung von Musiktheater so:

Es sollte inklusiver sein, mehr Menschen mit einbeziehen, mehr Identifikationsflächen schaffen – für Frauen, für Menschen, die vielleicht nicht aus einer elitären Oberschicht kommen.

Kurt Weill und die Frauen

Das aktuelles Projekt des Ensembles heißt "Les Femmes de Kurt Weill" – ein szenisches Stück aus den Kompositionen von Kurt Weill, mit Songs der 1920er bis 40er Jahre. Zusammen mit der Regisseurin Stephanie Kuhlmann erarbeiteten sie eine Kollektion aus Weill-Stücken, die alle verschiedenen Geschichten entsprungen sind und machten daraus etwas Neues: Von Lied zu Lied verfolgt man das Schicksal zweier Frauen, die sich aus ihrem Leben in Prostitution und Unterdrückung befreien. Man begleitet die beiden auf ihrer Suche nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.

Roter Mond Ensemble
Das aktuelle Programm "Les Femmes de Kurt Weill" entführt in die 1920er bis 40er Jahre Bildrechte: Rico Molaro

Der musikalischen und szenischen Umsetzung von "Les Femmes de Kurt Weill" ging eine intensive Auseinandersetzung mit Leben und Werk des Komponisten voraus. Orientierung gaben die drei großen Schaffensphasen in Berlin, Paris und New York – und so wie Weills Karriereweg zusammen mit Bertolt Brecht in Deutschland begann, beginnt auch das Stück in einer Bar in Berlin. Der perfekte Spielort für diese "rohen Inhalte", meint das Ensemble. Bei Weill und Brecht kämen Menschen zu Wort, die am Rande der Gesellschaft stehen, die ihre Gefühle offen zeigen und sich äußern, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Roter Mond Ensemble
Das Roter Mond Ensemble schaut mit neuer Perspektive auf Musik und Texte von Kurt Weill und Bertolt Brecht Bildrechte: Rico Molaro

Es werden Themen angerissen, die auch noch heute relevant und auf aktuelle Lebenssituationen übertragbar sind: Wie baut man sich ein neues Zuhause auf? Wie findet man seine eigene Identität in der Fremde? Wie erfindet man sich neu? Dabei lassen sich auch zeitgemäße Debatten wie Frauenrechte und Feminismus ableiten – auch wenn diese im Musiktheater früher keine Rolle spielten. Hier sieht das Ensemble eine Chance, mit Rollenklischees zu brechen und, wie Meybohm mit Blick auf die Rollenbilder in der Oper meint:

Frauen aus dem echten Leben zu zeigen, die weder Heilige noch Hure sind.

Mehr Mitspracherecht im Ensemble

Lissa Meybohm
Sopranistin Lissa Meybohm Bildrechte: MDR/Mandy Schalast-Peitz

Um intensiv über die Inhalte sprechen und die Charaktere der Stücke wirklich ergründen zu können, war es den drei Künstlern wichtig, in einer kleinen Besetzung zu arbeiten. Diskussionen seien dabei Teil des Prozesses und auch nötig, weil alle gleichwertig sind und ihre Ideen einbringen können. Darin liege der Vorteil gegenüber einem alteingesessenen Haus, erklärt Lissa Meybohm: "Wir müssen ja niemandem was recht machen, sondern wir können uns ausprobieren. Ich glaube, damit ziehen wir auch junge und kreative Menschen an. Und Menschen, die einfach auch politisch denken und die uns dann vielleicht wieder anregen und mitgestalten."

Ehsan Mohagheghi Fard
Komponist und Pianist Ehsan Mohagheghi Fard Bildrechte: MDR/Mandy Schalast-Peitz

Alle drei arbeiten gern interdisziplinär, wollen sich nicht nur auf Musik oder Inszenierung konzentrieren, sondern mehrere Künste miteinander kombinieren. Dazu gehört auch ein ungezwungener Umgang mit dem musikalischen Werk, aus dem sich eine gestalterische Freiheit ergibt, meint Ehsan Mohagheghi Fard: "Diese Freiheit, die wir uns mit dem Material nehmen, ist irgendwie unendlich. Man kann alles machen."

Experimente, statt festgelegter Form

Ayda-Lisa Agwa
Sopranistin Ayda-Lisa Agwa Bildrechte: MDR/Mandy Schalast-Peitz

Im Moment steht die Adaption älterer Musik in einen zeitgemäßeren Kontext im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Doch das Trio kann sich in Zukunft ebenso vorstellen, eigene, zeitgenössische Musik zu machen. Auch eine Erweiterung des Ensembles sei denkbar, etwa um männliche Stimmen oder einen Erzähler – denn die Form soll weiterhin offen bleiben. Zu den Zukunftsvisionen gehören vertonte Gedichte ebenso wie Experimente mit Licht oder Tanz. Ayda-Lisa Agwa schwärmt für die klassische Musik in ihrer Vielfalt und Emotionalität: "Man kann so viel damit machen und einfach diese Form, diesen goldenen Käfig, in dem wir stecken, brechen – einfach mal raus und etwas wagen, was sich gut anfühlt."

Mehr Gesellschaftsdebatten in der Kultur

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR Kulturtipps | 20. Juli 2021 | 09:45 Uhr

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