Umzugsunternehmer Majdi Abdulhag steht in einem weißen Hemd vor einem Bibliotheksregal.
Als Umzugsunternehmer Majdi Abdulhag vom Brand in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 2. September 2004 erfuhr, machte er sich sofort auf den Weg, um zu helfen. Bildrechte: Luna Ragheb

Großbrand vor 20 Jahren Brand der Anna Amalia Bibliothek Weimar: "Wenn sie brennt, brennt auch das Herz dieser Stadt!"

03. September 2024, 08:44 Uhr

2. September 2004: Als Umzugsunternehmer Majdi Abdulhag vom Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar erfährt, macht er sich sofort auf den Weg. Er ist selbst kein Bücherwurm, aber er sagt: "Wenn die Bibliothek brennt, brennt auch das Herz dieser Stadt!" Er organisiert Kartons, Fahrer und Lkw, um die geborgenen Bücher in Sicherheit zu bringen – und setzt sich dafür auch über bürokratische Hürden hinweg. Im Interview erinnert er sich.

MDR KULTUR: Sie waren in der Brandnacht sofort zur Stelle. Wie war das denn? Hat Sie da jemand angerufen?

Majdi Abdulhag: Meine Tochter war gerade geboren. Sie ist im August geboren und wir wohnten in Niederzimmern. Und es gab keine Handys im Sinne von was wir heute haben. Wir hatten ein altertümliches Gerät. Wir hatten auf alle Fälle sehr schlechten Empfang. Und das Telefon klingelt, ich gucke drauf und sehe, es ist Dr. Post [Anm. d. Red.: Bernhard Post, langjähriger Direktor des Hauptsstaatsarchivs Weimar und Direktor des Thüringer Landesarchivs, inzwischen pensioniert] und sage: Wo brennt's? Denn Dr. Post ruft nicht in der Nacht an, außer man hat Wasser, Havarie oder sowas – und er sagt: die Herzogin. Ich habe meine Parterin darum gebeten, unsere Tochter ins Bett zu stecken und bin sofort losgefahren.

Was haben Sie dann gemacht?

Ich bin angekommen, hab mir das angeguckt, war schon ein bisschen geschockt, habe angefangen mitzumachen, bis ich an Dr. Knoche [damaliger Direktor der Bibliothek; Anm. d. Red.] herankam. Und dann habe ich ihm gesagt: Was halten Sie davon? Ich besorge so viele Kartons, dass wir einfach nicht auspacken müssen. Wir packen alles in Kartons, sind effizienter, sind schneller für den Weitertransport, der notwendig ist. Wir können nicht unten die Tiefenmagazine vollstapeln. Wir schleppen sonst die ganze Feuchtigkeit in die Tiefenmagazine. Wir gefährden quasi alles andere – nicht mit Feuer, sondern mit dem anderen Teufel: Schimmel, Feuchtigkeit [durch die Löscharbeiten wurden die Bücher nass; Anm. d. Red.]. Das hat er bestätigt.

Aber wie rettet man Bücher? Dann kam: Klar, sie müssen alle gekühlt werden. Dann wurde mit dem Weimarer Kühlhaus gesprochen. Denn die müssen immer die Hygienebestimmungen bedenken: Jetzt habe ich ein Kühlhaus, ich pack das voll mit Büchern – das ist normalerweise mit Lebensmitteln bepackt. Darf ich wieder Lebensmittel reintun? Muss ich reinigen? Leider muss sich der Kühlhaus-Betreiber solche Gedanken machen. Und wenn ich mich nicht irre, war es zwei Tage später, dass dann die Lkw Richtung Leipzig mit Kartons gerollt sind [ins Leipziger Zentrum für Bucherhaltung, wo die Bücher gefriergetrocknet wurden; Anm. d. Red].

Welche Hürden gab es?

Ich bin so weit gegangen, dass ich meinen Fahrschullehrer angerufen und gesagt habe, ich brauche deinen Lkw. Der sagte: Ja, aber ich habe keine Güterverkehrslizenz, ich bin Fahrschullehrer. Ich sagte: Den will ich sehen, der mich anhält und sagt: 'Sie haben keine Lizenz'. Dann mache ich ein Bild von Ihnen, schreibe Ihren Namen auf und sage: 'Herr so und so sorgte dafür, dass die Anna Amalia Bibliothek weiter untergeht.'

Es gab auch Diskussionen zu Fahrtenschreiber-Scheiben, wo ich sage, ich diskutiere mit niemandem hier. Wenn die Feuerwehr unterwegs ist, kann auch irgendjemand sagen, du bist jetzt zu lange unterwegs. Sie waren alle zu lange unterwegs. Ich behaupte, 21 Uhr bin ich dazugestoßen. Ich habe bis 18 Uhr des Folgetags durchgearbeitet. Abends bin ich erst einmal weggewesen, um am nächsten Tag dann die Transporter nach Leipzig zu managen [gerettete Bücher wurden nach Leipzig zur Gefriertrocknung gebracht; Anm. d. Red.].

Wie war denn vor dem Brand Ihre Verbindung zur Herzogin Anna Amalia Bibliothek? Und warum haben Sie sich in der Pflicht gesehen, zu helfen?

Ich war mit einer Frau befreundet, die arbeitete in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, und meine Partnerin zu damaliger Zeit ist Buchhändlerin. Die Anna Amalia gehörte zu dem Klientel, wo wir Bücher ausgeliefert haben. Das heißt, das Gebäude, die einzelnen Treppen und Gassen, wie man schneller reinkommt, welche Treppe ist einfacher, um was hoch- und runterzutragen – das gehörte zu meinen Gepflogenheiten.

Wenn das Haus brennt, dann brennt auch das Herz dieser Stadt.

Majdi Abdulhag, Umzugsunternehmer

Und ich sagte damals: Unsere Herzogin brennt. Als ob hier noch ein Adel existiert. Aber das war nicht der Adel der Herzogin, das war dieses Buch, diese Bindung, dieses Gebäude. Und wenn das Haus brennt, dann brennt auch das Herz dieser Stadt. Und ich bin entgeistert von Leuten, die ich später getroffen habe, die immer wieder Kultur als Last für die Wirtschaft und als ein Schwamm betrachten, der ihre Steuergelder entzieht, weil sie ja nun Stahlbauer sind oder ein Maurer oder Elektriker und mit sowas nichts zu tun haben.

Bücher zu retten – sind sie das wert?

Ich bin selbst kein Bücherwurm. Aber mein Vater hat mir damals beigebracht: Man muss nicht alles wissen, was im Buch ist. Man muss nur wissen, wo man nachschlagen kann. Und da gehört dazu, dass man die Bücher kennt.

Die Bücher sind das Gedächtnis der Nation.

Majdi Abdulhag, Umzugsunternehmer

Die Bücher sind das Gedächtnis der Nation. Im Nationalsozialismus wurden Bücher geschrieben, die müssen wir nicht alle vernichten. Wir können anhand der Literatur verstehen: Was wurde damals den Menschen propagiert, damit sie so denken?

Können Sie mit dem Helden-Begriff für sich etwas anfangen?

Ich glaube, das hebt mich auf einen viel zu hohen Stein oder eine viel zu hohe Säule. Das, was ich gemacht habe, ist nicht mehr, als jeder andere Helfer. Der Unterschied ist: Die meisten Helfer sind gute Akademiker, gut gebildete Menschen, und hatten nicht die Möglichkeit. Ich bin zu einem gewissen Maß frech oder unsensibel und gehe einfach zu meinem Fahrschullehrer und sage: Ich brauche deinen Lkw. Oder mit Herrn Knoche [damals Direktor der Bibliothek; Anm. d. Red.]. Ich sage 'Ich habe die Kartons' und nicht die Frage: 'Na, was machen wir denn? Also, ich habe gerade frische Kartons gekauft, muss ich ein Angebot schreiben?' Wir gucken uns beide an und sagen: ja.

Waren andere für Sie Helden in dieser Nacht?

Also für mich ist Dr. Post die allerwichtigste Person. Dr. Post ist diese Person, die einen klaren Kopf behalten hat. Er hat gesehen, wie sein Nachbargebäude brennt und überlegt, was muss ich tun. Er hätte auch einen Eimer Wasser nehmen können und löschen oder ein Buch wegtragen können. Aber er wusste ganz genau, das können hunderte andere genauso gut wie er. Aber wenn er den Hörer hebt und sagt: Thüringer Hauptstaatsarchiv, ich benötige das und jenes, lauscht jemand auf der anderen Seite ganz anders, als wenn einer von uns anruft und sagt: Ich brauche 1.000 Quadratmeter Lager, bei uns brennt's. Er hat den klaren Kopf gehabt.

Auch ohne Direktor Knoche und ohne bestimmte Bibliothekare, die genau wussten, welches Buch wichtig ist, und ohne den Feuerwehrmann, der neben uns mit so einer kleinen Spritzdose stand und immer nur einen kurzen Strahl gegeben hat, dass wir benebelt werden, hätten wir das alles nicht geschafft. Es war eine Ansammlung von technisch versierten Menschen, die mit jeder Minute besser miteinander verzahnt arbeiten konnten.

Das Interview führten Tino Dallmann und Romina Nikolić für MDR KULTUR. / Redaktionelle Bearbeitung: sg, cw

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 20. August 2024 | 09:05 Uhr

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