Gestorben am 16. Juli 1962 Lene Voigt: Die zehn wichtigsten Gedichte und Verse der Dichterin
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16. Juli 2024, 04:00 Uhr
Lene Voigt wurde am 2. Mai 1891 in Leipzig geboren und starb am 16. Juli 1962 auch in ihrer Heimatstadt. Sie begann schon früh zu schreiben und wurde mit ihren humorvollen Gedichten auf Sächsisch schnell bekannt. In der NS-Zeit wurde ihr Werk verboten, und auch in der DDR war sie unerwünscht. Erst nach ihrem Tod wurde die Dichterin wiederentdeckt. Heute werden Lene Voigts Gedichte in sächsischer Mundart besonders in ihrer Heimat Leipzig gerne gelesen und vorgetragen, ob "Säk’sche Glassigger" oder "Säk’sche Balladen". Schauspieler und Kabarettist Tom Pauls hat ihr sogar ein Buch gewidmet. Wir stellen die zehn wichtigsten Werke der Dichterin vor.
1. Geborn an dr Bleiße
Lene Voigt wurde am 2. Mai 1891 als Helene Alma Wagner in Leipzig geboren. Bereits mit 15 Jahren schrieb und veröffentlichte sie ihre ersten Gedichte. Ihre Verse in sächsischer Mundart gehen häufig auf die Eigenarten der Sachsen ein:
Geborn an dr Bleiße
Geborn an dr Bleiße, gibbt fröhliches Blut.
Wie's Lähm uns ooch ausfällt, so finden mirsch gut.
Mit Jammern un Glaachen gommt geener vom Fleck.
Was andre oft schwer nähm, das nenn‘ mir ä Dreck.
‘s hat jeder Daach Freiden, mer musse bloß sähn,
dann wärd uns ooch däächlich was Hibsches geschähn.
Denn Frohsinn is nitzlich fier Härz un fier Niern.
Mal ordentlich lachen gann Granke guriern.
Mir Leibzcher wärn oft mit dr Schbrache geneckt,
un doch liecht dadrinne ä Zauwer verschteckt:
Läbt eener von auswärts ä Jährchen bloß hier,
dann schbrichtr uff eenmal genau so wie mir!
2. Säk’sche Balladen
Nachdem sie ihre Gedichte zunächst in linken Zeitschriften und Zeitungen veröffentlichte, erschien 1925 Lene Voigts erster eigener Gedichtband. Ihre "Säk’sche Balladen" sind Parodien auf klassische Dichtungen. Die Dichterin nimmt darin klassische Balladen, etwa von Friedrich Schiller ("De Graniche des Ibigus"), auf die Schippe. Lene Voigts sächsische Version vom "Lied von der Loreley" ist wohl das bekannteste Gedicht der Sammlung:
Ausschnitt aus "De säk'sche Lorelei"
Jch weeß nich, mir isses so gomisch
Un ärchendwas macht mich verschtimmt
S'is meechlich, das is anadomisch,
Wie das ähmd beim Mänschen oft gimmt.
De Älwe, die bläddschert so friedlich,
Ä Fischgahn gommt aus dr Tschechei.
Drin sitzt 'ne Familche gemiedlich,
Nu sinse schon an dr Bastei.
Un ohm uffn Bärche, nu gugge,
Da gämmt sich ä Freilein ihrn Zobb.
Se schtriecheltn glatt hibbsch mit Schbugge,
Dann schtäcktsn als Gauz uffn Gobb.
3. Säk'sche Glassigger
Lene Voigt heiratete 1914 den Musiker Friedrich Otto Voigt, die Ehe wird später geschieden. Die Zeit zwischen Mitte der 1920er- bis Mitte der 1930er-Jahre sind Lene Voigts produktivste und erfolgreichste Phase als Dichterin. Sie kann als freie Schriftstellerin von ihrer Arbeit leben. Der Band "Säk'sche Glassigger" erscheint ebenfalls 1925. Von "Hamlädd" über "De Jungfrau von Orleang" bis "'s Gätchen von Heilbronn" – Lene Voigts Versionen von deutschen Klassikern im sächsischen Dialekt sind längst selbst zu Klassikern der Dialektdichtung geworden.
4. Hymne an den Kaffee
Den Menschen in Sachsen wird ja eine besondere Liebe zum Kaffee nachgesagt. Nicht von ungefähr kommt die Bezeichnung "Kaffesachse". Seit dem 18. Jahrhundert ist die Vorliebe der Sachsen für Kaffeekonsum belegt. Als echte Sächsin hat Lene Voigt dem Heißgetränk ein literarisches Denkmal gesetzt:
Hymne an den Kaffee
"Dr Gaffee is fier alles gut",
belehrte mich Frau Grassen,
"s gibbt nicht, wo där nich hälfen dut,
se genn sich druff verlassen.
Bei galten Fiesen, Liewesweh,
bei Gobbschmärz und bei Reißen,
da is ä Schlickchen Bohngaffee
Nich hoch genug zu breißen.
Im Lähm gibbt’s geene Laache, wo
dr Gaffee dät verfählt sin,
de ältsten Leite machtr froh,
wie lang se ooch schon off dr Welt sin.
Un steht dr Mänsch vor ä Entschluß
un gann sich schwär entscheiden,
ä richtcher Gaffee-Iwerguß
wärd sei Gehärne leiten.
Solange noch mei Gaffeebodd
steht in dr Ofenrähre,
find ich de ganze Wält dibbdobb,
da schert mich gee Gemähre.
5. Mei ärschter Abbelguchen
Zum Kaffee darf der Kuchen natürlich nicht fehlen – auch ihm hat Lene Voigt ein Gedicht gewidmet. Ihre Dichtung in sächsischer Mundart war bei ihren Zeitgenossen sehr beliebt. "Sie ist eine kleine Meisterin der sächsischen Schnurre; sie verfügt über einen angeborenen Mutterwitz, der niemals gequält, immer schlagend ist", heißt es in einer Rezension von 1930.
Mei ärschter Abbelguchen
Alles muß ä Weib versuchen,
geene Mihe därf mer schein.
Drum buk ich ä Abbelguchen
in dr Giche ganz allein.
Mir zur Linken in ä Näbbchen
schnitt ich Abbelschtickchen rein,
riehrte in ä Millichdäbbchen
dann ä häbbchen Hefe ein.
Budder, Zugger, Mähl un Eier
haut ich voller Schwung zusamm,
gam vor Freide ganz in Feier,
daß mer was zum Gaffee hamm.
Gosten daat ich wie besässen,
un eh' ich mirsch recht versah.
Hatt'ch dn ganzen Deich gefrässen,
's warn bloß noch de Äbbel da.
6. "Mir Sachsen – Lauter gleenes Zeich zum Vortragen"
Lene Voigts Dichtung kommt am besten zur Geltung, wenn sie laut vorgelesen wird. So trägt der 1928 erschienene Band "Mir Sachsen" auch den Untertitel "Lauter gleenes Zeich zum Vortragen". Eine zeitgenössische Rezension empfiehlt: "Im Freundeskreise einige dieser Sachen vorgetragen, machen gewiß jeden zum Liebling der Gesellschaft."
7. Schbiddelweiwer
Lene Voigt verlässt ihre sächsiche Heimat für einige Jahre. Sie lebt unter anderem in Bremen, Flensburg, München, Hamburg und Berlin und kehrt schließlich 1940 zurück nach Leipzig. Wie die "Schbiddelweiwer" kann sie auf ein bewegtes Leben zurückblicken:
Schbiddelweiwer
Se sitzen uff dr Gartenbank so friedlich
un ruhn sich aus vom Lähmsgamf jetz gemiedlich.
Hat jede ihrn Roman nu hinter sich.
Ä "häbbi änd" gabs freilich meerschtens nich.
Wenn mer se fraacht, obs frieher bässer war,
dann allerdings sin alle brombt sich glar:
"Eija, nadierlich, daß warn scheenre Zeeten!
Da gonnte doch de Juchend noch erreeten.
Gee Mänsch ging dorch ä Audomobbel dot,
fier zwanzich Fänge gabs ä Zweefundbrot,
in bunter Uniform liefs Milidär,
un geene Wohnungsnot bedrickte schwär.
Da glänzen alte Oochen nochmal blank,
de Schbiddelweiwer uff dr Gartenbank.
Die wärken blätzlich alle wieder jung.
Nuja, das macht ähmd de Erinnerung.
8. Dr Neid
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten konnte Lene Voigt zunächst noch schriftstellerisch tätig sein. Doch ab Mitte der 1930er-Jahre wurden ihre Bücher verboren – ihr wurde "Verschandelung der sächsischen Sprache" vorgeworfen und sie galt als politisch links. Der Dichterin fehlte ihre Lebensgrundlage, sie verarmte zunehmend. Zusätzlich erkrankte sie an Schizophrenie und wurde 1936 in der Nervenheilanstalt Schleswig behandelt. Doch sie schrieb weiterhin Gedichte:
Dr Neid
's is wärklich draurich awer wahr:
Dr Neid wärd in dr Welt nich rar.
Där hält sich wie ’ne Dauerwurscht
un schtillt wahrscheinlich nie sein' Durscht.
's gann eener noch so friedlich lähm,
manch andre Leite schteert das ähm.
Und dut mer geener Flieche was,
das schitzt een nich vor Neid un Haß.
Schon in dr Schule fing das an,
wie jeder sich erinnern gann.
Mer denkt so manchmal bei sich drin:
Der Neid muß änne Grankheet sin.
Ä grienes Gift, un wär das schlebbt,
wärd selwer um sei Glick genebbt,
schielt immer bloß nach andern schtramm,
ob die's nich ädwa besser hamm.
Doch wehe, wenn nu eener gar
beim Lodderieschbieln glicklich war!
Wäm sowas in de Dasche fließt,
där wärd vor Neid nich mähr gegrießt
9. Unverwüstlich
Lene Voigts Liebeserklärung an die Sachsen und ihren Lebensmut, das Gedicht "Unverwüstlich". Eine Strophe aus dem Gedicht steht auch auf ihrem Grabstein. Ihr Grab befindet sich auf dem Leipziger Südfriedhof. Die Dichterin starb 1962 in ihrer Geburtsstadt. Weil sie an Schizophrenie erkrankte, war sie 1946 ins Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie Leipzig-Dösen eingewiesen worden. Dort lebte sie auch nach ihrer Heilung bis zu ihrem Tod und war zuletzt in der Verwaltung tätig.
Unverwüstlich
Was Sachsen sin
von echtem Schlaach,
die sin nich dod zu griechn.
Drifft die ooch Gummer Daach fier Daach,
ihr froher Mut wärd siechen.
»Das gonnte noch viel schlimmer gomm'«
so feixen richtche Sachsen.
Was andre forchtbar schwär genomm',
dem fiehlnse sich gewachsen.
Un schwimm' de letzten Felle fort,
dann schwimmse mit und landen dort,
wo die emal ans Ufer dreim.
So is das un so wärds ooch bleim.
10. Bargarohle, Bärchschaft un sächs'sches Gindlrblud
Auch nach dem Ende der NS-Herrschaft blieb Lene Voigt als Dichterin unerwünscht. Sie konnte nicht wieder publizieren und in der DDR wurden ihre Werke zunächst nicht neu veröffentlicht. Der Grund: Sächsische Mundart wurde nicht verlegt – zu groß war die Gefahr, dass sie für eine Parodie auf das sächselnde Staatsoberhaupt Walter Ulbricht angesehen würde. Erst nach Lene Voigts Tod erschien 1982 die Sammlung "Bargarohle, Bärchschaft un sächs'sches Ginsdlrblud". Die Dichterin wurde wiederentdeckt, ihr Werk ist heute wieder lebendig und wird regelmäßig im Kabarett vorgetragen.
11. Bonus: Geheimtipp von Tom Pauls
Schon seit einigen Jahren beschäftigt sich der Schauspieler und Kabarettist Tom Pauls mit dem Werk von Lene Voigt und hat sogar eine literarische Biografie der Dichterin veröffentlicht: "Meine Lene". Er schätzt sie, weil sie zum einen "dieses sogenannte Obersächsisch am besten verkörpert und in Lautschrift allgemein verständlich verbreitet" hat und zum anderen, weil ihre Persönlichkeit ihn "zutiefst angerührt hat", "weil sie ihre Kraft und ihre Lebensphilosophie, die dem Sachsen so wunderbar entspricht, aus dem Schmerzen nimmt, ohne den Schmerz auszustellen."
"Sie stellt sich generell in ihrem Werk auf die Seite der Verlierer." Das trifft laut Pauls das Wesen des Sachsens, der sich selbst als Verlierer sieht und die Welt "aus einer Froschperspektive" betrachtet. Deswegen sind die Sachsen auch so eigenbrötlerisch, meint Pauls: "Das kann man verurteilen, man kann es aber auch als genial bezeichnen. Er ist dadurch, und da benutze ich mal ein neues Wort, resilient."
Das alles spiegelt sich auch in einem von Tom Pauls Lieblingstexten von Lene Voigt wider: "De Gogosbalme". "Warum mir dieses Gedicht gefällt: Lene Voigt wechselt in diesem Gedicht die Perspektive. Die Kokospalme als Pflanze erfährt durch den Rezipienten große Empathie. Scheinbar absurd, ist das aber eine typische sächsische Eigenschaft: Er betrachtet die Dinge von außen und trotzdem dann von innen."
De Gogosbalme
In e Blumdobb reckt de Halme
enne gleene Gogosbalme,
un die denkd so vor sich hin:
Eechendlich had’s gar keen Sinn,
daß ich draurich hier in Sachsn
mich so schinde midm Wachsn.
Schdreng ich mich ooch noch so an,
Nisse wärn ja doch nich dran.
Das gibd’s Glima gar nich här.
Also wachs ich ooch nich mähr.
Druff, zu enden ihre Bein,
ging de gleene Balme ein.
Quellen: Eigenrecherche MDR KULTUR, Klaus Petermann (Vorstand Lene-Voigt-Gesellschaft e.V.)
Redaktionelle Bearbeitung: Lilly Günthner
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 21. Februar 2024 | 12:10 Uhr