Collage "Bücher des Jahres 2024"
Die Literaturredaktion von MDR KULTUR hat die besten Bücher des Jahres 2024 zusammengestellt. Bildrechte: VERLAGE

Jahresrückblick Buchempfehlungen 2024: Die 15 besten Bücher des Jahres

17. Dezember 2024, 10:40 Uhr

2024 war die Auswahl an Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt riesig. Am Ende des Jahres bleibt der Rückblick und die schwierige Frage: Was hat Bestand? Unsere Literaturredaktion hat die Perlen aus dem großen literarischen Meer gefischt. Hier finden Sie 15 handverlesene Tipps für tolle Bücher – von fesselnden Romanen und Gedichtbänden, über informative Sachbücher bis zu wunderbaren Hörbüchern. Ein Literaturrückblick mit Lese-Empfehlungen und vielleicht der einen oder anderen Anregung für das perfekte das Weihnachtsgeschenk.

Romane und Lyrik

Martina Hefter: "Hey guten Morgen, wie geht es dir?"

Dieses Buch, das 2024 den Deutschen Buchpreis bekommen hat, führt mitten ins Gestirn. Nyx, Aamon, Salvan, so und ähnlich göttlich heißen Figuren in Martina Hefters neuem Roman, und mittendrin stehen Juno und Jupiter. Ein Künstlerpaar in mittleren Jahren, in Leipzig lebend, er leidet an Multipler Sklerose, sie an Schlaflosigkeit. Aber ums Leid geht's hier kaum, sondern um das, was aus den Momenten wächst.

Cover Martina Hefter: „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“,
Martina Hefters Roman "Hey guten Morgen, wie geht es dir?" wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2024 ausgezeichnet. Bildrechte: Klett-Cotta

Da scrollt die schlaflose Juno durch ihre Nachrichtenanfragen bei Instagram und landet bei Love-Scammern, die mittelalten Frauen das Geld vom Konto säuseln. Mit Witz und Ironie hebelt Juno diese Insta-Playboys aus – und geht trotzdem mit Benu aus Nigeria eine sonderbar-romantische Chatbeziehung ein. Tanzen, Chatten, Tätowieren lassen, Martina Hefter versteht es sondergleichen, die Welt der mittelalten Frau zu erzählen, uns mitzunehmen in analoge Schlaflosigkeit und digitale Ablenkung, in prekäre Kunstexistenzen und Sehnsüchte im Alltag. Leipzig wird zum verzauberten Götterhain in diesem liebevollen Roman.

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Martina Hefter: "Hey guten Morgen, wie geht es dir?"
Verlag Klett-Cotta 
224 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-608-98826-0

Simone Buchholz: "Nach uns der Himmel"

Acht Menschen in einer Urlaubsstadt am Meer, Hitze, Drinks, und es war gar nicht so einfach, dorthin zu gelangen. Denn das Flugzeug hat den ersten Anflug verpasst, nun aber steht der Urlaub an für zwei Pärchen, die sich lang kennen, für Sara und Marc mit ihrem schwerkranken Sohn Vincent und für Heidi, die smarte Geschäftsfrau. Doch irgendetwas stimmt nicht in dem Idyll – die Inselbewohner sind nicht ansprechbar, die Grenzen des Urlaubsortes scheinen nicht überwindbar und irgendwie ist da noch ein großes Loch, eine seltsam anziehende Dunkelheit. Währenddessen sitzt ein abgehalfterter Privatdetektiv in Los Angeles vor seiner halbvollen Scotchflasche und bekommt Besuch von einer Inspektorin. Denn, das wird langsam klar, dass da acht Menschen nicht etwa in einen sonnigen Urlaub geflogen, sondern auf einem ganz anderen Trip sind, das ist seine Schuld …

Cover des Buchs "Nach uns der Himmel" von Simone Buchholz zeigt den Blick aus Flugzeugfenstern aufs Meer.
Der Roman "Nach uns der Himmel" erzählt von seltsamen Vorkommnissen in einem Urlaubsidyll. Bildrechte: Suhrkamp

Nach dem Vorgängerroman "Unsterblich sind nur die anderen“ (bekannt auch unter dem Hashtag #Segelsexbuch) schickt die Hamburger Autorin einmal mehr in eine mysteriös-sinnliche Geschichte, in der die Götter auftauchen, die wir längst vergessen hatten und in der die ganz großen Fragen entschieden werden, während Leonard Cohen auf einer Couch im Jenseits sitzt, wo die Cocktails die besten, die Barmänner die schönsten und der Sonnenuntergang permanent ist. Simone Buchholz’ Literatur ist zwischen die Realität und die Magie geschrieben – in die Zwischenreiche, die unser Dasein erst spannend machen. Dieser Roman vermag nicht weniger, als die Angst vor dem Tod zu nehmen.

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Simone Buchholz: "Nach uns der Himmel"
Suhrkamp Verlag
218 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-518-47276-7

Maylis de Kerangal: "Weiter nach Osten"

Es sind zwei Themen, aus denen fast alle menschliche Literatur entspringt: die Liebe und der Krieg. Hier trifft sich beides. Ein junger Mann auf der Transsibirischen Eisenbahn, er ist zwangsrekrutiert und bereits auf dem Weg zu dem ihm unbekannten Ziel – niemand weiß, wohin die Reise genau geht, zu welchem Stützpunkt, in welchen Krieg – da wird er von Mitrekruten misshandelt. Er beschließt zu desertieren, eine Aktion, die den sicheren Tod bedeutet, wenn sie nicht erfolgreich ist. Auf seinem Weg durch den Zug trifft er die Französin Hélène, auch sie eine Desertierte, quasi, denn sie hat sich freigemacht von ihrem russischen Liebhaber Richtung Paris.

Cover des Buches "Weiter nach Osten", Bahngleise, im Hntergrund Berge
Der Roman "Weiter nach Osten" der französischen Autorin Maylis de Kerangal ist hochaktuell. Bildrechte: Suhrkamp Verlag

Auch wenn die beiden sich nicht durch die Sprache verstehen, sie gehen eine Allianz ein. Jenseits irgendwelcher cheesy Affären, nein, es ist viel raffinierter. Und der Schluss gehört zu den schönsten Szenen, die wir je gelesen haben. Ein Roman von frappierender Aktualität: die Situation der russischen Soldaten, die Richtung Ukraine geschickt wurden, ohne zu wissen, wohin es geht, die Behandlung der Menschen als Material, entpersonalisiert, Strategie-gebunden … Das französische Original stammt von 2012, was völlig egal wird. Denn in diesem aktuellen Roman sitzt jeder Satz, jede Erzählposition und jede Kameraführung ist elegant gestaltet, hinreißend übersetzt. Ein perfekter Roman, schmal, zart, atemberaubend.

 Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Maylis de Kerangal: "Weiter nach Osten"
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp Verlag
90 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-518-43212-9

Thomas Podhostnik: “Dear Mr. Saunders. Briefroman/Zweiter Brief: Ich, Untermensch“

Im zweiten Teil seines Briefromans lässt Thomas Podhostnik seinen Romanhelden Serge in die Stadt Leipzig und dort zur Aufnahmeprüfung in die Kunst-Akademie ziehen: Das Gastarbeiterkind (ein Wort, das im Jahr 2024 genauso nach Loser klingt wie schon in den 60er-Jahren), will Schriftsteller werden. Wer, wenn nicht er, der sich mit der Lektüre der Werke von Thomas Mann und Franz Kafka für die Teilnahme am literarischen Betrieb der Deutschen fitgemacht hat, gehört hierher und sollte eingeladen sein zum gesellschaftlichen Aufstieg mit den Mitteln von Sprache und Kunst? Was nur eines von mehreren Missverständnissen ist – und es ist, wie schon im ersten Teil, Podhostniks feines Gespür für die Möglichkeiten von Ironie, Selbsterhöhung und tiefer Scham, das dieses Buch so leicht und subversiv macht.

Buchcover - Thomas Podhostnik: “Dear Mr. Saunders.", darauf die Zeichnung von zwei Männern
Thomas Podhostniks Briefroman ist im Kölner Verlag Parasitenpresse erschienen. Bildrechte: Verlag Parasitenpresse

Grandios die Episoden an der Literatur-Akademie (die natürlich an das Leipziger Literaturinstitut erinnert): Da trifft das mit allen Literaturförderwassern gewaschene "Lyrikgeschöpf" auf den schon mal Literaturstar spielenden Roman-Rowdy, und zwischen allen, fremd im bürgerlichen Milieu an der Akademie und entfremdet allmählich auch der eigenen Herkunft, der ewig zweifelnde Serge. Die Kommilitonen, die er nun trifft, das sind am Ende doch die, die gestern als "die Gymnasiasten" noch seine erklärten Feinde waren und es prinzipiell immer noch sind. Denn auch im Gedicht-Seminar geben die höheren Töchter und Söhne mit ihrer Preisjury-Lyrik den Ton an. Er, Serge, hingegen fährt nach dem Seminar mit seinen Gefährten aus dem Milieu durch die Stadt Leipzig und knackt Wohnungen und Einfamilienhäuser.

"Wer keine Macht hat, ist völlig bedeutungslos, und das gilt auch für die Literatur." Das ist ein scharfer und kalter Satz, der diesem Buch und dem gesamten Roman-Projekt von Thomas Podhostnik als Programm dienen könnte. 

 Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Thomas Podhostnik: “Dear Mr. Saunders. Briefroman/Zweiter Brief: Ich, Untermensch“
Verlag Parasitenpresse
114 Seiten, 14 Euro
ISBN: 978-3-988-0504-5

Marie T. Martin: "Der Winter dauerte 24 Jahre: Werke und Nachlass"

Nicht einmal 40 Jahre alt wurde die Dichterin Marie T. Martin und hinterließ doch schon ein bedrängend klares Werk aus Gedichten und kurzer Prosa. 400 Seiten umfasst nun dieses Buch – und kaum ein Text findet sich darin, von dem nicht ein souverän in Sprache gesetztes Geheimnis ausgeht. Manche Zeile, manches Bild scheint von der Trauer und der Todesahnung gesetzt, aber ebenso scheinen viele Texte doch auch einer solchen Verschränkung von Text und Biografie zu widersprechen. Nein, diese Sprach-Gebilde werden durch den frühen Tod der Autorin nicht irgendwie interessanter, sie gehen über das rein Biografische weit hinaus.

Buchcover Marie T. Martin: "Der Winter dauerte 24 Jahre: Werke und Nachlass"
Die Werke und der Nachlass der früh verstorbenen Dichterin Marie T. Martin sind im Poetenladen erschienen. Bildrechte: Poetenladen Verlag

Marie T. Martin war eine Dichterin, die aus Details Metaphern komponieren konnte und aus Alltag Poesie. Meist reicht schon eine winzige Verschiebung, ein kleines Stolpern sozusagen im logischen Ablauf und planvollen Schreiben – und schon ergibt sich die Lücke, aus der das Gedicht wächst, denn: "Überall können wir singen/ im Hinterhof an der Kasse des Supermarkts/ in der Küche nachts wenn die Nachbarin/ die Stirn auf die Tischplatte legt/ und die Schaufenster leuchten/ überall können wir den Mund öffnen …"

 Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Marie T. Martin: "Der Winter dauerte 24 Jahre: Werke und Nachlass"
Verlag Poetenladen
432 Seiten, 32,80 Euro
ISBN: 978-3-948305-26-0

Sachbücher

Stefanie Jaksch: "Über das Helle. Radikale Zuversicht in herausfordernden Zeiten"

Der Morgen ist immer weiser als die Nacht, so sagt es eine gründliche Erfahrung, in der Nacht kommen mit den Schatten die eigenen Schatten ins Gemüt, lassen die Gedanken kreisen und plötzlich nicht mehr wissen, ob es sie überhaupt gibt, die Helligkeit. Geht die Sonne morgen wieder auf? Daran zu glauben heißt Zuversicht haben, und um die geht es in Stefanie Jakschs klugem und optimistisch anregendem Buch, in dem sie der Katastrophenlage unserer Welt in der Klima- und Gesellschaftskrise den Widerstand der Helligkeit entgegensetzt.

Cover: Stefanie Jaksch: "Über das Helle.", Schriftzug vor grünem Hintergrund
Stefanie Jaksch verbreitet in ihrem Essay "Über das Helle" Zuversicht. Bildrechte: Haymon Verlag

Gleich einem Stundenbuch schreibt Stefanie Jaksch sich an das Helle heran, beginnend um drei Uhr nachts, schlaflos, gedankenverloren und endend um acht Uhr morgens mit dem ankommenden Tag. Sie findet die Dunkelheiten der Einsamkeit und Frauenfeindlichkeit, des Nationalismus, des "Ageism" und vieles mehr – und setzt der Furcht ein anderes Fühlen entgegen, Lichtfiguren und eine radikale Zuversicht, so wie sie im Titel steht. Ein essentieller Essay, der vielleicht nicht besser schlafen lässt, aber doch hoffnungsvoller wach sein.

 Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Stefanie Jaksch: "Über das Helle. Radikale Zuversicht in herausfordernden Zeiten"
Haymon Verlag
216 Seiten, 22,90 Euro
ISBN: 978-3-7099-8237-2

Steffen Mau: "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt"

"Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört": Als Willy Brandt diesen Satz am 10. November 1989 ausspricht, ist die Zuversicht groß, die deutsche Einheit würde schnell und reibungslos verlaufen. Dass es nicht so kommt, merken die Deutschen in Ost und West schnell. Steffen Mau stellt in seinem Buch fest, dass Brandts optimistischer Glaubenssatz genau jene Unterschiede überdeckt, die sich aus der geteilten Geschichte der DDR und der BRD ergeben und die sich in den letzten Jahrzehnten verfestigt haben.

Buchcover mit Deutschlandkarte: Steffen Mau, Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt.
Der Soziologe Steffen Mau analysiert die ungleiche Entwicklung von Ost- und Westdeutschland nach der Wiedervereinigung. Bildrechte: Suhrkamp Verlag

Er schlägt deshalb vor, diese Ungleichheit zu akzeptieren und sogar anzuerkennen, was einen entlastenden, fast therapeutischen Effekt hat. "Ungleich Vereint. Warum der Osten anders bleibt" ist ein aufschlussreiches kluges Buch, das seinen Lesern einen frischen Blick auf festgefahrene Diskussionen liefert und genau das tut, was es fordert: den Osten mit seinen Eigenheiten akzeptieren und respektieren.

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Steffen Mau: "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt"
Suhrkamp Verlag
168 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-518-02989-3

Kultur

Buchcover von Sachbüchern zum Thema Ostdeutschland mit Audio
Diese fünf Bücher über Ostdeutschland sollte man gelesen haben: Christina Morina – "Tausend Aufbrüche", Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann – "Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat", Steffen Mau – "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt", Ines Geipel – "Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück", Sascha-Ilko-Kowalczuk – "Freiheitsschock" Bildrechte: Collage: Siedler Verlag / Hanser Verlag / Suhrkamp Verlag / S. FISCHER / Verlag C. H. Beck

Tanja Raich (Hg.): "Frei sein. Das Ringen um unseren höchsten Wert"

Es ist eine These, aber eine sehr belastbare, dass Freiheit immer mit Bewegung zu tun hat: mit der gedanklichen, der tatsächlichen, mit einer Regung, einer Aktion, einem Verschieben von Kräften. Wieviel Bewegung in dem so aufgeladenen Begriff der Freiheit stecken kann, erzählen in dieser Anthologie gleich neunzehn Autor*innen, eine Herausgeberin und der Illustrator Nicolas Mahler. In sehr persönlichen Essays forschen sie dem Freiheitsbegriff hinterher, denn was meinen wir eigentlich, wenn es wir von "Frei sein" sprechen? Die Autorin Caroline Kraft etwa erzählt vom Zusammenhang von Freiheit und Disziplin, erzählt von ihrer eigenen Ballett-Erfahrung.

Cover "Frei sein. Das Ringen um unseren höchsten Wert", Schriftzug vor orangenem Hintergrund
"Frei sein" heißt der Essay-Band, der 2024 im Verlag Kein & Aber erschienen ist. Bildrechte: Verlag Kein & Aber

Für Elisabeth Wellershaus hat Freiheit mit Meer zu tun, für Franziska Hauser stellt sich die Frage, wie Freiheit und Besitz zusammengehen. In ganz unterschiedlichen Texten werden Gedanken über Kraft, Protest, Feminismus, Konsum, Sex, Besitz, Körper und weiteres verhandelt. Mal mehr, mal weniger literarisch oder journalistisch, immer nah am Eigenen und immer extrem anregend. Leider ein Buch, das quasi täglich an Aktualität gewinnt, in Momenten, in denen Patriarchat und Populismus, turbokapitalistisches und misogynes Handeln in gesteigertem Verhältnis unsere Lebenswirklichkeiten bestimmen. Eines der wichtigsten Bücher dieses Jahres.

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Tanja Raich (Hg.): "Frei sein. Das Ringen um unseren höchsten Wert"
Verlag Kein & Aber
240 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-0369-5028-0

Henryk Gericke: "Tanz den Kommunismus: Punkrock DDR 1980 bis 1989"

Welch ein Glück, dass es Autoren wie Henryk Gericke gibt. Als Punk, Autor, Galerist und Herausgeber verschiedener literarischer Projekte war und ist Gericke oft mit dabei in Ost-Berlin und ist doch nicht, wie manch anderer, zum "Prenzelberg"-Erklärer geworden. Dissident ja, aber eben auch nach 1989 nicht so recht einzusortieren, weil ohne Lust auf das Nachplappern der immergleichen So-war-der-Osten-Muster. Das komplizierte Geflecht von ästhetischer und politischer Revolte, von Freundschaft, Beistand und Verrat ist nur in unendlicher Klein- und Erzählarbeit zu entwirren, und ein bis heute vergleichsweise unentdeckter Biotop war eben der der ostdeutschen Underground-Bands.

Buchcover: Henryk Gericke: "Tanz den Kommunismus: Punkrock DDR 1980 bis 1989"
Das Sachbuch "Tanz den Kommunismus" ist im Berliner Verbrecher Verlag erschienen. Bildrechte: Verbrecher Verlag

Während sich brave Journalisten noch immer den Schädel zermartern, ob und wie dolle denn die Puhdys, Karat oder Petra Zieger "auch staatskritisch" waren, erzählt Henryk Gericke, wie in ostdeutschen Kellern Tonbandkassetten mit kreaturenhaft wildem Ost-Punk bespielt wurden. Hier ging es nicht um einen besseren Sozialismus oder um ein größeres Guckloch in der Mauer – hier ging es diffus und beseelt gegen die System-Denke im Allgemeinen.

Manches von Bands wie "Rosa Extra", "L’Attentat" oder "The Leistungsleichen" klingt auch heute noch schräg und irre, manches bloß rührend dilettantisch. Und Gericke kann beschreiben, warum das so ist. Glücklicherweise hat er dazu noch viele alte Aufnahmen archiviert und wiederaufgelegt – gut geeignet zum Kopf-Durchspülen in den Lesepausen. Fazit: Wir waren Punks, weil wir jung waren und uns gelangweilt haben! Im besten Fall trägt dieses Motto auch heute noch und macht sensibel für alles, was nach künstlerischer Berechnung und marktstrategischer Eingemeindung klingt.

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Henryk Gericke: "Tanz den Kommunismus: Punkrock DDR 1980 bis 1989"
Verbrecher Verlag, Berlin 2024
280 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-95732-584-6

Wolfram Eilenberger: "Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung 1948 – 1984"

Philosoph Eilenberger beendet mit diesem Buch sein grandioses und einzigartiges Projekt der philosophiegeschichtlichen Flanierkunst: von der "Zeit der Zauberer" über die "Feuer der Freiheit" nun zu den "Geistern der Gegenwart". Von Heidegger und Wittgenstein über Hannah Ahrend und Simone de Beauvoir bis zu Adorno, Susan Sonntag und Michel Foucault (und anderen): Was ist, nach Romantik, Erstem und Zweitem Weltkrieg geblieben vom Projekt Aufklärung?

Buchcover: Wolfram Eilenberger: "Geister der Gegenwart.", darauf ist ein Pool abgebildet
Der Philosoph Wolfram Eilenberger widmet sich in seinem aktuellen Buch einer "neuen Aufklärung". Bildrechte: Verlag Klett-Cotta

Diese konkrete Frage ist Gegenstand der "Geister der Gegenwart", die Eilenberger vor allem über ihren Bruch mit früheren Philosophie-Konzepten erfasst: Statt der großen ganzheitlichen Konzepte (wie bei Kant oder Hegel) dreht es sich nun, seit den 50er-Jahren, um das konkrete Ereignis, die gezielte Intervention, die immer auch von der Biografie der Philosophen ausgeht und dahin zurückführt. Susan Sontags Beziehungseskapaden, Foucaults homoerotische Fantasien und Adornos konkrete Erlebnisse als deutscher Jude sind wesentlicher Impuls einer Philosophie, die somit auch durchlässiger wird in Richtung Literatur, Alltag und Pop-Kultur.

Wolfram Eilenbergers elegant geschriebenes Sachbuch funktioniert als Überblicksdarstellung und spornt zugleich dazu an, tiefer in die Werke der jeweiligen Denkerinnen und Denker einzutauchen. Philosophiestunden, die kein bisschen nach Schweiß und Schule riechen.

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Wolfram Eilenberger: "Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung 1948 – 1984"
Verlag Klett-Cotta
496 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3-608-98665-5

Hörbücher

Daniela Krien: "Mein drittes Leben" gelesen von Nina Kunzendorf

Ihre Bücher sind wie lautlose Bomben. Ihre Figuren schickt sie in Abgründe, aus denen heraus sie langsam und undramatisch ihren Alltag zu meistern versuchen. Hier ist es Linda, die alles hat: ein gutes Leben mit Mann Richard und Tochter Sonja, eine schöne Wohnung im besten Stadtteil Leipzigs, einen großen Freundeskreis. Doch dann überrollt ein LKW die Tochter und Lindas Leben stürzt in sich zusammen. Des Hiobsgeschehens nicht genug, erkrankt sie auch noch an Krebs. In aller Trauer und Schockstarre zieht sich Linda aufs Land zurück, beendet ihre Ehe und fängt ihr anderes, drittes Leben an.

Cover Daniela Krien: „Mein drittes Leben“
In ihrem Roman "Mein drittes Leben" erzählt die Leipziger Schriftstellerin Daniela Krien von einem schmerzvollen Verlust. Bildrechte: Diogenes Verlag

In diesem Buch treffen wir alte Bekannte aus früheren Krien-Romanen, wie die Schriftstellerin Brida, und gehen mit einer Frau einen Weg durch die Krise. Was ist wichtig im Leben, wenn einem das Wichtigste genommen ist? Dieser Frage geht dieser Roman klar und zart nach, eine berührende Lektüre, welche die ganze lebenskluge Erzählkunst Daniela Kriens offenbart. Die Schauspielerin Nina Kunzendorf liest diesen Roman in ihrer eigentümlich spröden und dabei nahen Art und Weise, sie gibt Linda einen Ton, der nachhallt.

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Daniela Krien: "Mein drittes Leben" gelesen von Nina Kunzendorf
Diogenes Verlag
6 Stunden 55 Minuten, 10,95 Euro (Download)
ISBN: 978-3-257-69582-3

Boris Pasternak: "Doktor Shiwago" gelesen von Jürgen Hentsch

Der Roman "Doktor Shiwago" von Boris Pasternak ist eine Wegmarke der neueren russisch-sowjetischen Literatur. 1956 fertiggestellt, wurde "Doktor Shiwago" nach einer ebenso breiten und epischen Veröffentlichungsgeschichte in der Sowjetunion erst im Jahr 1988, nach Beginn der Perestroika, veröffentlicht. Zuvor war der Roman nur in Übersetzungen oder im Ausland erschienener russischsprachiger Ausgabe zu lesen. 1958 erhielt Boris Pasternak den Literaturnobelpreis, den er jedoch aus politischen Gründen nicht annehmen konnte.

Schauspieler Jürgen Hentsch vor einem Mikrofon
Der Schauspieler Jürgen Hentsch hat den Roman "Doktor Shiwago" von Boris Pasternak als Hörbuch eingelesen. Bildrechte: MDR/Dabdoub

Der Audio-Verlag hat nun eine von Jürgen Hentsch gelesene Lesung des Romans wieder aufgelegt – und tatsächlich gelingt es diesem (2011 verstorbenen) Schauspieler, mit kontrolliertem Pathos mal so nah wie möglich und dann wieder nur so nah wie nötig an diesen opulenten Text heranzugehen. Zwei Weltkriege, eine Revolution samt Bürgerkrieg und dazu allerlei Liebesgeschichte und -verwirrung werden von Pasternak zu einem Epochenroman verwoben und von Jürgen Hentsch (er spielte in Filmklassikern wie "Ich war neunzehn" oder "Zeit der Störche", aber auch in "Derrick", "Tatort" oder "Der Alte") in ihrer ganzen Weite und Vielschichtigkeit entfaltet. Ein Hörbuch für lange Abende, an denen man sich gar nicht rausbewegt und trotzdem auf große Fahrt geht!

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Boris Pasternak: "Doktor Shiwago" gelesen von Jürgen Hentsch
Aus dem Russischen von Thomas Reschke
Der Audio Verlag
20 Stunden 12 min, 30 Euro
ISBN: 978-3-7424-3245-2

"Trakl-Sound". Gedichte

Wer ist eigentlich dieser Trakl? Georg Trakl war einer der wichtigsten Dichter des Expressionismus. Geboren 1887 in Salzburg, starb er 1914 mit nur 27 Jahren an einer Überdosis Kokain, nachdem er als Sanitätsleutnant die Grauen des Ersten Weltkrieges erlebt hatte. Doch sein kurzes Leben reichte Georg Trakl aus, um ein eindrucksvolles lyrisches Werk zu schaffen. Vier Gedichtbände, von denen zwei postum erschienen, können wir heute noch lesen.

Cover des Hörbuches: "Trakl-Sound". Gedichte bunte Zeichnungen.
"Trakl-Sound" ist im Audio Verlag erschienen. Bildrechte: Der Audio Verlag

110 Jahre nach seinem Tod hat der renommierte Hörspielregisseur Torsten Feuerstein 32 Schauspielerinnen und Schauspieler gebeten, Gedichte von Georg Trakl einzusprechen, darunter so prominente Namen wie Paula Beer, Hannah Herzsprung, Felix Kramer und Albrecht Schuch. Entstanden ist eine eindrucksvolle Sammlung von Texten und Stimmen, eingebettet in ein sphärisches Sounddesign von Rainer Oleak, die zusammen tatsächlich einen "Trakl-Sound" ergeben. "Keine leichte Kost", wie Stefan Maelck in seiner Hörbuchbesprechung für MDR KULTUR feststellt, aber doch eine sehr hörenswerte Produktion, die gerade in Zeiten, in denen der Krieg auch in Europa wieder wütet, dazu einlädt, über existenzielle Fragen nachzudenken und nach Trost in der Literatur zu suchen. 

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

"Trakl-Sound". Gedichte
Der Audio Verlag
2 Stunden 27 Minuten, 18 Euro
ISBN: 978-3-7424-3282-7

Charly Hübner: "Wenn du wüsstest, was ich weiß …"

Als der Schauspieler Charly Hübner das erste Mal ein Buch von Uwe Johnson entdeckte, glaubte er, dass der Mann wie im Englischen "Johnson" heiße, also wie Don Johnson oder Johnson City. Erst später erfuhr er, dass dieser Schriftsteller einen deutschen Namen trug und dazu gar nicht so weit weg von seinem eigenen Geburtsort zur Welt kam. Charly Hübner wurde 1972 in Neustrelitz geboren, Uwe Johnson 1934 im pommerschen Cammin. Doch als Charly Hübner zum ersten Mal die legendären "Jahrestage" von Uwe Johnson las, war der schon ein paar Jahre tot, aber er hatte seinen Lieblingsschriftsteller gefunden.

Cover des Buches "Wenn du wüsstest, was ich weiß…" Darauf hält Charly Hübner ein Buch in der Hand und lächelt.
Der Schauspieler Charly Hübner hat ein Buch über seinen Lieblingsautor Uwe Johnson geschrieben. Bildrechte: Suhrkamp Verlag

Seine "Neun Versuche zu Uwe Johnson" beginnt Charly Hübner mit einem Zitat von Bob Dylan und einem von Uwe Johnson. Damit ist der Ton gesetzt. Denn hier schreibt ein Mann, der neben dem Schauspiel zwei große Leidenschaften hat, die Musik und die Literatur, (die Leidenschaft für Musik kann man gerade in dem ebenfalls tollen Dokumentarfilm "Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin" über Element of Crime besichtigen). Über seinen Lieblingsschriftsteller sagt Charly Hübner gleich am Anfang des (Hör)buches: "Uwe Johnson ist eh der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts" und findet das zwar selbst etwas übertrieben. Aber auch wieder nicht. Warum nicht, davon handeln seinen neun Versuche.

Es ist die persönliche Annäherung eines leidenschaftlichen Schauspielers an einen leidenschaftlichen Schriftsteller, und es ist ein großes Vergnügen, dem Schauspieler zuzuhören, der seinen Text selbst vorliest, in sonorem, leicht norddeutsch gefärbtem Tonfall. Zu erleben ist Literaturvermittlung im besten Sinne, denn wenn das Hörbuch zu Ende ist, will man sofort alles von Uwe Johnson (noch einmal) lesen.

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Charly Hübner: "Wenn du wüsstest, was ich weiß …" Neun Versuche zu Uwe Johnson
Der Audio Verlag
2 Stunden 44 Minuten, 20 Euro
ISBN: 978-3-7424-3459-3

Elisabeth Strout: "Am Meer" gelesen von Barbara Stoll

Elisabeth Strout gehört zu den Schriftstellerinnen, von denen man, hat man sie einmal entdeckt und gemocht, nicht mehr lassen kann. Denn fast alle ihre Romane sind miteinander verbunden, erzählen immer wieder neu von ihren Figuren, sei es von Olive Kitteridge oder von Lucy Barton, einer New Yorker Schriftstellerin, die bereits die Hauptrolle in "Die Unvollkommenheit der Liebe", "Alles ist möglich" und "Oh William" spielte.

Buchcover: Elisabeth Strout: "Am Meer"
Elisabeth Strouts Roman "Am Meer" wurde von Barbara Stoll als Hörbuch eingelesen. Bildrechte: Penguin Random House

Auch in "Am Meer" begegnen wir Lucy Barton wieder, die mit ihrem Ex-Mann William in ein Häuschen ans Meer flüchtet, denn in der Stadt wütet die Corona-Pandemie. Lucy und William, die auch nach ihrer Scheidung eine milde Freundschaft miteinander pflegen, wollen eigentlich nur ein paar Wochen bleiben, doch es werden viele Monate daraus, in denen ihnen genug Zeit bleibt, über ihr gemeinsames und nicht gemeinsames Leben zu sprechen. Das klingt nach einer recht konventionellen Geschichte ohne große Überraschungen und das ist es auch.

Doch dieser Roman lebt wie alle Bücher von Elisabeth Strout vor allem von der Herzenswärme und der Lebensweisheit der amerikanischen Autorin. Sehr glaubhaft und mit leisem Humor erzählt sie nur scheinbar beiläufig von den Schicksalen ganz normaler Menschen, die in einer immer komplexer werdenden Welt und gegen alle Widerstände nie den Blick für den Nächsten verlieren. Deshalb ist "Am Meer" ein tröstendes und ermutigendes (Hör)buch, das hier von Barbara Stoll mit ihrer weichen einnehmenden Stimme sehr passend gelesen wird.

Angaben zum Buch (zum Ausklappen):

Elisabeth Strout: "Am Meer" gelesen von Barbara Stoll
aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
Der Diwan Hörbuchverlag
6 Stunden 30 Minuten, 25 Euro
ISBN: 978-3-949840-36-4

Redaktionelle Bearbeitung: Lilly Günthner

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Unter Büchern | 04. Dezember 2024 | 18:00 Uhr

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