Alte Postkarte von Chemnitz in Sachsen, Blick vom neuen Rathausturm 1929
Zahlreiche Schornsteine und Fabrikbauten prägten einst das Stadtbild von Chemnitz (Aufnahme von 1929). Bildrechte: imago/Arkivi

Interview zur Stadtgeschichte Kulturhauptstadt 2025: Wie sich Chemnitz immer wieder neu erfinden musste

08. Februar 2025, 04:00 Uhr

Chemnitz ist heute für Vieles bekannt: Europäische Kulturhauptstadt 2025, den großen Karl-Marx-Kopf, Architektur der Ostmoderne, aber auch für großen Weggang seit der Wende. Einst galt Chemnitz als Stadt der Moderne und als Industriemetropole. Wie die Stadt ihren Aufschwung genommen hat und welche Entwicklungen es gab, darüber hat MDR KULTUR mit Peer Ehmke, dem stellvertretendem Leiter des Schloßbergmuseums – dem Museum für Chemnitzer Stadtgeschichte – gesprochen.

MDR KULTUR: Herr Ehmke, Chemnitz warb einige Jahre mit dem Slogan "Stadt der Moderne". Modern ist heute nicht unbedingt das Image, das viele der Stadt zuschreiben. Warum stand die Stadt einst für Modernität?

Peer Ehmke: Es geht dabei um die Moderne im Sinne der Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. Wir sprechen, wenn wir über die Moderne sprechen, nicht über Kunst. Die Kunst geht im Prinzip 1900 los, aber die Moderne aus gesellschaftlicher Hinsicht geht mit der Industrialisierung los. Da spielen Städte wie Chemnitz eine ganz besondere Rolle, weil das eine Stadt der Arbeit war, in der das Arbeiten, die Beschäftigung mit Technik, interessante Produkte herstellen und so weiter immer eine Rolle gespielt haben.

Und Chemnitz hat einen großen Aufschwung genommen mit diesen Entwicklungen der Industrialisierung. Chemnitz war da ganz vorne dran, eine der wichtigsten Industriestädte in Deutschland und auch das Industriezentrum in Sachsen. Und damit hängen viele gesellschaftliche Entwicklungen zusammen: Stadtwachstum – es entsteht eine moderne Stadt im Sinne dessen, was im 19. Jahrhundert war. Die Stadt wird eine Großstadt. Die Menschen leben auf eine völlig neue Art und Weise zusammen. Es gibt Menschen, die eine Entwicklung nehmen als Unternehmer, technische und wirtschaftliche Entwicklung mitgestalten in Deutschland. Und davon abhängig auch die Kultur, wie man hier lebt. Das sind alles Dinge, die wir unter Moderne verstehen.

Sie sagen, es hat sich viel entwickelt. Aber wodurch wurde die Stadt denn zu dieser wichtigen Industriestadt?

Es ist ja in jedem Ort so, dass man irgendetwas Besonderes hat, denn jeder muss schauen, wie und wo man in den gesamtgesellschaftlichen Beziehungen seinen Platz findet. Auch hier hat es eine Spezialisierung gegeben in der Textilindustrie. Die Modernität hier geht eigentlich los mit unkonventionellen Wegen, die man Ende des 18. Jahrhunderts geht, in der Rohstoffbeschaffung.

Wir hatten das Phänomen, dass hier mazedonische Baumwoll-Niederlassungen entstanden sind ab 1764 – ein absolutes Novum in der Zeit – wo Kaufleute aus dem Osmanischen Reich das Handwerk hier mit Rohstoff versorgt haben. Da hat man sich gegen andere, bisher privilegierte Kaufleute in Leipzig zum Beispiel, durchgesetzt. Und davon hat das Handwerk profitiert. Da haben sich neue Industriezweige angesiedelt wie die Kattundruckerei, also der Baumwoll-Druck. Das war damals ein modernes Gewerbe. Da ist Chemnitz eins der Zentren in Deutschland geworden.

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Chemnitz hat also seinen Aufschwung durch die Textilindustrie genommen. Wie entwickelte sich die Stadt dann weiter?

Es geht weiter durch die Entwicklung in der Textilindustrie. Man fängt an, die handwerklichen Tätigkeiten zu mechanisieren, als Erstes die Spinnereien. Wir haben hier die erste sächsische Baumwollspinnerei, die zweite in Deutschland, die 1799 aus diesen Prozessen heraus entsteht. Das geht dann in einer Art Schneeballsystem. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten werden das immer mehr. Es sind Dutzende von solchen Spinnereien gewesen, die hier existiert haben – zunächst noch angetrieben mit Wasserkraft, später kam dann eine Dampfmaschine dazu. Aus der Textilwirtschaft entwickelt sich der Textilmaschinenbau. Es geht weiter mit Werkzeugmaschinenbau, Fahrzeugbau – das ist eine Kettenreaktion, die da entsteht.

Wir haben dann diese Industriestadt, die sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts herausbildet. Und dort haben wir immer wieder Bereiche gehabt, wo Chemnitz ganz vorne mitgespielt hat: im Fahrzeugbau, Lokomotiven zum Beispiel mit Figuren wie Richard Hartmann. Es gab Innovationen im Textilmaschinenbau. Es wird dann das gegründet, was wir heute als Technische Universität kennen, mit technischer Ausbildung. Auch mit Leuten, die dann Patente in verschiedenen Bereichen bekommen. So kommt im Laufe der Zeit immer mehr dazu. Das kann man gar nicht alles aufzählen, was da immer wieder an Innovationen gekommen ist.

Industriellenfamilie Hartmann - Kleindarsteller 30 min
Industriellenfamilie Hartmann - Kleindarsteller Bildrechte: MDR/ProMovie /Kaufmann

Gab es durch diese Entwicklungen, den Aufstieg zum Industriezentrum, auch konkrete Pläne für die Stadt?

Natürlich. Zur Jahrhundertwende ist man davon ausgegangen, dass die Stadt immer weiterwächst. Da war diese Fortschrittsidee. Da gab es erstmal keine Grenzen, auch nicht in der Stadtplanung. Letzten Endes ist zwar ein großes Ballungszentrum entstanden, wenn man die ganze Region betrachtet. Aber dass aus Chemnitz eine Millionenmetropole wurde, da war dann tatsächlich irgendwann Schluss beziehungsweise haben sich die Dinge dann anders entwickelt.

Ab wann haben sich die Dinge anders entwickelt? War der Zweite Weltkrieg Auslöser, in dem auch Chemnitz schwer bombardiert und ein großer Teil der Stadt zerstört worden ist?

Man wollte nach dem Krieg eine völlig neue Stadt bauen. Die Ergebnisse des Krieges wurden auch als eine Möglichkeit gesehen, etwas Neues zu wagen, Dinge vielleicht besser zu machen, großräumig zu denken. Die Leute haben teilweise in engen Mietshäusern gelebt und in Arbeitervierteln. Und da einfach eine moderne Stadt zu machen – auch durchaus mit Sachen, die wir heute kritisch sehen: autogerecht, breite Straßen, Hochstraßen.

Man hat den Anspruch gehabt, auch da an internationalen Entwicklungen teilzuhaben. Man hat auch selbst versucht, Akzente zu setzen mit einzelnen Gebäudeensembles. Der Busbahnhof in Chemnitz zum Beispiel oder die Stadtkrone – der zentrale Bereich mit Stadthalle, Hotel Kongress mit dem Stadthallenpark, der damals auch international wahrgenommen worden ist als ein Stück zeitgemäße Architektur, die sich auch international sehen lassen kann – da ist schon Einiges versucht und auch erreicht worden.

Es gibt also nicht den einen Bruch, der Chemnitz zugesetzt hat?

Die Gesellschaft ist im Fluss. Es ist noch nirgends so auf der Welt gewesen und zu keinem Zeitpunkt, dass irgendetwas ewig war. Es gibt Hochzeiten, dann geht es wieder bergab, dann kommen wieder neue Dinge. Auch in Chemnitz gab es immer wieder Brüche, die Stadt musste sich immer wieder neu erfinden. Das geht eben los mit dieser Modernisierung im 19. Jahrhundert. Die Stadt ist eine Handwerkerstadt gewesen, eigentlich eine kleine Stadt mit einer Stadtmauer. Die wird dann abgerissen.

In der Gründerzeit entsteht plötzlich eine moderne Großstadt, das alte Stadtbild verschwindet fast vollständig. Die biedermeierlichen Häuser oder Häuser aus dem 18. Jahrhundert, manche noch aus dem Mittelalter, werden umgebaut oder abgerissen und neu gebaut. Es entsteht dieses gründerzeitliche Stadtbild, das wir 1945 in Chemnitz wieder verloren haben durch die Auswirkungen des Krieges. Und dann fängt man wieder an. Dann haben wir einen politischen Neuanfang gehabt nach 1945. Da waren wir ein paar Jahrzehnte lang plötzlich eine andere Gesellschaftsordnung. Dann 1980 wieder Veränderungen, und so geht es ja laufend, Schlag auf Schlag. Die Veränderung ist etwas, was einfach dazugehört und wo man immer gucken muss, wie geht es weiter? Aber bisher ist es immer irgendwie weitergegangen.

Was denken Sie, was die Zukunft für die Stadt Chemnitz bringt?

Ich denke, was wir aktuell erleben, schon seit Jahrzehnten, ist ein Umstrukturierungsprozess, von dem auch andere Industriegebiete betroffen sind. Wir arbeiten heute nicht mehr so wie 1900. Wir haben Rationalisierung, Digitalisierung, Globalisierung – alles Prozesse, die zu Veränderungen führen. Die aber eben nicht nur Rückgang bedeuten, sondern die Dinge verändern sich und es entstehen neue Sachen. Und da sind wir aktuell auf der Suche, wie viele Regionen in Deutschland.

Aktuell haben wir ja die Diskussion mit dem Fahrzeugbau, wo wir sehen müssen, wie das in nächster Zeit weitergeht. Auch hier ist die Region Chemnitz ein Innovationsgebiet. Was ich mit Modernität auch immer verbinde, ist das Know-How der Leute, auch die Verbundenheit mit der Arbeit, die Suche nach neuen Lösungen, Kreativität. Und da darf man davon ausgehen, dass das auch in der Zukunft hier weiter vorhanden sein wird.

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Feature | 18. Januar 2025 | 09:00 Uhr

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