100 Jahre MDR-Sinfonieorchester und MDR-Rundfunkchor Erstes Kapitel: Vorgeschichte und Gründung
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1924–1933
Am 1. März 1924 nimmt die Mitteldeutsche Rundfunk AG (MIRAG) den Sendebetrieb in Leipzig auf. Von Beginn an gehören Musiksendungen zum Programm. Ab Herbst 1924 können die Hörer regelmäßig auch Orchestermusik – live gespielt in der Alten Handelsbörse – erleben: Das Leipziger Sinfonieorchester (LSO) wird fest verpflichtet, Dirigent ist Alfred Szendrei. Der gebürtige Ungar, 1918 bis 1924 Opern-Kapellmeister am Neuen Theater Leipzig, ergreift die Chance, sich im neuen Medium auszuprobieren, ja zu profilieren. Szendrei entwickelt sich binnen kurzem zu einem "Rundfunkpionier" im Bereich der Musik.
Das Orchester wird nicht "aus dem Boden gestampft" – es besteht seit 1923; seine Wurzeln reichen eigentlich länger zurück. Das sogenannte Winderstein-Orchester war im Leipziger Musikleben über Jahre präsent gewesen, musste seine Tätigkeit während des Ersten Weltkrieges aber einstellen. Die seit 1919 intensivierten Bemühungen um Neugründung hatten schließlich Erfolg. Mit dem jungen, ebenso konsequent arbeitenden wie "modern" auftretenden Hermann Scherchen ließ sich die Formierung des Orchesters gut an.
Am Sender wird ausprobiert, gestaltet, expandiert, weiter konzipiert – das betrifft alle Seiten des Programmgeschehens, und damit auch die Musik. Binnen kurzem wird das Angebot größer, vielfältiger. Musikalisch bleibt kein Genre unbedacht. Geht es um Orchestermusik aller Epochen, aber auch um Oper und Operette, realisiert das Leipziger Sinfonieorchester einen Großteil der Musiksendungen. Darüber hinaus spielen die zunächst klein besetzte "Hauskapelle", die personell erweitert bald als Leipziger Rundfunkorchester agiert, sowie bei Übertragungen vom Sender Dresden die Dresdner Hauskapelle. Und das kann morgens um 7 Uhr – live – beginnen und schon mal nach Mitternacht enden.
Das Leipziger Sinfonieorchester ist in den Anfangsjahren der MIRAG Diener mehrerer Herren. Verwaltet von der Leipziger Orchestergesellschaft, steht es sowohl für die Sendungen im Mitteldeutschen Rundfunk, für öffentliche Konzerte (die zunächst nicht "automatisch" durch die MIRAG übertragen werden), pro Woche für ein bis zwei Opernvorstellungen im Neuen Theater am Augustusplatz sowie für Konzerte verschiedener Partner, allen voran der Riedel-Verein und das Arbeiter-Bildungs-Institut (ABI), zur Verfügung. Seit 1926 wirkt bei chorsinfonischen Werken wie Opern-Konzerten vermehrt die "Leipziger Oratorien-Vereinigung" mit, ein überwiegend aus Mitgliedern des Gewandhauschores gebildetes "festes" Ensemble, dessen kontinuierlicher Arbeit sich Alfred Szendrei für seine Übertragungen versichern will.
Ab und an verlässt das Orchester den vertrauten Senderaum in der Alten Handelsbörse oder den Orchestergraben im Neuen Theater. In Leipzig gibt es Konzerte an etablierten Spielstätten: Alberthalle im Krystallpalast, Konservatorium, Zentraltheater, Volkshaus, Felsenkeller und schließlich Gewandhaus. Je nach Anlass wird ein großer Gasthaus-Saal genutzt. Und schließlich gibt es für "Abstecher" auch kleinere Säle vor den Toren Leipzigs. Um die Arbeit des Rundfunks publik zu machen, nutzt der Mitteldeutsche Rundfunk aber auch Kooperationen im Zeichen der Musik: 1932 veranstaltet er gemeinsam mit u. a. der Stadt Annaberg ein "Erzgebirgisches Musikfest", zu dem die Direktoren über die Arbeit des Rundfunks referieren und das Orchester – neben lokalen Ensembles – Konzerte bestreitet.
Auch die musikalische Bildung spielt bereits zu diesem Zeitpunkt eine wichtige Rolle im Programm des Mitteldeutschen Rundfunks. Dazu gehören thematisch konzipierte Sendereihen, Sendungen zur Musikgeschichte, Werkkommentare zu Konzerten und Opern sowie eine regelrechte "Musiklehre" in der Sendezeitschrift "Mirag" die Vorstellung neuer Musikalien oder auch Sendungen über jüdische Musik. Und auch das Musizieren mit der jüngeren Generation darf nicht fehlen: 1927 wird ein "Kinderchor der Mirag" sogar mit Bild angekündigt.
Das LSO respektive MDR-Sinfonieorchester, das nach immer wieder verlängerten kurzfristigen Verträgen, schließlich gemeinsam mit dem ehemaligen Rundfunkorchester, firmiert, hat bei seinen vielfältigen Verpflichtungen – neben dem organisatorischen, ja existentiellen Auf und Ab – gleichsam alles erlebt – an Repertoire, Dirigenten, Interpreten, Aufführungsanlässen und -orten. In den Sendungen der Mirag stehen neben dem Musikalischen Direktor Szendrei einige weitere Dirigenten ständig bzw. regelmäßig am Pult. Der Spielplan beginnt durchaus vor Bach, lässt Händel nicht aus (das 1. Arbeiter-Händelfest 1926 ist ein Ereignis), weist ständig "Renner" wie Novitäten auf, darunter etliche Ur- und Erstaufführungen wie "Großereignisse", etwa die Aufführung von Gustav Mahlers 8. Sinfonie. Immer öfter sind Komponisten als Interpreten ihrer Musik zu erleben. Im Rahmen der Opern-"Dienste" bringt das Orchester schließlich auch Kurt Weills "Der Silbersee" zur Uraufführung, am 18. Februar 1933 im Alten Theater unter Leitung Gustav Brechers.
Wenige Wochen später ist alles anders: Mit der "Machtergreifung" Hitlers verliert der Rundfunk seine Souveränität. Führende Persönlichkeiten werden entlassen oder inhaftiert. Intendant und Dirigent Prof. Ludwig Neubeck kommt in der Nacht nach seiner Verhaftung am 10. August 1933 in Leipzig ums Leben, mutmaßlich (so die offizielle Angabe) durch Suizid. Dem Kaufmännischen Leiter Dr. Kohl gelingt nach der Haftentlassung die Emigration nach England. Jüdische Mitarbeiter werden spätestens im Sommer ebenso entlassen wie politisch Verdächtige, auch beim Mitteldeutschen Rundfunk und auch Mitglieder des Orchesters.