1924–1933: Vorgeschichte und Gründung Leipziger Sinfonieorchester: Ein Start mit Ecken und Kanten
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Das waren "dicke Bretter", die da im Herbst 1922 gebohrt wurden, um für die festgefahrene Situation der Leipziger Orchester-Landschaft eine tragfähige Lösung zu entwickeln. In schwierigen Verhandlungen wurden, zusätzlich zum traditionsreichen Gewandhausorchester, die Rahmenbedingungen für ein zweites Leipziger Leistungsorchester geschaffen.
Gründung mit besonderem Betreibermodell
Dieses wurde am 6. Januar 1923 gegründet, man einigte sich auf den Namen "Leipziger Sinfonieorchester". Es basierte auf einem cleveren Betreibermodell und sollte neben dem Gewandhausorchester für Qualität im Musikleben sorgen, indem es allen übrigen Veranstaltern und dem Opernhaus seine umfassenden Orchesterdienste anbot.
Als Betreibermodell wurde eine Orchester-Gesellschaft mbH gewählt, der sich anfänglich 13 Gesellschafter anschlossen. Das waren größtenteils Unternehmen, kulturelle Institutionen aus Leipzig sowie die Leipziger Stadtverwaltung. Ihr Startkapital betrug 1040 Mark. Zum Vergleich: Ein Musikergehalt betrug monatlich 260 Mark. Ziel und Zweck war die Anhebung der musikalisch-künstlerischen Qualität der Orchester und des Unterhaltungsangebotes für Leipzig.
... den Bestand eines zweiten großen Orchesters neben dem Stadtorchester zu gewährleisten, vor allem um dadurch den Kreisen der Bevölkerung, denen der Besuch der Gewandhauskonzerte nicht möglich ist, künstlerisch hochwertige Konzerte zu vermitteln. Die Gesellschaft veranstaltet selbst keine Konzerte, sondern vermietet das Orchester zu Konzerten und Theateraufführungen.
Die Gründungsgesellschafter
Folgende Personen waren bei dem Abschluss des Gründungsvertrages am 6. Januar 1923 als Gesellschafter der Leipziger Orchester-Gesellschaft verzeichnet:
- Dr. Guido Barthol (Vorsitzender des Aufsichtsrates, Dezernent des Musikamtes der Stadt Leipzig)
- Dr. Robert Blüthner (Firma Julius Blüthner, Pianoforte-Fabrikation)
- Kurt Drösser (Schatzmeister der Philhamonischen Gesellschaft)
- Kommerzienrat Hermann Feurich (Firma Feurich, Pianoforte-Fabrikation)
- Dr. Hellmuth von Haase (Firma Breitkopf & Härtel, Musikverlag)
- Emil Irmler (Firma Irmler, Pianoforte-Fabrikation)
- Sanitätsrat Dr. Max Kormann (Philharmonische Gesellschaft)
- Prof. Stephan Krehl (Direktor des Landeskonservatoriums)
- Reinhold Schubert (Konzertdirektion Schubert)
- Prof. Dr. Karl Straube (Thomaskantor)
- Arndt Thorer (Firma Theodor Thorer, Pelzhandel)
- Curt Weichelt (Firma Meyer & Weichelt, Gießerei)
- Paul Zenke (Handelsgerichtsrat)
Folgende Institutionen schlossen sich der Orchester-Gesellschaft an:
- Philharmonische Gesellschaft
- Leipziger Singakademie
- Verein Deutsche Bühne
- Arbeiter-Sängerbund
- Universitätssängerschaft St. Pauli
- Leipziger Konzertverein
- Arbeiter-Bildungs-Institut
- Riedel-Verein
- Leipziger Lehrer-Gesangsverein
- Städtische Bühnen Leipzig
Die Orchester-Gesellschaft war gemeinnützig ausgerichtet, die Ausschüttung von Zinsen oder Gewinnanteilen an die Gesellschafter war satzungsmäßig ausgeschlossen, und sie erhielt einen ehrenamtlichen Aufsichtsrat, dem Dr. Guido Barthol als Erster Vorsitzender, Prof. Stephan Krehl und Prof. Dr. Karl Straube angehörten.
Dabei trat die Leipziger Orchester-Gesellschaft mbH selbst nicht als Veranstalter auf, sondern nur als Vermieter des Orchesters an die angeschlossenen Gesellschafter. Die waren die eigentlichen Veranstalter und erhielten ein Mitspracherecht hinsichtlich der Aufgabenverteilung des Orchesters.
Die zehn beteiligten Institutionen mieteten also das Orchester und übernahmen damit gleichzeitig das komplette Veranstaltungsmanagement, sprich die Organisation der Konzert-Veranstaltungen, die inhaltliche Programmgestaltung, Künstlerverpflichtungen und die Werbung.
44 Musiker und wechselnde Dirigenten
Die Orchester-Gesellschaft leistete sich zu Beginn 44 Musiker. Die Geschäftsführung übernahm Dr. Friedrich Köppen, während Paul Pirrmann (1872–1931) 1923 als sein Stellvertreter und Geschäftsstellenleiter engagiert wurde. Bis zu seinem Tod 1931 blieb Pirrmann in dieser Funktion. Vorher war er von 1901–1914 zweiter Kapellmeister des Winderstein-Orchesters.
Zudem engagierte man einen Orchesterdiener für die Bestuhlungen der Sende- und Spielstätten, Ausstattung mit Pulten und Noten, Transport von Instrumenten etc.
Die Orchester-Gesellschaft arbeitete zunächst mit wechselnden Dirigenten, wie z. B. mit Max Ludwig, Efrem Kurtz, Heinrich Laber, Paul Weißleder oder Leo Hochkofler. Von Anfang an war dem Aufsichtsrat die künstlerische Qualität, konstante Leistung und Entwicklung des Klangkörpers wichtig. Daher wurde die Position eines verantwortlichen Chefdirigenten geschaffen.
Der Aufsichtsrat entschied sich für ein neues Gesicht in Leipzig, den sehr fähigen, jungen Berliner Emil Bohnke, und vereitelte damit die Ambitionen von Hans L'hermet, der in Leipzig bereits als Leiter des Philharmonischen Orchesters bestens bekannt war. Die Entscheidung war Ausgangspunkt für einen lange schwelenden Dirigentenstreit.
Kurz vor dem Aus
Bohnke begeisterte bei seinem ersten sinfonischen Konzert im Januar 1923 in der Alberthalle mit einem Brahms-Abend, der mit ca. 3000 Besuchern ausverkauft war. Die "Zeitschrift für Musik" lobte in ihrer Februarausgabe 1923 vor allem die Holz- und Blechbläser des Orchesters und Bohnkes rhythmisch straffen Zug, mit dem er Brahms "Tragische Ouvertüre", sein 1. Klavierkonzert und seine 1. Sinfonie gestaltete.
Der vielversprechende Anfang der Saison 1923 endete fast, wie so oft bei den Leipziger Orchestern jener Tage, im Sommer mit der Auflösung des Orchesters. Der finanzielle Engpass war nicht nur durch die übliche Saisonpause, sondern auch durch die hohe Inflation begründet. Die Einlagen der Gesellschafter waren nicht auskömmlich und zusätzliche Aufwendungen bei der angespannten wirtschaftlichen Lage nicht möglich.
Trotz der Einführung der Rentenmark im November 1923 und der Stabilisierung der Währung blieb das Leipziger Sinfonieorchester defizitär und musste sparen. Die einzige stabile Einnahmequelle waren nur die Operndienste, die aber nicht ausreichten. Das wäre fast das Aus gewesen, hätte sich nicht damals nebenher etwas Sensationelles, ein neues Medium, entwickelt: der Rundfunk.
"Rundfunk-Fieber"
Parallel zur Gründung und zum gleichzeitigen Überlebenskampf des Leipziger Sinfonieorchesters brach in Deutschland – wie in vielen anderen Ländern der Welt – das Rundfunk-Fieber aus. Es zeigte sich in der Gründung von zahllosen Funkamateur-Vereinen mit ständig wachsenden Mitgliederzahlen, einem Heer an Radio-Hobbybastlern und ersten Sendehäusern. Ganz vorn in Europa war die BBC in London, die schon 1922 mit einem Sender und einem Orchester startete. Aber auch in Berlin Königs-Wusterhausen ging bereits Weihnachten 1920 der erste Sendeversuch der Reichspost mit Musik und Sprache über den Äther. Das erste deutsche Sendehaus wurde etwas später, im Oktober 1923, mit dem VOX-Haus in Berlin in Betrieb genommen. Am 1. März 1924 sollte in Leipzig gleichzeitig mit der dortigen Frühjahrsmesse die MIRAG ihren ersten Beitrag senden.
Idealer Standort Leipzig
Der Impuls zur Gründung eines Sendehauses für Mitteldeutschland in Form der Mitteldeutschen Rundfunk AG, kurz MIRAG, kam, wie Dr. Erwin Jaeger berichtete, aus der damals sehr lebendigen Amateurfunkerszene rund um Leipzig.
Die Messestadt erwies sich, aufgrund ihrer ausgezeichneten logistischen Lage, als trefflicher Ort für die Sendestation der MIRAG. Vorteile waren zudem die Internationalität und Lebendigkeit des Messegeschäftes, die hohe Dichte an Konsulaten (40 waren damals aus verschiedenen Ländern in Leipzig versammelt), dazu noch Leipzigs ausgezeichneter Ruf als Musikstadt. Mit dieser Kombination versprach man sich schnellste und größte Verbreitung des neuen Sendestandorts sowie eine solide Basis für das Gestalten von vielfältigen und hochwertigen Programmen.
Die Frühjahrsmesse im März 1924 bot die Chance, eine Vielzahl an Messebesuchern vom neuen Rundfunkangebot zu begeistern und zu überzeugen. In der Alten Waage fand man erste Verwaltungs- und Senderäumlichkeiten. Musik spielte im Rundfunk der Musikmetropole von Anfang an eine herausragende Rolle.
Beitritt der MIRAG
Für aufwändigere Produktionen, etwa die Philharmonischen Konzerte in der Alberthalle oder Opern-Aufführungen hätte die MIRAG-Hauskapelle mit erheblichem organisatorischen und personellen Aufwand verstärkt werden müssen. Das bedeutete zusätzliche Kosten. Warum also nicht auf ein bereits existierendes Orchester zurückgreifen, das obendrein um mehr Auslastung kämpfte? Alles sprach für das Leipziger Sinfonieorchester.
Der damalige Aufsichtsratsvorsitzende der MIRAG, der Rechtsanwalt Dr. Hans Otto, erkannte schnell, dass sich ein eigenes Sendeorchester als zusätzlicher Klangkörper in die Leipziger Musikszene schwerlich einpassen würde. Und dass sich ein Orchester, das auch außerhalb des Sendebetriebs spielt, künstlerisch vielfältiger entwickeln würde. Dr. Jaeger und Dr. Otto waren sich einig, das Orchester solle zum "gleichberechtigten Bestandteil des Leipziger Musiklebens" werden.
Am 17. Oktober 1924 trat die MIRAG wie auch das Internationale Verkehrsbüro der Leipziger Orchester-Gesellschaft bei. Es wurde anfänglich nur ein halbjähriger Vertrag geschlossen, der den Musikern immerhin ein monatliches Gehalt von 260 Mark bis zum 31. März 1925 sicherte. Später folgten jeweils Jahresverträge, wobei das Orchester in der Aufbauphase unverändert der Leipziger Orchester-Gesellschaft gehörte – und die Musiker nicht bei der MIRAG angestellt waren. Die MIRAG hatte damit den Vorteil, dass sie sich nicht mit arbeitsrechtlichen Vorgängen, Vertragsgestaltungen und der Abgabe von Sozialbeiträgen beschäftigen musste. Heute würde man sagen, die MIRAG hatte das Orchester "outgesourced".
Lösung für die Beschäftigungsflaute im Sommerloch
Während sich das Leipziger Sinfonieorchester aufgrund seiner auskömmlichen Auftragslage während der Wintermonate selbst tragen konnte, drohte ihm im Sommer wegen fehlender Konzerteinnahmen wieder die Schließung. Üblicherweise dauerte eine Konzertsaison von Oktober bis zum April des Folgejahres. Das bedeutet, das Sommerloch dauerte 5 Monate, also fast ein halbes Jahr ohne Einnahmen und Beschäftigung für die Orchester-GmbH und natürlich für die Musiker.
Am 25. Januar 1925 kamen der Aufsichtsrat der Leipziger Orchester-Gesellschaft sowie ihre Gesellschafter zusammen und diskutierten fast zwei Stunden lang über nur einen Tagesordnungspunkt, nämlich wie man dem Einnahmeverlust im Sommerloch begegnen könnte. Zwei Angebote lagen dazu auf dem Tisch. Ein Angebot der Baddirektion Bad Elster, die das Orchester für drei Auftritte im Sommer verpflichten wollte, und eines der MIRAG, die dem Orchester aufgrund ihres ganzjährigen Sendebetriebes nicht nur eine fortlaufende Beschäftigung beim Sender anbot, sondern auch zukünftige Jahresverträge für die Musiker in Aussicht stellte.
Die Sache hatte nur einen Haken: Die MIRAG knüpfte ihr Angebot an zwei Bedingungen, die eine Entscheidung erschwerten. Erstens sollte ihr während des Winterhalbjahres zweimal wöchentlich der Orchestereinsatz für ihre Zwecke garantiert und der Kapellmeister nur mit ihrem Einverständnis bestellt bzw. wieder abberufen werden können. Zweitens sollte Dr. Hans Otto künftig in einer Doppelfunktion als Aufsichtsratsvorsitzender der MIRAG und des inneren Ausschusses der Leipziger Orchester-Gesellschaft mehr Einfluss auf das Orchester nehmen können.
Nach anfänglich sehr kontroverser Debatte und Ablehnung des Vorschlages ergab eine abschließende Abstimmung eine Mehrheit für die MIRAG. Damit war nicht nur die Existenz des Orchesters über die fünf Sommermonate gesichert, sondern auch seine Attraktivität als Arbeitgeber gesteigert und seine künstlerische Fortentwicklung gewährleistet.
Spärliche, aber sichere Gehälter
Die Musiker erhielten zu Anfang monatlich 260 Mark brutto, zahlbar in drei Raten im Folgemonat. Dazu kamen noch das Instrumentengeld, etwa für die Anschaffung neuer Saiten, Rohrblätter, Paukenfelle etc., je nachdem welcher Instrumentengruppe man angehörte, und Tagesgelder für Gastspiele, sogenannte "Abstecher". In solchen Fällen erhielten die Musiker für ihre Verpflegung "Zehrgeld" sowie die Erstattung der Kosten für ein Zugticket mindestens in der dritten Klasse, welche sich wegen ihrer ungepolsterten Bänke "Holzklasse" nannte. Das war alles andere als üppig, bezahlten Urlaub gab es anfänglich auch noch nicht und der monatlich zu absolvierende Höchtstundensatz war bei 140 Stunden gedeckelt.
Die Musiker waren also stark ausgelastet. Daher galt das Prinzip: Alle Kraft dem Sender. Damit sie ihm diese erhielten, wurde ihnen untersagt, außerhalb der Orchestergesellschaft zu musizieren. Ein Zubrot durch private Auftritte als Einzelkünstler oder in einer Gruppe, also genau das, was ihr Existenz während der wechselhaften Zeiten vor 1924 sicherte, wurde ihnen verweigert. Und obwohl Auftritte und Proben an Sonntagen tunlichst vermieden werden sollten, bekam auch hier die MIRAG Sonderrechte eingeräumt, etwa bei Opernsendungen an Feiertagen.
Kurzum: Das Musikerleben war kein Zuckerschlecken und durch vielerlei Regelungen ziemlich eingeschränkt. Die bangen Sommermonate mit der zu erwartenden Beschäftigungslücke waren zwar kein Thema mehr, aber das jährliche Probespiel rückte als Angst-Faktor an seine Stelle. Einmal im Jahr fand es vor Alfred Szendrei statt und entschied über eine einjährige Vertragsverlängerung. Soziale Sicherheit, ganzjährige Arbeit und Einkommen standen während weniger Minuten auf dem Spiel. Der Druck war enorm hoch und das Verfahren nicht frei von Willkür.
So holperig der Start des Rundfunk-Sinfonieorchesters auch war, wurden dennoch die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass es sich zum ältesten Rundfunk-Klangkörper in Deutschland und zu einem der ältesten in der Welt entwickeln konnte.