Schwarz-Weiß-Foto des Grotrian-Steinweg-Orchesters mit seinem Dirigenten Hermann Scherchen.
Das Grotrian-Steinweg-Orchester in den Jahren um 1921 bis 1923. Hermann Scherchen sitzend in der Mitte der ersten Reihe (siebenter von rechts). Bildrechte: Archiv MDR-Sinfonieorchester

1924–1933: Vorgeschichte und Gründung Überlebenskampf der Orchester

Musikstadt Leipzig - international und vielseitig

Schwarz-Weiß-Foto des Leipziger Marktplatzes.
Pulsierendes Leben während der Frühjahrsmesse auf dem Leipziger Markt. Rechts das Alte Rathaus mit Turm, in der Mitte hinten das Haus mit den zwei Fahnen davor ist die Alte Waage, der anfängliche Sitz des Mitteldeutschen Rundfunks. Bildrechte: Stadtgeschichtliches Museum

Nach den harten Jahres des Ersten Weltkriegs war das Bedürfnis der Menschen nach Musik und Unterhaltung groß. Leipzig war eine quirlige Musikmetropole und internationale Messestadt. Mit Komponisten wie Bach, Mendelssohn, Wagner, mit dem Thomanerchor, dem Königlichen Konservatorium der Musik, der späteren Musikhochschule, mit vielen Instrumentenherstellern und Musikverlagen hatte Leipzig nicht nur eine lange Musiktradition, sondern auch einen klangvollen Namen in Deutschland, ja in ganz Europa. Das zog von nah und fern viele Künstlerinnen und Künstler aller Sparten und Genres an.

Konzerte von professionellen Veranstaltern, von Kirchen, Vereinen, Chören, Kapellen und einer vielfältigen Künstlerszene bereicherten das ohnehin schon sehr umfangreiche Programm der städtischen Institutionen. Dazu gehörten das Gewandhaus mit seinem berühmten Spitzenorchester, die verschiedenen Bühnen und Spielstätten, allen voran das neue Opernhaus, sowie natürlich die Kantoreien der Thomas- und Nikolai-Kirche. Das kulturelle Leben der Stadt wurde nach dem Ersten Weltkrieg mit großer Leidenschaft wieder aufgebaut. Nicht zuletzt wollte man wieder ein Stück Normalität und Leichtigkeit zurückgewinnen.

Zersplitterte Orchesterlandschaft

Leipzigs Orchesterszene war unübersichtlich und wechselhaft. Der Konkurrenzkampf untereinander war heftig. Neben dem Gewandhausorchester schossen viele kleine Orchester, mit durchschnittlich 30 bis 50 Musikern, aus dem Boden. Aber sie verschwanden auch genauso schnell wieder, denn ihre Finanzierung blieb mit jedem Ende einer Konzert-Saison ungesichert.

Das bedeutete für die meisten Orchester, dass sie sich zum Sommer hin mit großer Regelmäßigkeit auflösten. Der allgegenwärtige Sparzwang, durch die hohe Inflation, Rezession und Arbeitslosigkeit bedingt, ließ eine Überbrückung nicht zu. So galt die einfache unternehmerische Formel: Keine Einnahmen = keine Gagen und damit keine festen Anstellungen für künstlerisches Personal. Musiker und Dirigenten zogen daher auf der Suche nach existenzieller Sicherung ständig von einem Arbeitgeber zum nächsten.

Musiker-Fluktuation

Als Folge dieser "Dauer-Orchester-Auflösungen" litten viele kleinere Orchester und Kapellen unter der hohen Fluktuation an künstlerischem Personal, wie z. B. das 1910 gegründete Willy-Wolff-Orchester, das nach dem Ersten Weltkrieg nur kurz überlebte. Betroffen waren auch die Leipziger Bühnenbetriebe, wie Volksbühne, Schauspielhaus oder Operettentheater, die kleine Orchester unterhielten. Diese Ensembles waren durch den Bühnenalltag an ihren Häusern stark ausgelastet und konnten mit zusätzlichen Verpflichtungen in der Konzertwelt weder organisatorisch noch künstlerisch bestehen.

Es kam daher immer wieder zu Neugründungen von Kapellen, oft in abenteuerlichen Zusammensetzungen von klassischen Profi-Musikern, begabten Laien und semiprofessionellen Militärmusikern, die nach dem Krieg zahlreich auf den Markt drängten. Leipzigs Konzertnachfrage war riesig, und so war man auch auf Gastorchester aus anderen Städten, wie z. B. Altenburg oder Gera, angewiesen.

Konkurrenz

Auch wenn die Leipziger Dirigenten-Szene klangvoll war, schützte das die Orchester nicht vor regelmäßigen finanziellen Schwierigkeiten in den Sommermonaten. Die zersplitterte Orchesterlandschaft ließ sich jedoch nicht ohne Weiteres als ein "Best of" von allen Orchestern in nur einem leistungsstarken, ständigen Klangkörper vereinen. Dazu standen Ensembles und ihre Dirigenten zu sehr in ständiger Konkurrenz um Aufträge, Kompetenzen und Ansehen.

Einige der wichtigsten Orchester und ihre Dirigenten:

Das Winderstein-Orchester

Schwarz-Weiß-Porträt von Hans Winderstein.
Hans Winderstein. Bildrechte: Nicola Perscheid

Hans Winderstein gründete 1896 in Leipzig das Winderstein-Orchester, das bis 1918 in der Alberthalle seine Heimstatt hatte. Es war eines der meistgebuchten Orchester in Deutschland. Winderstein trat mit seiner Reihe "Philharmonische Konzerte" sogar in Konkurrenz mit Konzerten des Gewandhauses. Zwischen 1906 und 1925 trat das Orchester in Bad Nauheim in den Sommermonaten als Deutschlands größtes Kurorchester auf, wodurch Winderstein seine Musiker über die alljährliche Sommerpause finanziell absichern konnte.

Das Philharmonische Orchester

Schwarz-Weiß-Porträt von Hans L'hermet.
Hans L'hermet. Bildrechte: austria-forum.org

Hans L'hermet baute 1919 das Philharmonische Orchester auf, das auf gutem Wege war, zu einer festen Institution in der Leipziger Musiklandschaft zu werden, zumal es im Gegensatz zu vielen anderen Ensembles durch Operndienste ein verlässliches Standbein hatte. Aber auch L'hermet, der Musiker und Unternehmer in einem war, konnte die Saisonpause nicht adäquat mit Aufträgen füllen und damit seine Musiker an den Klangkörper binden. Im "Deutschen Musikkalender" lässt sich das Orchester in den Jahren 1928 bis 1934 mit stark schwankenden Musikerzahlen (32 bis 50) und divergierenden Angaben zu Spielverpflichtungen nachweisen. Danach bleibt sein Schicksal im Dunkeln. Viele seiner Musiker wurden schließlich für das neu zu gründende Leipziger Sinfonieorchester abgeworben.

Der Riedel-Musikverein

Schwarz-Weiß-Porträt von Georg Göhler.
Georg Göhler. Bildrechte: Sammlung Lieberwirth

Georg Göhler wurde gleich nach seinem Studium in Leipzig 1897/98 Dirigent des Riedel-Musikvereins. 1903 wechselte er an die Altenburger Hofkapelle, die für ganze Konzertreihen z. B. von der "Gesellschaft für Musikfreunde" oder dem "Leipziger Konzertverein" gemietet wurde. 1907 ging er nach Karlsruhe und kam 1909 wieder, um erneut Dirigent des Riedel-Musikvereins und der "Musikalischen Gesellschaft" zu werden. Später folgten weitere Stationen in Hamburg und Lübeck, wo er 1956 starb.

Grotrian-Steinweg-Orchester

Schwarz-Weiß-Porträt des Dirigenten Hermann Scherchen.
Hermann Scherchen. Bildrechte: Archiv MDR-Sinfonieorchester

Hermann Scherchen leitete ab 1920 das Grotrian-Steinweg-Orchester als Gastdirigent. Eine Festanstellung blieb ihm in Leipzig trotz intensiven Bemühens versagt. Das Orchester wurde durch die gleichnamige Klavierbaufirma finanziell unterstützt und war im Central-Theater beheimatet. Ungewöhnlich war, dass es konsequent zeitgenössische Komponisten wie Hindemith, Strawinsky oder Honegger im Programm aufnahm, was Hermann Scherchen zu verdanken ist. Konzertmeister war übrigens der Geiger Emil Luh, der später auch das erste Pult der MIRAG-Hauskapelle besetzte. Das Grotrian-Steinweg-Orchester spielte alle seine Konzerte nahezu ohne Proben, also direkt vom Blatt. Die Qualität war daher schwankend und leistete dennoch durch seine enorme Begeisterungsfähigkeit Verblüffendes, wie Scherchen später attestiert.

Das Gewandhausorchester

Schwarz-Weiß-Porträt von Arthur Nikisch.
Arthur Nikisch. Bildrechte: Archiv MDR-Sinfonieorchester

Arthur Nikisch war von 1895 bis 1922 Kapellmeister des Gewandhausorchesters. Er war eine Institution in Leipzig. Er plädierte für die Universalität seines Orchesters, das sowohl im Opern- als auch im Konzertbetrieb spielen sollte, um sich durch ständig wechselnde künstlerische Herausforderungen zu profilieren. Er sah sein Traditionsorchester als unantastbar an. Auch Thomaskantor Karl Straube wollte die gewachsenen Aktionsfelder für Kirchen, Gewandhaus und Oper in Leipzig gewahrt wissen, während z. B. Musikkritiker Dr. Adolf Aber in einem neuen Orchester Vorteile in einer strikten Trennung zwischen Konzert und Oper sah.

Mehr Spitzenorchester!

Die instabile finanzielle Lage, in der sich die Orchester befanden, stand ihrer künstlerischen Entwicklung im Wege. Die Musiker waren gezwungen, für ihren Lebensunterhalt ein Konzert nach dem anderen wahrzunehmen, so dass ein regulärer Probenbetrieb unmöglich war. Die künstlerischen Anforderungen bestimmter sinfonischer Werke, Opern und Oratorien konnten diese Orchester nicht erfüllen. Das befeuerte wiederum die öffentliche Debatte um ein zweites Orchester von Rang, das neben dem Gewandhausorchester auf Spitzenniveau musizieren konnte.

Unterschiedliche Standpunkte und Ideen zu Betreibermodellen aus der Künstlerszene, Stadtverwaltung, Presse und dem Publikum fachten die Diskussion immer wieder an und machten sie mit der Zeit immer komplexer und explosiver.

Neugründung: Das Leipziger Sinfonieorchester

Ein tüchtiges Mietorchester, außerhalb von Gewandhaus und Oper, variabel und mit breiten stilistischen Fähigkeiten, musste also installiert werden, so die Idee. Doch die Stadt Leipzig hatte kein Geld für den Unterhalt oder auch nur für eine Teilsubvention eines solchen zweiten Leistungsorchesters. Donatoren und Mäzene waren zudem sehr verhalten und sparsam. Denn wie alle quälte sie die damalige unsichere Wirtschaftslage, die sich erst mit der Währungsreform 1923 langsam zu stabilisieren begann. Zudem war ihr Vertrauen in die instabile Orchesterlandschaft Leipzigs gesunken.

Am 6. Januar 1923 wurde dennoch der Versuch gestartet und das Leipziger Sinfonieorchester (LSO) auf Basis der Leipziger Orchestergesellschaft mbH gegründet. Insgesamt waren 13 Gesellschafter, davon sieben Unternehmer, beteiligt. Um Kosten zu sparen, kompensierte das Messeamt einen Teil des Verwaltungsaufwandes. Man leistete sich 44 Musiker, die vor allem auch populäre Konzerte geben und nur eine gewisse Zahl an Vertretungsdiensten in der Oper übernehmen sollten. Teils wurden gute Kräfte aus dem Philharmonischen Orchester abgeworben, was natürlich zu Ärgernissen führte.

Neue künstlerische Leitung

Es stellte sich die zentrale Frage: Wer sollte Dirigent des neuen Orchesters werden und für die zukünftige Programmplanung, Orchesterentwicklung und den Qualitätsanspruch verantwortlich sein?

Schwarz-Weiß-Porträt von Emil Bohnke.
Emil Bohnke (1888–1928) in einem Bildnis um 1927. Bildrechte: picture alliance / brandstaetter images / Austrian Archives (S)

Hans L'hermet, Dirigent des Philharmonischen Orchesters, hatte in Würzburg studiert und konnte als Kapellmeister mit Stationen in Magdeburg, Saarbrücken, Stettin und Görlitz schon einige Erfahrungen sammeln. Er machte sich sicher zu Recht Hoffnungen, für das neue Orchester verpflichtet zu werden. Aber es kam anders. Natürlich war er frustriert, dass Teile seiner besten Musiker zum Leipziger Sinfonieorchester abwanderten, aber dass seine Person noch nicht einmal in den strategischen Überlegungen des Aufsichtsrates der neu installierten Orchestergesellschaft vorkam, verletzte und verärgerte ihn sehr.

Schließlich machte der junge Bratscher, Komponist und Dirigent Emil Bohnke (1888–1928) aus Berlin das Rennen. Bohnke galt als hervorragender Kammermusiker, Komponist und Dirigent.

Emil Bohnke Bohnke hatte in Leipzig studiert. Seine Kompositionen im spätromantischen Stil umfassten vor allem Klavier- und Kammermusik, Lieder, aber auch einige sinfonische Werke. Sein früher Tod sowie das Verbot seiner progressiven Werke durch die Nationalsozialisten verhinderten seine internationale Anerkennung und ließen ihn in Vergessenheit geraten.

Bohnke wurde 1923 der allererste Dirigent des Leipziger Sinfonieorchesters, ehe er 1926 als Chefdirigent des Berliner Sinfonieorchesters in die Hauptstadt wechselte. Er starb am 11. Mai 1928 gemeinsam mit seiner Frau, der Geigerin Lili Bohnke, geborene von Mendelssohn (1897–1928), bei einem Autounfall bei Pasewalk.

Fortan standen sich Philharmonisches Orchester und Leipziger Sinfonieorchester in harter Konkurrenz gegenüber. Aber auch das Leipziger Sinfonieorchester musste, wie viele andere im Sommer 1923, aufgrund mangelnder Finanzmittel wieder aufgelöst werden. Da kam das neue Medium "Rundfunk" zu Hilfe.