1924–1933: Vorgeschichte und Gründung Aufbruch in eine neue Zeit
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Die Gründung des Rundfunk-Sinfonieorchesters und des Rundfunkchores 1924 in Leipzig fiel in eine Zeit äußerst vielseitiger und grundlegender Veränderungen. Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Bildung waren enorm. Einen schwierigeren Zeitpunkt schien es für die Gründung eines Orchesters und eines Chores nicht zu geben – und doch war es die Zeit für Neues. Damals wurden die Grundsteine für die ersten Rundfunk-Ensembles in Deutschland gelegt.
Nachkriegszeit/Wirtschaftskrise
Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren, etwa zwei Millionen gefallene Soldaten und doppelt so viele Kriegsversehrte zu beklagen. Die Resozialisierung der Kriegsheimkehrer war eine gewaltige Aufgabe und die Forderung von 132 Milliarden Goldmark an Reparationszahlungen eine große Last. Erstmals wurde eine demokratische Regierung gebildet, aber die "Weimarer Republik" genoss bei vielen Menschen kein Vertrauen. Streiks, Putsch-Versuche, Straßenunruhen und eine schwere wirtschaftliche Krise erschütterten die junge Republik.
Die Hyperinflation von 1923 machte auch vor Mitteldeutschland und Leipzig nicht Halt. Kostete ein Ei im Juni 1923 noch 800 Mark, waren es ein halbes Jahr später bereits 320 Milliarden Mark. Zuhauf gedrucktes Geld war nichts mehr wert. Der Staat war bankrott und das Ersparte der Menschen verloren. Industrie und Wirtschaft gerieten durch die Weltwirtschaftskrise 1929 unter zusätzlichen Druck. Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit waren die Folgen.
Auch Kulturbetriebe mussten schließen. Musiker und Künstler fanden keine Arbeit und die Versuche, Theater, Orchester oder Spielstätten wieder mit Leben zu erfüllen, scheiterten oft nach wenigen Monaten. Die Kulturlandschaft in Leipzig war extrem angespannt und die Kulturschaffenden in ständiger Existenznot.
Aufbruch in eine neue Zeit
Gesellschaftskritik wurde zum Motor, Lebensgewohnheiten, Ästhetik, Stil und Ausdruck zu überdenken. Künstler und Intellektuelle wurden zu Vordenkern und Wegbereitern für eine neue Zeit. Ein Beispiel dafür ist Alfred Szendrei. Der Musiker, Wissenschaftler und Visionär, der sich zu einem herausragenden Rundfunk-Pionier entwickelte, prägte die anfängliche Entwicklung der beiden Leipziger Rundfunk-Ensembles und des Musikprogramms der MIRAG maßgeblich.
Die Zeit war reif, Neues zu wagen, zu experimentieren und ungewöhnliche Wege zu gehen. Dabei war ein neues Medium besonders hilfreich, das die Welt im Sturm eroberte: Der Rundfunk. In Leipzig entstand 1923 die MIRAG, die Mitteldeutsche Rundfunk AG. Mit ihr taten sich gewaltige Möglichkeiten auf. Sie sollte Menschen in den entlegensten Winkeln des Landes mit Informationen, Unterhaltung, Bildung und Musik versorgen. MEHR
Das oberste Gebot dabei war ganz aus dem jungen, demokratischen Geist erwachsen: Rundfunk für alle! Mit der MIRAG erschlossen sich neue Wege für Musik, Kunst und Kultur, die anfänglich noch argwöhnisch und ängstlich betrachtet, ja auch öffentlich hart debattiert wurden.
Lebenslust
Trotz der düsteren Realität herrschte eine enorme Lebenslust, die den sprichwörtlich "Goldenen Zwanzigern" ihren Namen gab. Die Menschen waren politikverdrossen und sehnten sich nach Zerstreuung und Unterhaltung.
Man wollte mit den alten Konventionen brechen, die preußische Strenge der einstigen Monarchie abstreifen. Ausgelassener Tanz, schillernde Revuen und Partys standen hoch im Kurs. Die Wohltätigkeitsveranstaltungen des ersten MIRAG-Werbeleiters Lothar Schneider z. B. waren bei denen, die es sich leisten konnten, wegen seiner ungewöhnlichen Ideen sehr beliebt. In den Kreis kultureller Ereignisse kamen neu hinzu: der Jazz, der Kinofilm, der Ausdruckstanz und – wenn auch eigentlich nicht kulturell motiviert – die Freikörperkultur, die verdeutlichte, wie man seinem neuen Lebensgefühl Ausdruck verleiht.
Rundfunk-Technik
Das Medium Rundfunk war neu und natürlich auch die dafür erforderliche Technik. Die Programmentwicklung der Rundfunk-Klangkörper fand daher in engem Zusammenwirken mit den sich rasch entwickelnden technischen Möglichkeiten statt. Ein enormes Experimentieren mit Aufnahme-, Sende- und Empfängertechnik, mit der Optimierung von Raumakustik und der Positionierung von Klangquellen begann, um der rapide wachsenden Rundfunk-Hörerschaft gute Klangerlebnisse und vielfältige Programme bieten zu können.
Neue Spezialisten
Orchester und Chor entwickelten im Umgang mit der Technik und den wechselnden Sende-Räumlichkeiten Erfahrungen, die sie zu Spezialisten werden ließen. Sie wurden zu "Rundfunk"-Ensembles, deren Profil und Spezialwissen sich von anderen Orchestern und Chören unterschied.
Sie lernten, beim Aufbau ihres Repertoires flexibel zu sein. Nicht alle Werke und Gattungen ließen sich anfänglich "funkisch" darstellen. Sie mussten durch Umarrangieren und Kürzungen erst passend gemacht werden, daher beschäftigte die MIRAG Hauskomponisten wie Wilhelm Rettich.
Neue Herausforderungen
Das Medium verlangte nach neuen künstlerischen Profilen, Querschnittskompetenzen, schuf neue Berufsbilder und stellte Künstler vor die Herausforderungen der Vergleichbarkeit und der Reproduzierbarkeit. Die musikalisch-künstlerischen Anforderungen stiegen rasch. Das einmalige Ereignis, das sich im 19. Jahrhundert noch einem begrenzten Publikum in die Erinnerung einbrannte, entwickelte sich durch das stetig wachsende Publikum und die aufkommenden Tonaufnahmen zu einem Massenereignis, das sich wiederholen ließ.
Instrumentalisten und Vokalisten sahen sich einem neuen, riesigen Publikum gegenüber, das aber, anders als beim Live-Ereignis, nicht mehr sichtbar war und nicht mehr unmittelbar reagierte. Das direkte Wechselspiel zwischen den Musikern auf der Bühne und dem Publikum im Saal entfiel. Allenfalls über Hörerzuschriften an die Sender erhielten die Musiker über Umwege wertvolle Rückmeldungen.
Perfektion, Akkuratesse, Durchsichtigkeit, Präzision, Repertoirewahl angepasst an Technik und neue Publikumsbedürfnisse stellten auch die Dirigenten vor neue Aufgaben in ihrer musikalischen Arbeit und in ihrer Programmgestaltung.
Vorreiter MIRAG
Dirigenten wie Alfred Szendrei, Hermann Scherchen oder der spätere Chefdirigent Carl Schuricht waren von dem neuen Medium Rundfunk von Anfang an begeistert. Sie entwickelten sich zu umsichtigen Orchestermanagern und experimentierfreudigen Medienspezialisten, welche die Leipziger Rundfunk-Ensembles bald zu den führenden in Deutschland und die MIRAG zu einem der profiliertesten Musiksender in einer sehr dynamischen Sendelandschaft machten.
Sender-Umzug
1926 wurde in Leipzig auf dem Ausstellungsgelände ein Großsender errichtet. Zwei Sendetürme mit 105 Metern Höhe und nach oben führenden Leitern mit 478 Sprossen wurden quasi zum neuen Wahrzeichen Leipzigs. Die Hörerzahlen und der Bedarf an Rundfunkangeboten stiegen ständig. Die MIRAG zog daher am 16. August 1928 von den beengten Verhältnissen in der Alten Waage, Markt 4, in das MIRAG-Haus in den Gebäudekomplex Barthels Hof, Markt 8, um und richtete sich auf zwei Etagen für den Sendebetrieb ein.
Sie investierte in mehrere teure Schaltschränke für den Verstärkerraum und war Anfang 1930 nicht nur technisch auf dem damals neuesten Stand, sondern auch hinsichtlich ihrer Programmgestaltung. Dafür sorgte der musikalische Leiter der MIRAG, Alfred Szendrei, mit Mut, musikalischem Sachverstand, Weitsicht und technischem Verständnis, bis er 1931 im Zuge der Judendiskriminierung von den Nationalsozialisten entlassen wurde.
Programm- und Sendequalität
Insbesondere mit zyklischen Aufführungen, etwa mit Bach-Kantaten und großen sinfonischen Werken von Beethoven, Bruckner und Sibelius, hatte der Sender anfänglich große Erfolge. Besonders beliebt waren auch Opern von Haydn, Mozart, Verdi, Wagner, Weber u. a., die im Vergleich zu den Bühnenfassungen oft zahlreiche "Striche", also Kürzungen von Rezitativen, Ballettmusiken o. ä., aufwiesen, um sie für den Sendebetrieb passend zu machen.
So erreichten die MIRAG zum Beispiel anlässlich der Aufführungen von Wagners Ring-Zyklus am 20. Oktober (Rheingold), 17. November (Walküre), 15. Dezember (Siegfried) und 29. Dezember 1935 (Götterdämmerung) Hörerzuschriften aus Argentinien, England und der Türkei. Diese lobten nicht nur Hans Weisbach als Dirigenten und das prominente Solisten-Ensemble, sondern auch vor allem auch die hohe technische Qualität der Übertragung.
Welchen hohen Stellenwert Musik in der Hörergunst hatte, machte bereits die erste deutsche Hörererhebung im Mai/Juni 1924 deutlich. Die Operette belegte darin den ersten Platz, gefolgt von Kammermusik (Platz 4), Gemeinschaftskonzerten (Platz 5), Tanzmusik (Platz 7) und Oper (Platz 8). Chormusik nahm Platz 15 ein.
Viele der damals entwickelten Überlegungen, Grundlagen und Überzeugungen rund um den Rundfunk haben bis heute ihre Gültigkeit grundsätzlich behalten. Diese Parameter führten die Leipziger Rundfunk-Ensembles durch die Phasen verschiedener politischer Systeme und erlaubten ihnen, sich weiter künstlerisch zu entwickeln. Und das bis heute – 100 Jahre später.