1924–1933: Vorgeschichte und Gründung Ein Profi-Chor für den Rundfunk
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Die Umsetzung der ambitionierten Sendevorhaben Alfred Szendreis, des ersten Musikalischen Leiters der MIRAG, erforderte einen Spezialchor. Dieser musste flexibel und sicher mit den sich immer wieder verändernden Sende- bzw. Aufnahmesituationen und den dafür notwendigen technischen Gegebenheiten umgehen. Zudem wurde er durch ein sehr breites Repertoire gesangstechnisch, künstlerisch wie stilistisch gefordert, etwa in Oratorien, Kantaten, Opern, Operetten, chorsinfonischen Werken, A-cappella-Literatur und Neuer Musik.
Oratorienvereinigung geht auf Sendung
Berufschöre dieser Art gab es damals noch nicht. Der Status als spezialisierter Leistungschor war deshalb sowohl in der Fachwelt als auch in der breiten Öffentlichkeit noch nicht etabliert. Üblicherweise wurden gut geschulte Laienchöre für derartige Aufgaben herangezogen. Das Leistungsniveau dieser Chöre war, wie auch das der Leipziger Orchester um 1920, häufig schwankend.
Der Weg zum Berufschor war für die Leipziger "Oratorienvereinigung", wie der Chor sich nannte, lang und mühsam. Die anfänglich mangelnde Wertschätzung war auch dafür mitverantwortlich, dass man der exakten Gründung des Rundfunkchores und seiner Entwicklung in der Anfangszeit des Rundfunks noch nicht so viel Bedeutung beimaß. Die Folge war, dass man seine Gründung nicht so akribisch dokumentiert hat wie die des Rundfunk-Sinfonieorchesters.
Für die Gründung des Rundfunkchores ist der 14. Dezember 1924 ein Schlüsseldatum: Der Sender Leipzig strahlte erstmals ein Oratorium aus - "Die Schöpfung" von Joseph Haydn. Es musizierten das Leipziger Sinfonieorchester und die Oratorienvereinigung, die Urform des Rundfunkchores, unter der Leitung von Alfred Szendrei.
Alfred Szendrei und das "funkische Singen"
Ich habe mir einen ständigen Chor von 32 Sängern zusammengestellt, alle Mitglieder des Gewandhauschores, mit ausgezeichneten Stimmen und alle perfekte Blattleser, mit nur ein bis zwei Klavierproben und einer Generalprobe konnte ich mit meinem Chor einwandfreie künstlerische Leistungen erzielen. Ich habe den Chor zu 'funkischem' Singen trainiert, d. h. den Sängern diejenigen Stärkegrade beigebracht, welche die damalige Mikrofon-Technik erlaubt hat. Außerdem sind mehrere Mikrofone so aufgestellt worden, dass die vier verschiedenen Chorgruppen sich klar voneinander abhoben und keinen dicken Brei in der Sendung ergaben. So ist auch dieses Vorurteil überwunden worden, und im Laufe der Jahre konnte die Technik der Chorübertragungen immer weiter vervollkommnet werden.
Die Mikrofon-Technik war damals noch nicht weit entwickelt. Es war deshalb ein Wagnis, derart komplexe Werke über das neue Medium übertragen zu wollen. Doch Szendrei stellte sich den Herausforderungen, vielleicht auch, weil es zu der Zeit als kaum möglich erachtet wurde, überhaupt größere Chorwerke angemessen zu senden.
Vorteil: Ständiger Chor
Alfred Szendrei ließ mit seinem "ständigen" Chor, der schon zwei Jahre später auf 58 Stimmen angewachsen war, noch weitere Oratorien folgen, wie Mendelssohns "Elias", Händels "Messias", Schumanns "Paradies und die Peri" und Haydns "Jahreszeiten". Das Vokalensemble erhielt, aufgrund seines anfänglichen Repertoire-Schwerpunktes, den Namen "Oratorienvereinigung" und war der Hauptpartner des Leipziger Sinfonieorchesters, wenn es darum ging, Werke mit Chorbeteiligung zu übertragen.
Der Nutzen dieser engen Kooperation wird vor allem klar, wenn man sich vor Augen führt, wie aufwändig damals Szendreis Experimente mit den ersten Kathoden-Mikrofonen, ihrer Positionierung, der Choraufstellung, den dynamische Schattierungen etc. war, um ein passables klangliches Ergebnis zu erzielen. Er brauchte dafür ein verlässliches Vokalensemble, das mit den technischen Erfordernissen vertraut war. Wie erfolgreich die künstlerische Zusammenarbeit in den folgenden sechs Jahren war, belegt die stolze Zahl von 78 Oratorien- und Opernproduktionen.
Die Oratorienvereinigung war zu einem Spezialchor für das neue Medium geworden, das nicht nur Klassiker wie Beethovens Neunte Sinfonie, Mozarts und Verdis Requien, Brahms "Deutsches Requiem", diverse Bach-Kantaten und Opern, z. B. Webers "Freischütz" oder Mozarts "Entführung aus dem Serail" aufführte, sondern ebenfalls zeitgenössische Werke wie Pfitzners "Christelflein" oder 1929 Schönbergs "Gurrelieder".
Bewegte Geschichte
In den ersten zehn Jahren des Bestehens des Rundfunkchors war die vertragliche Situation der einzelnen Rundfunk-Sängerinnen und -Sänger noch nicht verbindlich gelöst. Sie waren nicht bei der MIRAG angestellt, sondern wurden lediglich projektweise als freiberuflich tätige Musiker honoriert. Mit Alfred Szendreis Entlassung 1931 sowie den veränderten Machtverhältnissen und der Umorganisationen durch die Nationalsozialisten verschwand auch die "Oratorienvereinigung", aus der dann die sogenannte "Solistenvereinigung Leipzig" hervorging. 1934 wurde sie in "Chor des Reichssenders Leipzig" umbenannt und fest unter Vertrag genommen.
Damit waren erste Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich der Berufsstand der professionellen Chorsängerinnen und -sänger außerhalb der Opernhäuser etablieren und der Rundfunkchor sein eigenes Profil entwickeln konnten.