Der Bieszczady-Nationalpark in Polen
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21. Juni 2016, 10:00 Uhr
Der Bieszczady-Nationalpark im Südosten Polens ist eine der ursprünglichsten Landschaften Europas. Doch die Unberührtheit hat einen zweifelhaften Hintergrund: 1947 waren die Bewohner dieser Gegend zwangsumgesiedelt worden.
Fast weiß erstrahlt das stählerne Gipfelkreuz im gleißenden Frühlingslicht. Aus 1.346 Metern Höhe schweift der Blick über das Karpatenvorland. Bis zum Horizont erstrecken sich unberührte Bergketten, von dichten Mischwäldern bewachsen. Keine Spur von Zivilisation. Die Gegend gehört zum Bieszczady-Nationalpark im äußersten Südosten Polens, gelegen im Dreiländereck zwischen Polen, der Slowakei und der Ukraine. Es ist eine der unberührtesten Landschaften Europas.
70 Prozent des Parks sind für Besucher gesperrt
"1973 ließ die Regierung das Schutzgebiet anlegen", sagt Tomasz Winnicki, stellvertretender Direktor des Parks. Das Büro des 63-Jährigen liegt gut fünfzig Kilometer vom Gipfel des Tarnica entfernt in Ustrzyki Dolne. In einem unauffälligen Holzbau im Zentrum des 10.000-Einwohner-Städtchens überwachen er und sein Team den Park. 1978 fing Winnicki als junger Botaniker hier an und ist geblieben. "Damals hatten wir nur 56 Quadratkilometer", erinnert er sich an die bescheidenen Anfänge. Heute sind es 292. Im Vergleich zu anderen Nationalparks in Europa ist Bieszczady damit ein Zwerg, aber ein außergewöhnlicher Zwerg, erklärt Winnicki an einer Landkarte: "70 Prozent des Parks sind für Menschen nicht zugänglich. Er beeinflusst dort die Umwelt nicht. Die Natur ist vollkommen unabhängig von äußeren Einflüssen. Und wir können erforschen, wie sich Flora und Fauna natürlich entwickeln."
Nationales Kulturgut – Wisente
In Bieszczady herrscht reges Treiben. "4.000 Tierarten leben im Nationalpark insgesamt, darunter Wölfe, Luchse, Bären, Großwild und Wisente", zählt Winnicki rasch jene Tiere auf, nach denen Besucher immer als erstes fragen. Die Wisente sind die urtümlichen Vettern des Büffels. Nachdem sie Anfang des 20. Jahrhunderts fast ausgerottet waren, wurden sie in Polen wieder ausgewildert und gehören mittlerweile zum nationalen Kulturgut. Eine in Polen sehr beliebte Wodka-Marke ist nach den fast eine Tonne schweren Tieren benannt.
'Ich muss mal nach Bieszczady!'
Diese Vielfalt zieht auch Touristen an. "Wir verfolgen einen klaren Bildungsansatz", erklärt Tomasz Winnicki das Selbstverständnis des Parks: "Die Kinder zum Beispiel kommen erst zu uns ins Zentrum. Da erklären wir ihnen viel über den Park, wie die Natur funktioniert und wie man seine Umwelt schützen kann. Draußen im Wald können sie das dann selbst erleben." Deshalb gibt es in den zugänglichen Teilen des Parks auch Touristenpfade. Zu Fuß oder auf Pferden kann man auf 206 Kilometern die Gegend rund um den Tarnica durchstreifen. Fahrräder sind aber nicht erlaubt. "Die zerstören den Boden", sagt Winnicki. Die restriktiven Regeln werden sehr geschätzt. Seit der Park 1993 den Titel UNESCO-Biosphärenreservat erhielt, boomt der ökologisch verträgliche Tourismus. 400.000 Besucher kommen jährlich, Tendenz steigend. Der Park hat es sogar zu einem eigenen Sprichwort gebracht. Mancher Pole, der sich über zu viel Stress beklagt, schließt sein Lamento mit den Worten: 'Ich muss mal nach Bieszczady!'
Auf der Suche nach dem Karpatenwolf
Bartek Pita kam vor zwanzig Jahren das erste Mal nach Bieszczady und ist geblieben. "Ich liebe diese Abgeschiedenheit", sagt der Enddreißiger grinsend, während er durch das gelb schimmernde, trockene Gras am Fuße des Tarnica stapft. Pita wirkt wie eine Werbefigur von Outdoor-Ausstattern: Multifunktionskleidung, bunte Wollmütze, 10-Tage-Bart, sonnengegerbte Haut und tiefe Lachfalten im Gesicht. Unter dem Arm trägt er ein riesiges Teleobjektiv. An einer Baumgruppe bleibt er plötzlich stehen und ruft: "Schau, hier ist das Gras ausgetreten. Das könnte eine Wolfsfährte sein!" Wölfe finden und überwachen ist das Spezialgebiet von Bartek Pita. Heute will der Umweltbiologe seine neue selbstauslösende Kamera testen und sucht eine geeignete Stelle. "Hier ist so ein Biberteich. Und daneben eine Anhöhe, die mit trockenem Gras bewachsen ist. An sonnigen Tagen kommen die Wölfe hier häufig her, liegen im Gras rum und wärmen sich auf", erklärt Pita. Derweil macht er sich an die Arbeit und befestigt den kleinen Metallkasten mit Spanngurten an einer Buche. Ein rotes Licht beginnt zu blinken und Pita hastet einige Meter weg, wirft sich auf die Knie und krabbelt auf allen vieren die vermeintliche Fährte entlang. "Ich bin jetzt der Wolf. Wenn die Kamera meine Bewegung erkennt, leuchtet sie durchgängig rot. Dann wissen wir, dass sie scharf gestellt ist." Sie leuchtet durchgängig. Zufrieden packt Bartek Pita einen GPS-Sender aus und notiert sich die Koordinaten der Fotofalle in seinem Notizbuch: "Jetzt lassen wir die Kamera eine Woche lang hier hängen und schauen dann, was passiert ist." Die Kamera kann tausende hochauflösender Bilder schießen und zeichnet tags und nachts auch Videos in HD-Qualität auf.
Verhaltensforschung
Er und seine Kollegen haben einige Wölfe auch mit GPS-Sendern ausgestattet. Auf Grund der gesammelten Daten können sie Bewegungsmuster erstellen und Rückschlüsse auf das Verhalten der nachtaktiven Jäger ziehen. "Das hier war zum Beispiel das Areal eines Wolfsweibchens, das wir seit einigen Jahren überwachen", sagt Pita und macht eine ausladende Bewegung mit beiden Armen: "Mittlerweile hat es sich einige hundert Kilometer nach Westen bewegt. Dort scheint es nun ein Männchen gefunden haben, denn seit einigen Monaten bleibt es in einem festen Areal." Solche Studien lassen sich in der Abgeschiedenheit von Bieszczady besonders gut erstellen. "Hier gibt es wenige anthropologische Grenzen, also Straßen und Siedlungen, die das Gebiet des Wolfes begrenzen", erläutert Bartek Pita und macht sich auf den Rückweg. Einige hundert Meter unterhalb der Fotofalle zeigt er auf den hügeligen Boden. Aus dem Bewuchs ragen Steine hervor, offensichtlich bearbeitet und in geometrischen Formen angeordnet. "Das sind die Überreste eines Dorfes", sagt er und senkt die Stimme ein wenig: "Dahinten erkennt man noch die alten Obstplantagen. Dort gibt es Unmengen an Nahrung und in den alten Kellern hervorragende Schlafplätze. Die Geschichte hat das Gebiet besonders attraktiv für die Tierwelt gemacht."
Düstere Gründungsgeschichte
'Die Geschichte' steht für ein unrühmliches Kapitel der polnischen Historie. Eines, ohne das es den Nationalpark gar nicht geben würde. Jahrhunderte lang hatten in dieser Gegend polnisch-, ukrainisch- und slowakisch-stämmige Bewohner friedlich nebeneinander gelebt. Das änderte sich 1945. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als es zu großen Grenzverschiebungen in Osteuropa kam, wurde die Grenze zwischen Polen und dem ukrainischen Teil der Sowjetunion genau durch Bieszczady gezogen. Die ethnische Herkunft ihrer Bewohner wurde mit einem Mal zu einem Politikum. Zum einen nämlich verfolgte die sowjetische Führung den Plan, die Regionen in ihrem Herrschaftsgebiet möglichst homogen zu besiedeln: Ukrainer, Polen und Slowaken sollten innerhalb der Grenzen ihrer 'Herkunftsstaaten' leben. Die neue polnische Regierung hingegen fürchtete den Einfluss ukrainischer Kräfte innerhalb Polens. Denn in der Grenzregion operierten auch Partisanen der ukrainisch-nationalistischen UPA-Organisation. Sie hatte während des Zweiten Weltkrieges für eine unabhängige Ukraine gekämpft und dabei zeitweise mit der Wehrmacht kollaboriert. Auch an Massakern an polnischen Zivilisten war sie beteiligt gewesen. In Bieszczady kämpfte sie auch nach Kriegsende weiter. Immer wieder kam es zu blutigen Scharmützeln mit der polnischen Armee.
"Aktion Weichsel"
Und so beschloss man in Warschau im Frühjahr 1947 die sogenannte "Aktion Weichsel". Innerhalb weniger Wochen sollte das Gebiet entvölkert und die ukrainisch-stämmigen Menschen auf weit entfernte Regionen Polens verteilt werden. Am frühen Morgen des 28. April begann die Aktion. Tausende polnische Soldaten umstellten Dorf um Dorf und zwangen die Bewohner zum Packen. Manchen blieb kaum eine Stunde. 150.000 Menschen wurden binnen dreier Monate zwangsumgesiedelt. 4.000 Menschen, die der Kollaboration mit der UPA verdächtigt wurden, internierten die Polen im ehemaligen Außenlager des Konzentrationslagers Auschwitz. Hunderte überlebten die Gefangenschaft nicht.
Orte des Gedenkens
Lange Zeit war die "Aktion Weichsel" in Polen ein Tabu gewesen. Erst 1990 missbilligte der Sejm die Aktion offiziell. Damit begann ein Aufarbeitungsprozess, der die polnisch-ukrainischen Beziehungen schrittweise verbesserte. Heute gibt es in Bieszczady einige Orte des Gedenkens. Einer davon liegt unweit der Fundamente eines einstigen Dorfes, in dem viele Tiere ihre Schlafplätze haben. Dort stehen auch die Überreste einer alten Dorfkirche. Direkt daneben markiert ein Schild den Beginn des Wanderpfads zum Gipfel des Tarnica. Im staubigen Boden davor erkennt man eine frische Wolfsfährte.