ZERV-Ermittler behindert Wie Schalck-Golodkowski von Politik und BND gedeckt wurde
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01. März 2022, 05:00 Uhr
Ginge es nach der Zahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren, wäre Alexander Schalck-Golodkowski die absolute Nummer 1. Kein anderer Spitzenfunktionär der DDR stand nach 1990 so sehr im Zentrum von Ermittlungen. Dass er mit fast lächerlichen Strafen davonkam, verdankt er teils der Rückendeckung von Politik, Justiz und Geheimdiensten. Denn viele seiner Geschäfte hätten auch die Bonner Führungsriege und westliche Geheimdienste kompromittieren können. Das beweisen jetzt neue Aktenfunde.
Der Presseraum ist brechend voll, als Berlins Justizsenatorin Jutta Limbach und der Generalstaatsanwalt von West-Berlin, Dietrich Schultz, die Meldung des Tages verkünden: Man habe vor wenigen Stunden Haftbefehl gegen Alexander Schalck-Golodkowski, Ex-ZK-Mitglied und Ex-MfS-Oberst, erlassen und ihn in die JVA Moabit gebracht.
Ich habe nach Anhörung des Betroffenen die vorläufige... die Festnahme... und, sagen wir mal so, den Haftbefehl genehmigt. Der Betroffene hat erklärt: 'Ich fühle mich unschuldig.' Er hat Einzelheiten nicht vorgetragen. So standen wir vor der Frage: Was machen wir? Können wir den Haftbefehl vollziehen? Und ich habe gesagt: Ja.
Es ist eine außergewöhnlich verdruckste Aussage, mit der der Generalstaatsanwalt die Presse überrascht. Doch mehr als außergewöhnlich sind auch die Umstände dieser Inobhutnahme durch die westdeutsche Justiz.
Spektakuläre Flucht von Schalck-Golodkowski
Allem vorausgegangen war eine spektakuläre Flucht des Top-Devisenbeschaffers der DDR. Offiziell ist Alexander Schalck-Golodkowski bis zu diesem Zeitpunkt "nur" Staatssekretär im DDR-Außenhandelsministerium. Doch spätestens seit einer großen Titelgeschichte des "Spiegel" am 19. November 1989 weiß die Öffentlichkeit in beiden deutschen Staaten: Dieser Leiter des Bereichs "Kommerzielle Koordinierung" – kurz Koko – war weit mehr als das.
Wer war Alexander Schalck-Golodkowski?
Alexander Schalck-Golodkowski war einer der bekanntesten Wirtschaftsfunktionäre der DDR und Leiter des geheimen Bereichs für Kommerzielle Koordinierung (kurz "KoKo") im Ministerium für Außenhandel, der von der Stasi kontrolliert wurde und für den (inoffiziellen) Handel mit dem "kapitalistischen" Ausland zuständig war. Im MfS hatte Schalck-Golodkowski den Rang eines Obersts.
Bekanntheit erlangte er im Nachhinein u.a. für die Aushandlung eines Kredits in Höhe von einer Milliarde DM, den ein westdeutsches Bankenkonsortium 1983 der DDR gewährte. Sein Verhandlungspartner auf bundesdeutscher Seite war Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß.
Was war die "KoKo" (Kommerzielle Koordinierung)?
Hinter dem Namen "Kommerzielle Koordinierung", kurz "KoKo" genannt, verbirgt sich eine 1966 eingerichtete Abteilung des DDR-Ministeriums für Außenhandel. Doch welche Art von "Außenhandel" hier betrieben wurde, wusste die Öffentlichkeit nicht. Der Bereich KoKo hatte die Aufgabe, durch Koordinierung kommerzieller Aktivitäten maximalen Gewinn in "Valuta", also westlichen Währungen, außerhalb des Staatsplanes zu erwirtschaften. Die Abteilung nahm eine inhaltliche und rechtliche Sonderstellung ein. Die KoKo erwirtschaftete über 25 Milliarden "Valutamark" und trug dazu bei, Defizite in der DDR-Handelsbilanz zu begrenzen und den akuten Kreditbedarf kurzfristig zu bedienen.
Seit 1966 gibt es die "KoKo", deren zentraler Strippenzieher Schalck-Golodkowski ist, wenn es um die Beschaffung von Geld, Gold, Waffen und Spitzen-Technologie ging. Im Auftrag der DDR-Regierung wickelte er alle Deals ab, die Devisen in die Kassen spülten: Er handelte Gefangenenfreikauf-Summen aus, organisierte Antiquitätenschmuggel und besserte so die DDR-Staatskasse um 27 Milliarden D-Mark auf.
Was alles über seinen Tisch in der Berliner Wallstraße ging, darüber wusste man in Bonn spätestens seit 1981 genauestens Bescheid, als einer der KoKo-Männer, der Generaldirektor der Firma Asimex, Günther Asbeck, in die Bundesrepublik floh. Der Schalck-Intimus packte gegenüber dem Bundesnachrichtendienst umfangreich aus. Und die Informationen wanderten – wie inzwischen freigegebene Akten des BND zeigen – umgehend weiter nach Bonn.
Ich habe mal mit einem BND-Mitarbeiter gesprochen, der damals bei den Vernehmungen von Asbeck dabei war. Er sagte: 'Das war unsere wertvollste Quelle, die wir je hatten. Was wir von dem erfahren haben, haben wir von keinem anderen Agenten im Osten erfahren. Der hat uns die Augen geöffnet.'
KoKo: gute Geschäfte, politische Einflussnahme
Seit nunmehr drei Jahrzehnten befasst sich der Berliner Journalist und Autor Andreas Förster ("Auf der Spur der Stasimillionen") immer wieder mit der KoKo und ihrem Chef – seit er Anfang der 1990er erste Einblicke in Akten und Geschäftspapiere des internationalen KoKo-Firmengeflechts bekam. Damals schon fiel ihm auf, wie eng einige von Schalcks deutsch-deutschen Geschäftsbeziehungen auch politisch verzahnt waren, wie seine KoKo versuchte, mit hilfe geschäftlicher Verbindungen die Politik zu beeinflussen.
Die KoKo hat ja nicht umsonst mit westdeutschen Fleischfirmen Geschäfte gemacht. Diese drei Fleischfirmen waren Großspender von der SPD die einen, von der CSU die anderen und von der FDP die dritten. Da ging's schon damals mit darum, bloß nicht irgendne Partei zu benachteiligen. Jede sollte etwas vom Kuchen abbekommen. Er wusste schon, wie man's macht.
DDR-Führung lässt Schalck-Golodkowski fallen
Vom Billigfleisch-Transfer bis zum Milliardenkredit – es ist alles dabei. Und alle, so scheint es, machen einen guten Schnitt dabei. Doch mit dem Herbst 1989 kommen jede Menge unbequeme Fragen auf. Schalcks Unternehmungen in einer bislang geheimdienstlich abgesicherten Grauzone stehen plötzlich im grellen Licht der Öffentlichkeit. Und der "große Alex", der Mann mit der Sonnenbrille, kann sich nun nicht mehr verstecken.
Mehr noch: Der neue Ministerpräsident Hans Modrow, angetreten mit der neuen Parole "Wir räumen auf", verkündet, die KoKo aufzulösen. Auch Erich Mielkes Nachfolger, Wolfgang Schwanitz, teilt Schalck mit: Der geheime Oberst des MfS sei aus der Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst mit sofortiger Wirkung entlassen. Im Klartext: Alexander Schalck-Golodkowski ist fortan vogelfrei.
Der Haftbefehl gegen ihn, teilt ihm sein Freund und Anwalt Wolfgang Vogel mit, sei bereits ausgestellt. Panikartig ergreift der KoKo-Chef gemeinsam mit seiner Frau die Flucht. Und während die Öffentlichkeit rätselt, wohin die Reise gegangen sein mag, haben seine ehemaligen Kollegen mittels Abhörtechnik längst die Fährte aufgenommen.
In den späten Abendstunden des 4.12. […] erfolgte eine Verbindungsaufnahme des Schäuble aus West-Berlin zu seiner Sekretärin, um über die aktuelle Situation des Schalck-Golodkowski unterrichtet zu werden. Die [Name geschwärzt] setzte den Bundesinnenminister darüber in Kenntnis, dass der Schalck-Golodkowski gegen 21:30 fernmündlich Kontakt zu ihr aufgenommen habe.
Wolfgang Schäuble hilft Schalck-Golodkowski
Es mutet seltsam an: Der Innenminister der Bundesrepublik, Wolfgang Schäuble, gerät ins Visier des MfS als Komplize bei der Flucht von Schalck-Golodkowski, einem der wichtigsten Strippenzieher des DDR-Regimes? Tatsächlich wird Wolfgang Schäuble Wochen später zu Protokoll geben, er habe sich in dem Fall ausschließlich privat engagiert und einen Mittelsmann aus Kirchenkreisen gebeten, sich um den per Haftbefehl und internationaler Fahndung gesuchten Schalck-Golodkowski zu kümmern.
Doch, ganz so privat ist diese Unterstützung des politisch Schiffbrüchigen aus der DDR nicht, wie sich aus inzwischen freigegebenen Akten des BND einmal mehr bestätigt. Andreas Förster hat sechs Jahre lang auf die Freigabe warten müssen.
Die Papiere zeigen, wie das Kanzleramt, die Bundesregierung, wie der Bundesnachrichtendienst agiert haben in den Tagen nach der Flucht. Und zwar bei der Frage: Wie gehen mir mit diesem Mann um?
Das Ringen um Schalck-Golodkowski
Alexander Schalck-Golodkowski sieht für sich selbst nur einen Weg: Er muss raus aus West-Berlin, in Sicherheit gebracht werden. Auf gar keinen Fall dürfe man ihn an die DDR ausliefern, denn dort sei ein rechtsstaatliches Verfahren keinesfalls sicher. Mehr noch: In einem DDR-Gefängnis fürchte er um sein Leben.
Die persönlichen Nöte des Geschassten – sie kommen in Bonn an. Doch nicht, weil man ein übergroßes Herz für Schalck-Golodkowski hätte. Es geht dabei ganz klar um eine politische Abwägung: Wo und wie kann uns dieser Mann schaden oder nützen?
In den Unterlagen steht drin, dass insbesondere der britische Geheimdienst, aber auch der französische, großes Interesse an Schalck hatten. Die wollten den befragen und vielleicht auch 'übernehmen'. Und da deutet der Präsident des BND an, wenn wir den Schalck an unsere westlichen Alliierten übergeben, dann könnte er dort Dinge auspacken, vor allem über den westdeutschen Embargohandel, die für uns unangenehm sein könnten. Deswegen behalten wir ihn lieber hier bei uns.
Verhaftung und lautlose Entlassung
Tatsächlich kann der BND damit sowohl die Bundesregierung als auch die Westberliner Staatsanwaltschaft überzeugen. Denn auch die Justiz muss mitspielen. Schließlich gilt es, die neue Reformbewegung in der DDR nicht zu brüskieren, indem man die geforderte Auslieferung dieses Mannes einfach ablehnt. In Windeseile stellen BND und Verfassungsschutz ein Konvolut an Informationen über die Koko und Schalck zur Verfügung, die es dem Generaltstaatsanwalt überhaupt erst ermöglicht, ein eigenes Ermittlungsverfahren einzuleiten und ganz offiziell Haftbefehl zu erlassen.
Als sich einen knappen Monat später der Rauch und Wirbel um den Geflohenen legt, entlässt man Schalck lautlos wieder in die Freiheit bzw. überlässt diesen Mann dem investigativen Recherche-Team des BND. Die Geschichte der Verwicklungen und stillen Einflussnahmen könnte damit zu Ende sein. Doch für den Mann interessieren sich nach dem Ende der DDR unzählige Menschen – Politiker der Opposition, Journalisten und die Ermittlerinnen und Ermittler der ZERV.
ZERV ermittelt zu DDR-Schwarzgeldkonten und Waffengeschäften...
Anfang der 90er ist der Name Schalck-Golodkowski dauerpräsent. Untersuchungsausschüsse zur Rolle der KoKo werden ins Leben gerufen. Ständig kommen neue Details ans Licht, wie man vor 1989 im deutsch-deutschen Austausch vorankam, Geschäfte zum beidseitigen Vorteil auf den Weg brachte.
Insbesondere die Ermittler der ZERV, der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität, haben die Personalie Schalck-Golodkowski dabei quasi non-stop auf dem Tisch. An seinem Büro ging so gut wie kein brisantes Geschäft vorbei: Die DDR war dank seiner "Strippen" eine Top-Drehscheibe im internationalen Waffengeschäft, aber auch der mit Embargo belegte Handel mit westlicher HighTech-Ware lief all die Jahre wie geschmiert. Weil "geschmiert" wurde – dank zahlloser DDR-Schwarzgeldkonten, die Schalcks KoKo verwaltet hat.
...und wird von Politik und BND zurückgepfiffen
Dass auch Top-Unternehmen der bundesdeutschen Wirtschaft gut an den KoKo-Geschäften verdienten, ist ein Umstand, den nicht alle gerne behandelt wissen. Und so werden die Ermittlungen der ZERV immer wieder behindert.
Ein Bundesanwalt hat mal zu mir gesagt: 'Wenn die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder beeinträchtigt ist, dann ist Schluss mit den Ermittlungen.' Da kamen Vertreter vom Generalbundesanwalt zu unserer Führung und haben gesagt: 'Wir haben Interesse an den und den Akten. Bitte die Ermittlungen beenden.' Und da wurde ein Vermerk geschrieben. Akten eingestellt. Weg waren sie.
Westdeutsche Firmen in illegalen Handel verwickelt
"Es war eben das Dilemma, dass in diese krummen und rechtswidrigen Geschäfte auch namhafte deutsche Firmen wie Siemens verwickelt waren", sagt der Journalist und KoKo-Experte Andreas Förster. "Wenn man das nach 1990 konsequent strafrechtlich verfolgt hätte, dann hätte man auch diese Firmen verfolgen müssen. Da ist man nicht rangegangen. Das sollten auch die Partner in den USA und GB nicht wissen, dass bundesdeutsche Firmen im illegalen Embargohandel tief mit drin steckten."
Anklage trotz Rückendeckung der Geheimdienste
Letztlich mutet es wie eine Farce an, dass es nahezu 80 Versuche brauchte, ehe es gelang, die "Spinne" in diesem Netz, Alexander Schalck-Golodkowski, vor Gericht zu bringen. Dass er Waffenkäufe mit einer nicht genehmigten Handkasse abwickelte und damit auch gegen DDR-Gesetze verstieß, erscheint angesichts der Summe an rigiden und rechtsverletzenden Maßnahmen, mit denen er und sein Apparat arbeiteten, fast banal. Dennoch, es sind solche Detail-Erkenntnisse und -Nachweise, mit denen es den Ermittlern der ZERV schließlich gelingt, dass sich der "große Alex" trotz geheimdienstlicher Rückendeckung doch noch strafrechtlich verantworten muss.
Was war die ZERV?
Die ZERV (Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität) ist die größte Sondereinheit der Kriminalpolizei in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie wird 1991 gegründet und nimmt 1992 ihre Arbeit auf. Die meisten Ermittler kommen kurz nach der Wende aus den alten Bundesländern. Sie reisen nach Ost-Berlin, um dort Straftaten aufzuklären, die in den Wendejahren und während der DDR-Zeit begangen wurden. Auch die Bevölkerung wird aufgerufen, Unrecht zu melden.
ZERV-Start im Chaos
In Ost-Berlin finden die ZERV-Ermittler Bedingungen vor, mit denen sie nicht gerechnet hatten: Tausende Kartons mit Akten und Unterlagen, keine Computer, keine Drucker, keine Struktur, Trabis und Barkas als Dienstwagen. Zum Telefonieren gehen sie anfangs in Telefonzellen, aus Sorge, abgehört zu werden. Es dauert lang, bis sie 1994 endlich geeignete Räume am Flughafen Tempelhof beziehen können und nach und nach so ausgestattet sind, dass sie effizient arbeiten können.
Welche Fälle bearbeitete die ZERV?
Die Abteilung ZERV 1 befasst sich mit politischen Fällen wie Waffenhandel und Korruption. Die ZERV 2 nimmt Schicksale von Menschen unter die Lupe, darunter Entführungen, die Verurteilung von Unschuldigen, Auftragsmorde und Dopingopfer.
Was bleibt von der ZERV?
Ab 1998 kommen immer weniger Kriminalbeamte nach Berlin. Die Gelder werden gekürzt. Zum Ende des Jahres 2000 wird die ZERV aufgelöst. Zu diesem Zeitpunkt tritt für zahlreiche Fälle endgültig die Verjährung in Kraft. Insgesamt haben die ZERV-Beamten mehr als 20.000 Fälle bearbeitet, einige Milliarden veruntreuter Gelder zurückgeholt und manchen Kriminellen vor Gericht gebracht. Für die fast 700 Ermittler, die in acht Jahren diese Sonderkommission erlebten, war es eine einmalige Zeit.
1996: Freiheitsstrafe auf Bewährung
1996 verurteilt das Landgericht Berlin Schalck-Golodkowski zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung. Die Richter sehen es als erwiesen an, dass die illegal über einen in der Bundesrepublik ansässigen Waffenhändler beschafften 228 Nachtsichtbrillen im Wert von rund 4,8 Millionen DM sowie Waffen im Wert von rund 50.000 DM gegen Art. VIII des Militärregierungsgesetz Nr. 53 verstießen. Eine Verfassungsbeschwerde des Angeklagten gegen dieses Urteil wird abgewiesen. Der Rechtsbruch ist damit erstmals rechtskräftig verurteilt.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | ZERV – Die Dokuserie | Folge 3: Der tiefe Fall | 22. Februar 2022 | 22:55 Uhr