Helmut Kohls historische Rede in Dresden
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16. Dezember 2021, 10:40 Uhr
In Erinnerung ist vielen Ostdeutschen Helmut Kohls historische Rede am 19. Dezember 1989 vor den Trümmern der Frauenkirche in Dresden. Der Auftritt Kohls war ein Balanceakt: Er durfte die Hoffnung seiner Zuhörer nicht enttäuschen und gleichzeitig die Alliierten nicht brüskieren.
Später bezeichnete Helmut Kohl den 19. Dezember 1989 als sein "Schlüsselerlebnis" auf dem Weg zur deutschen Einheit. Bis dahin sei auch er der Meinung gewesen, dass die Vereinigung der beiden deutschen Staaten frühestens in drei oder vier Jahren möglich sein würde. Dresden habe ihm jedoch schlagartig bewusst gemacht, dass alles viel schneller gehen könnte: "Ich dachte bei mir: Die Sache ist gelaufen. Das Regime ist am Ende und die Menschen wollen die Einheit."
Ein Kirchenchor für den Notfall
Helmut Kohl wusste, dass sein Auftritt vor den Ruinen der Frauenkirche, den er später als den schwierigsten seines Lebens bezeichnete, ein Balanceakt war: "Jeder falsche Zungenschlag wäre sofort in Paris, London oder Moskau als nationalistisch ausgelegt worden." Seine größte Sorge bestand darin, so schreibt er in seinen Memoiren, dass die euphorisierten Zuhörer die erste Strophe des "Deutschlandliedes" anstimmen könnten. Für diesen Fall war sogar erwogen worden, ein Posaunenorchester zu engagieren, das ein kräftiges "Nun danket alle Gott" entgegenschmettern sollte. Auf die Schnelle war aber kein Ensemble aufzutreiben gewesen - und es wäre auch nicht gebraucht worden.
Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.
Wohldosierte Rede
Kohl vermied bei seinem Auftritt alles, was einem Ausbruch der Emotionen Vorschub geleistet oder die vier Alliierten brüskiert hätte. Er würdigte stattdessen die Leistungen der DDR-Bürger und ihre friedliche Revolution, sagte, dass die Bundesregierung das Recht auf Selbstbestimmung der DDR respektieren und man einen gemeinsamen Weg zur deutschen Einheit finden werde. Und fügte dann den Satz an, auf den seine Zuhörer sehnsüchtig gewartet hatten: "Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation." Und selbst die dem Kanzler keineswegs wohl gesonnene Zeitschrift "Spiegel" würdigte Kohls Auftritt in Dresden: "Bei seinem ersten offiziellen DDR-Besuch brach Kohl mit einer als historisch geltenden Rede die Herzen der Ostdeutschen."
Warum Dresden?
Im Gegensatz zu den Darstellungen Helmut Kohls war sein Auftritt in Dresden durchaus sorgfältig geplant und vorbereitet. Bereits am 5. Dezember 1989 hatten sich Kanzleramtsminister Seiters und Ministerpräsident Modrow auf einen Auftritt des Kanzlers in Dresden verständigt. Der offizielle Anlass: eine Kranzniederlegung zum Gedenken an die Opfer der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg. Seit dem 17. Dezember informierten dann die Medien über eine Ansprache Helmut Kohls. Und auch auf der Montagsdemo am 18. Dezember wurde über Ort und Zeitpunkt einer Kanzlerrede informiert. Am Morgen des 19. Dezember setzten sich schließlich Sonderzüge und Busse aus allen Teilen der DDR in Richtung Dresden in Bewegung. Und auch Hunderte Journalisten reisten in die Elbestadt.
Wie viele Menschen jubelten Kohl zu?
Die Fernsehbilder zeigten eine große, scheinbar unübersehbare Menschenmenge, die sich allerdings unmöglich schätzen ließ. In den deutschen Medien war von etwa 100.000 Menschen die Rede. Teilnehmer hielten diese Zahl aber schon damals für grob übertrieben und unrealistisch, allein schon durch die räumlichen Gegebenheiten - vor der Frauenkirche war schlicht kein Platz für eine so große Menschenansammlung. Sie gingen lediglich von etwa 20.000 Zuhörern aus. Ähnlich schätzten auch ausländische Medienvertreter. So sprachen etwa amerikanische Journalisten in ihren Berichten in der "Washington Post" oder im "Wall Street Journal" von "mehreren Tausend Teilnehmern".
Die Zuhörer angefeuert
Während der Rede Kohls, so berichtete ein Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", hätten Sprechchöre, mit dem Rücken zum Rednerpult, das Publikum unentwegt angefeuert. "Um mich herum standen viele große blonde Männer, die ihre Fäuste in den Himmel stießen und sich in militantem Rhythmus die Seele aus dem Leib brüllten: 'Deutschland! Deutschland!'", schrieb der österreichische Journalist Ewald König, der vor der Rednertribüne stand. Weiter hinten, erinnert er sich, sei es hingegen ziemlich ruhig gewesen, keine Spur von Euphorie.
Genauso erlebte auch Horst Teltschik, Kohls außenpolitischer Berater, das Publikum: Vor dem Rednerpult "schäumten die Menschen über und schwenkten bundesdeutsche Fahnen". Hinten jedoch seien die Menschen "sehr ruhig" gewesen. "Sie hörten konzentriert zu und es herrschte kein Überschwang". Teltschik meinte gar "Teilnahmslosigkeit" zu spüren, wenn nicht ab und an doch einmal Beifall aufgebrandet wäre, der allerdings "sehr differenziert" ausfiel.
Stimmungsbild der Ostdeutschen
Noch einen Tag vor der Kohl-Rede hatten in einer Meinungsumfrage des "Spiegel" und des ZDF mehr als 70 Prozent der DDR-Bürger für einen eigenständigen deutschen Teilstaat votiert. Die Bilder der jubelnden und Fahnen schwenkenden Menschen vor der Frauenkirche sowie die "Deutschland! Deutschland!"- und "Helmut! Helmut!"- Sprechchöre verfehlten ihre Wirkung jedoch nicht. Condoleezza Rice, damals im Stab des Präsidenten der Vereinigten Staaten tätig, sagte: "Die begeisterte Teilnahme der Bevölkerung führte aller Welt den Einheitswillen der Ostdeutschen vor Augen."
"Wir schaffen die Einheit"
"Sie haben dem Bundeskanzler die Stadt überlassen", schrieb der Dresdner Dichter Thomas Rosenlöcher am Abend des 19. Dezember 1989 in sein Tagebuch. "Von diesem Tag an hört die DDR auf zu existieren." Ähnlich empfand auch DDR-Regierungschef Hans Modrow, wie er zwanzig Jahre später zugab: Dass es in Richtung Vereinigung gehen werde, dass habe er damals deutlich gespürt. Helmut Kohl seinerseits sagte bereits auf dem Heimweg ins Hotel zu seinen Begleitern: "Ich denke, wir schaffen die Einheit."
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im Radio: MDR Kultur | 19.12.2019 | 15:20 Uhr
(Zitate aus: Hans Modrow, Anfang und Ende, Hamburg 1991; Thomas Rosenlöcher, Die verkauften Pflastersteine, Suhrkamp Verlag 1990; "Und er sagte das Wort", Die Zeit, 19. 12. 2009; Markus Driftmann, Mythos Dresden. Symbolische Politik und deutsche Einheit, Politik und Zeitgeschichte, Nr. 21; Ewald König, Kohls Balanceakt in Dresden, www.euractiv.de/wahlen-und-macht.)
(zuerst veröffentlicht am 29.03.2010)