Das Wunder vom Kaukasus: Wie Kohl Gorbatschow das Ja zur Einheit abrang
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01. März 2022, 09:46 Uhr
Rückblickend erscheint es unglaublich, wie schnell die Grundlagen für die Deutsche Einheit gelegt wurden. Vom Mauerfall am 9. November 1989 bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 verging nicht einmal ein Jahr. Am Ende war die Entlassung der DDR aus dem Herrschaftsbereich der Sowjetunion eine Frage des Preises, verhandelt vom 14. bis 16. Juli 1990 im Kaukasus.
Das Treffen zwischen Kanzler Helmut Kohl und dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow im Juli 1990 im Kaukasus findet zwanglos in Strickjacken statt, doch es geht um die Souveränität des geplanten wiedervereinigten Deutschlands. Ohne formale Zustimmung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs können DDR und BRD nicht zusammengehen. Ein Knackpunkt ist die vom Westen angestrebte Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands im Militär- und Verteidigungsbündnis NATO. Am Ende eine Frage des Preises.
Knackpunkt NATO-Mitgliedschaft
Die "Zwei plus Vier"-Gespräche werden zum Verhandlungsmarathon mit Zielpunkt Deutsche Einheit. Die beiden deutschen Staaten und die Siegermächte Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich debattieren besonders heftig über die Frage des Abzugs der Sowjetarmee. Die USA und ihre Verbündeten wollen keine neue Sicherheitsarchitektur, sondern ein Deutschland in der NATO. In den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen geht es vor allem darum, die Sowjetunion in diesem Punkt zu überzeugen.
Putsch gegen Gorbatschow verhindern
Der Westen pokert hoch, denn mit dieser Haltung können die westdeutschen Diplomaten den kommunistischen Hardlinern in der Sowjetunion in die Hände spielen. Die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion ist schon so schlecht, dass die Gefahr eines Putsches gegen Gorbatschow immer größer wird. Doch ohne Gorbatschow keine deutsche Wiedervereinigung. Besonders kritisch ist die Lage des Generalsekretärs vor dem 28. Parteitag der tief gespaltenen KPdSU, der vom 2. bis 13. Juli 1990 in Moskau stattfindet.
Milliardenkredit für die Sowjetunion
Lothar de Maizière, damals Ministerpräsident der DDR, weiß, wie prekär die Lage ist: Setzen sich die Hardliner durch, kippt der Verhandlungspartner Sowjetunion weg. Der Traum von der deutschen Einheit könnte damit schnell ausgeträumt sein. "Bei einem Treffen im Mai sagte mir Außenminister Schewardnadse, die Sowjetunion würde möglicherweise schon im Juni/Juli zahlungsunfähig werden und ihren Kapitaldienst bei den Auslandsschulden nicht erfüllen können", erinnert sie de Maizière Jahre später. "Ich habe dann mit dem Kanzler gesprochen. Ein paar Tage später hat die Sowjetunion einen bundesverbürgten Fünf-Milliarden-Kredit gekriegt und auf diese Weise ihre Zahlungsfähigkeit über diesen Parteitag hinweg gerettet."
Der Parteitag war für uns durchaus ein Knackpunkt: Alle Zumutungen mussten wir auf einen Zeitpunkt nach diesem Parteitag verschieben, damit uns dort nicht der vierte Verhandlungspartner von 2+4 wegkippt!
Das "Wunder vom Kaukasus" ...
Den Durchbruch bei den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen bringt dann das Angebot der NATO, abzurüsten und die Strategie des Bündnisses zu reformieren. Nach Gesprächen in Moskau und in Gorbatschows Gästehaus in Archiz im Nordkaukasus geben Helmut Kohl und Michail Gorbatschow am 16. Juli 1990 den ausgehandelten Kompromiss bekannt: Die Sowjetunion stimmt einer NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands zu. Dafür, bekräftigt Kohl, werde Deutschland auf die Herstellung und den Besitz von ABC-Waffen verzichten. Weiterhin verspricht Kohl Hilfeleistungen bei der Rückführung sowjetischer Truppen und stimmt einer Begrenzung der Truppenstärke der Bundeswehr auf 370.000 Mann zu. In der Geschichtsschreibung des Einigungsprozesses geht dieser 16. Juli als "Das Wunder vom Kaukasus" ein.
... und das "Wunder von Washington"
Doch wenn es denn wirklich ein Wunder gegeben hat, dann hatte es sich bereits am 30. Mai 1990 in Washington ereignet. Schon dort einigten sich US-Präsident George Bush und Michail Gorbatschow grundsätzlich darauf, dass das wiedervereinigte Deutschland seine Bündniszugehörigkeit selbst bestimmen könne. Was zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR später ausgehandelt wurde, war vor allem der Preis für die sowjetische Zustimung dazu.
20 Milliarden D-Mark für sowjetische Zustimmung
Und das monetäre Tauziehen geht bis zum Schluss. Am 10. September, zwei Tage vor der Unterzeichnung des Zwei-Plus-Vier-Vertrages in Moskau, telefonieren Kohl und Gorbatschow erneut. Kanzlerberater Horst Teltschik berichtet in seinem Buch "329 Tage", dass es bei diesem Gespräch zentral um die finanziellen Leistungen Deutschlands ging.
Kohl habe einen Gesamtbetrag von zwölf Milliarden D-Mark angeboten. Gorbatschow hingegen forderte mit Hinweis auf die schwierige Wirtschaftssituation der UdSSR 15 bis 16 Milliarden D-Mark. Als das Gespräch festzufahren drohte, offerierte Kohl einen zusätzlichen zinslosen Kredit in Höhe von drei Milliarden D-Mark. Gorbatschow habe dieses Angebot "spürbar erleichtert" aufgenommen. Rechnet man zu den im September 1990 ausgehandelten 15 Milliarden noch den bereits im Juli, kurz vor dem Parteitag der KPdSU vereinbarten Fünf-Milliarden-Kredit hinzu, so hat die Zustimmung Moskaus zur deutschen Einheit etwa 20 Milliarden D-Mark gekostet.
Jahrelanger Abzug der sowjetischen Streitkräfte
Fast vier Jahre dauert dann noch der ausgehandelte Abzug der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD). 546.200 Soldaten, Offiziere nebst ihren Angehörigen müssen nach Russland zurückgebracht werden. Hinzu kommen 123.629 schwere Waffen und sonstiges militärisches Gerät. Am 31. August 1994 geht mit einer Feier im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt diese Ära zu Ende. Einen Tag später ist die Bundesrepublik Eigentümerin von 3.000 mehr oder weniger abgewirtschafteten Kasernen und verseuchten Grundstücken.
Dieses Thema im Programm: artour | 07. Mai 2020 | 22:05 Uhr