Wählerwanderung Ist die AfD die neue Heimat für Russlanddeutsche?
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19. Oktober 2017, 11:54 Uhr
In den russischen Spätaussiedlern hatte die CDU in den vergangenen Jahren eine treue Wählerschaft. Doch die politischen Ansichten der Russlanddeutschen haben sich geändert. Was ist der Grund dafür?
Magdeburg im August 2017. Russland-Kongress der AfD-Fraktion in Sachsen-Anhalt. Waldemar Birkle betritt im feinen schwarzen Anzug mit glänzender Krawatte die Bühne und bedankt sich mit russischem Akzent und schwäbischer Färbung bei seinem Vorredner: "Ich versuche, mein Beschtes zu machen." Sein Thema: Die Russlanddeutschen als Brücke zwischen den Völkern.
Der russlanddeutsche AFD-Star
Birkle, selbst Spätaussiedler, geboren in Kasachstan, mit 17 nach Deutschland gekommen, ist der Star der AfD in Baden-Württemberg - einem Bundesland, das laut Bundesinnenministerium neben Bayern und Niedersachsen die meisten Spätaussiedler hat. Seine Partei holte unter dem Kandidaten Bernd Grimmer bei den Landtagswahlen im Wahlkreis Pforzheim aus dem Stand mit 24,2 Prozent das Direktmandat. Im Stadtteil Haidach – zwei von drei Menschen hier sind Russlanddeutsche – stimmten sogar über 43 Prozent für die AfD.
Daraufhin tratt die AfD in Pforzheim mit Birkle auch um ein Direktmandat im Bundestag an. Gerade weil er viele russlanddeutsche Wähler hinter sich vereinen konnte, standen die Chancen nicht schlecht.
Am Ende hat es dafür nicht ganz gereicht. Das Direktmandat ging an den CDU-Politiker Gunther Krichbaum. Immerhin erreichte Birkle bei den Erststimmen den dritten Platz in seinem Wahlkreis, gleich nach der SPD-Kandidatin. Bei den Zweitstimmen lag seine Partei in Pforzheim, einer der russlanddeutschen Hochburgen, mit 16,3 Prozent zudem spürbar über dem landesweiten Ergebnis von 12,2 Prozent.
Ältere Aussiedler sind der CDU dankbar
Bisher galt die Faustregel: Russlanddeutsche wählen CDU. Schließlich war es die Regierung von Helmut Kohl, die es ihnen 1990 gesetzlich erleichterte, als Aussiedler und Spätaussiedler nach Deutschland zu kommen und den deutschen Pass zu erhalten. Jahrelang konnte sich die CDU darauf verlassen, dass von den geschätzten 1,5 Millionen wahlberechtigten Spätaussiedlern aus den Ex-Sowjet-Republiken 65 Prozent ihr Kreuz bei den Christdemokraten setzen. Doch das war einmal. Eine Studie des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration zeigt: Mittlerweile finden die Unions-Parteien nur noch bei 45 Prozent der Spätaussiedler Zustimmung.
Wählerwanderung bei den Jüngeren
An wen hat die Union bei den russlanddeutschen Wählern verloren? Vor allem die Jüngeren würden sich von Merkels Politik abwenden, besagt eine Studie der Universität Duisburg-Essen. Sie seien der CDU "nicht mehr so dankbar, wie die ältere Generation". Und sie seien unzufrieden mit Merkels Flüchtlingspolitik. "Viele vergleichen ihren eigenen Migrationsprozess nach Deutschland mit der Flüchtlingswelle und empfinden die Unterschiede als unfair, da viele von ihnen zum Teil Jahre warten mussten, um nach Deutschland zu kommen", heißt es in der Studie.
"Geräuschlose" Integration mit Problemen
Die Russlanddeutschen sind relativ unauffällig in Deutschland. Eine Untersuchung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bescheinigte ihnen 2013 eine sogenannte "geräuschlose" Integration, sprach aber auch die Probleme an. So haben Akademiker Schwierigkeiten, einen passenden Job zu finden, weil ihre in der Sowjetunion absolvierten Abschlüsse nicht anerkannt werden. Russlanddeutsche Rentner leiden unter Altersarmut und sind auf die finanzielle Unterstützung ihrer Kinder angewiesen.
Fall Lisa trieb die Russlanddeutschen auf die Straße
Hinzu kommt der Unmut gegen Flüchtlinge. Anfang 2016 ging deswegen ein Teil der Spätaussiedler auf die Straße. Auslöser war der "Fall Lisa": Die 13-jährige Tochter deutsch-russischer Eltern aus Berlin Marzahn hatte behauptet, von "Südländern" vergewaltigt worden zu sein. Später erzählten die Eltern auch in russischen Medien, Lisa sei von "Arabern" entführt und missbraucht worden. Die Geschichte stellte sich schließlich als falsch heraus. Lisa hatte sie größtenteils erfunden. Doch sie trieb Tausende Russlanddeutsche in vielen deutschen Städten auf die Straße, mit Forderungen nach mehr Sicherheit oder Slogans wie "Unsere Heimat bleibt deutsch".
AfD umwirbt die Aussiedler auf Russisch
Eine Stimmung, die die AfD auffängt. So meint die Osteuropa-Journalistin Gemma Pörzgen im MDR-Interview, einige Russlanddeutsche hätten sehr konservative Ansichten und fänden sich im Weltbild der AfD leichter wieder als in der CDU und in deren Modernisierungskurs der letzten Jahre. Zudem wirbt die AfD im Wahlkampf mit Wahlprogramm, Flyern und Facebook-Auftritten auf Russisch. Keine andere Partei kann das vorweisen.
Dass sich rechte Parteien um die Aussiedler bemühen, ist nicht neu. NPD, die Schill-Partei, Pro NRW – sie alle haben es schon versucht. Aber keine war bisher so erfolgreich wie die AfD.
Hinweis: In einer früheren Version des Artikel hieß es, dass Waldemar Birkle bei der Landtagswahl 2016 das Direktmandat im Wahlkreis 279 errungen hat und in den Landtag eingezogen ist. Das ist falsch: Der damalige Direktkandidat war Bernd Grimmer. (geändert am 19.10.2017)
Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: Radio | 17.09.2017 | 06:00 Uhr