Russlanddeutsche - wie politisch sind sie?
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22. September 2017, 17:48 Uhr
In Deutschland leben rund 2,4 Millionen Bürger russlanddeutscher Herkunft – rund 1,5 Millionen von ihnen sind wahlberechtigt. In den vergangenen Landtagswahlen hatte ein Teil von ihnen die AfD gewählt. Woran liegt das? Ein Doppel-Interview mit Historiker Viktor Krieger und Journalistin Gemma Pörzgen.
Die Russlanddeutschen galten bislang als relativ "politikfaul". Vor der Bundestagswahl gibt es plötzlich eine Diskussion darüber, wie sie wählen würden. Woran liegt es?
Gemma Pörzgen: Es ist eine große Gruppe, rund 2,4 Millionen Menschen in Deutschland, die bislang politisch nicht besonders gut vertreten sind. Das hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass sich die Parteien in den vergangenen Jahren nicht besonders um die Russlanddeutschen gekümmert haben. Es ist eine Gruppe, die von der Politik weitgehend vergessen wurde. In diese Lücke ist die AfD gesprungen, sie hat unter Russlanddeutschen sehr aktiv Wahlkampf gemacht, sogar Plakate auf Russisch drucken lassen, denn die ältere Generation der Russlanddeutschen kann oftmals nicht so gut Deutsch. Hinzu kommt, dass einige Russlanddeutsche sehr konservative Ansichten haben und sich im Weltbild der AfD leichter wiederfinden als in der CDU und in deren Modernisierungskurs der letzten Jahre.
Aber stimmt es, dass die Politik die Volksgruppe mehrheitlich sich selbst überlassen hat?
Viktor Krieger: Lange Zeit wurden die Erfahrungen, Interessen und Probleme der Russlanddeutschen in Deutschland in der Tat nicht besonders berücksichtigt. Aus eigener Erfahrung im Vielvölkerstaat UdSSR, der schließlich an inneren Widersprüchen und an der unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Vorstellung der einzelnen Nationen zerfallen ist, wissen sie um die Fragilität von supranationelen Staatsgebilden. Deshalb betrachten viele Russlanddeutschen die Prozesse der Europäischen Einigung und die Einführung der Einheitswährung Euro mit großer Skepsis. Sie fühlten sich ignoriert. Ihre historischen Dikaturerfahrungen, auch Erlebnisse im alltäglichen Zusammenleben in turk-muslimisch geprägten Staaten wie Kasachstan oder Usbekistan werden von der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Die Flüchtlingskrise hat diese schon vorhandene Unzufriedenheit weiter verschärft.
Und deshalb landet ein Teil der Russlanddeutschen bei der AfD?
Viktor Krieger: Im Zuge der Flüchtlingskrise mussten die Russlanddeutschen erleben, wie innerhalb weniger Monate Hunderttausende Menschen unkontrolliert ins Land gelassen und aufgenommen werden. Dabei mussten sie selbst jahrelang auf die Aufnahme warten und ihr Kriegsfolgenschicksal als Personen deutscher Herkunft akribisch nachweisen, bevor sie nach Deutschland kommen durften. Für starke Unzufriedenheit sorgt ferner das verletzte Gerechtigkeitsgefühl: Die meisten Russlanddeutschen kamen, um gleichberechtigt als Deutsche in einem freiheitlich und demokratischen Staat mit einer sozial- und marktwirtschaftlichen Ordnung leben zu dürfen. Sie hofften auf ein Leben in einem stabilen Rechtsstaat mit verlässlichen Institutionen, mit einem sicheren und gewaltfreien Alltag, im christlich geprägten Umfeld, kurzum, mit Zukunftsperspektiven für sich und vor allem für ihre Nachkommen.
Da haben sie viele Einschränkungen ohne Proteste hingenommen, angefangen bei der Obergrenze beim Zuzug von Spätaussiedlern bis hin zum Nachweis der Kenntnis der deutschen Sprache. All das sind Punkte, die es im Grundgesetz nicht gibt. Das führte dazu, dass in den vergangenen Jahren nur zwischen 6.000 bis 7.000 Spätaussiedler nach Deutschland kommen durften. Viele russlanddeutsche Familien sind nach wie vor zerrissen, die Verwandtschaft darf nicht nachkommen, weil sie über kein ausreichendes Deutsch verfügt. Die meisten Vertreter der deutschen Minderheit, die in Russland oder Kasachstan leben, verfügen über eine gute Ausbildung und Fachqualifikationen; die Frauen haben oft höhere Bildungsabschlüsse als Männer.
Was hat das mit dem Flüchtlingsstrom 2015 zu tun?
Viktor Krieger: Die Russlanddeutschen erlebten, dass in wenigen Monaten fast eine Million Menschen aufgenommen werden konnten, ohne Kontrolle und oft ohne Personalien. Politik und Medien reden ständig über Chancen und Herausforderungen für Deutschland, über neue Mitbürger und von den Anstrengungen der Integration. Der kritische Beobachter traut seinen Ohren nicht. Ist hier von Asylbewerbern oder Flüchtlingen die Rede, die hier nun einen temporären Schutz suchen und mehrheitlich später in ihre Heimatorte zurückkehren wollen? Damit hätten wohl die wenigsten russlanddeutschen Bundesbürger ein Problem. Oder sind es die Menschen, die unser Demographieproblem und den Fachkräftemangel beheben sollen? Dieser Tenor in der Politik und in den Massenmedien ist nicht zu überhören. Plötzlich scheinen Analphabetismus, tief verwurzelte patriarchalische Clanstrukturen, kaum vorhandene Fachausbildung, tiefe Religiosität, eigenwillige Rechtsvorstellungen und fehlende Kenntnisse der deutschen Sprache nicht besonders hinderlich zu sein.
Viktor Krieger Historiker, in Kasachstan geboren. 1991 Übersiedlung nach Deutschland. Zurzeit Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkt: Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen im Kontext des multikulturellen und multikonfessionellen Vielvölkerstaates Russland bzw. UdSSR.
Sind die Russlanddeutschen nun politisch erwacht?
Gemma Pörzgen: Viele ältere Russlanddeutsche waren über lange Jahre politisch sehr passiv. Das ist auch eine Folge ihrer sowjetischen Sozialisation. Auch bei anderen Einwanderergruppen ist zu beobachten, dass die erste Generation zunächst damit beschäftigt ist, anzukommen. Erst die zweite Generation – Kinder und Enkel von Einwanderern – werden politisch aktiv. Das braucht immer eine gewisse Zeit. Das beobachten wir jetzt auch bei den Russlanddeutschen. Und was die Beliebtheit der AfD bei den Russlanddeutschen betrifft: Ich glaube, dass die deutschen Medien hier übertreiben. Diese Bevölkerungsgruppe ist vielfältiger als die sehr pauschale Darstellung in den Medien glauben macht.
Gemma Pörzgen Aufgewachsen in Moskau und Bonn, freie Journalistin mit Osteuropa-Schwerpunkt in Berlin. Studium der Politikwissenschaften, Slawistik und Osteuropäischen Geschichte in München.
Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: Radio | 20.03.2016 | 20:33 Uhr