Zweiter Weltkrieg Kinderlandverschickung: Nationalsozialisten trennen Kinder von ihren Eltern
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06. Oktober 2020, 11:40 Uhr
Vor 80 Jahren, am 10. Oktober 1940, verließ ein Zug mit Kindern Hamburg. Auf Befehl Adolf Hitlers wurden hauptsächlich Schulkinder aus den Zentren der Bombardierung genommen. Der Nationalsozialismus hatte mit dieser "Erweiterten Kinderlandverschickung" auch ein ideologisches Ziel. Er wollte die Kinder damit an sich binden. Viele waren monatelang von ihren Eltern getrennt. Einige sollten ihre Familien nie wieder sehen.
Nach dem der erste Kinderzug am 3. Oktober aus Berlin abfuhr, verließ am 10. Oktober 1940 ein zweiter Kinderzug den Bahnhof einer Großstadt. Dieses Mal reisten Kinder aus Hamburg Richtung Sachsen. Die genaue Anzahl der verschickten Kinder ist unbekannt. Die Großstadtkinder sollten aber in Regionen wie die Bayrische Ostmark, Mark Brandenburg, Oberdonau, Sachsen, Schlesien, Sudetenland, Thüringen, Wartheland und Ostland untergebracht werden.
Die Aufgabe der Presse war es, ein positives Bild von der Aktion zu vermitteln und klarzumachen, dass Kinder im Dritten Reich die Trennung von ihren Eltern und eine Reise ins Ungewisse locker wegstecken.
…einige Stunden später werden sämtliche Lampen im Zug gelöscht. Was ist? In der nächsten Stadt ist Fliegeralarm. Ach so, das kann die kleinen Hamburger nicht erschüttern.
Harry Laub, ein Lehrer, der diesen Zug begleitete, beschrieb die Situation so: "Der Zug hielt auf offener Strecke, nach einiger Zeit erloschen auch die letzten schwachen blauen Lämpchen in der Wagenmitte. Erfreulicherweise ging das sehr ruhig in unserem Wagen ab. Die Kinder kuschelten sich in allen möglichen und unmöglichen Stellungen zu fünft auf den ausgezogenen Wagensitzen zusammen und schliefen."
Kinderlandverschickung und Ferienreisen?
"Kinderlandverschickung" war schon vor 1933 die Bezeichnung für Ferienreisen von Stadtkindern in ländliche Gebiete. Die Evakuierung der Kinder von 1940-45 wurde "Erweiterte Kinderlandverschickung" genannt, so als ginge es lediglich um eine Ausweitung bereits vorher bestehender Erholungsmaßnahmen – mit dem Versprechen auf frische Luft und ausreichend Essen. Geleitet vom Reichjugendführer Baldur von Schirach, war die Hitlerjugend verantwortlich für Organisation und die Betreuung der Kinder.
Erziehung zum Nationalsozialismus
Die ersten Kinderzüge aus Berlin und Hamburg waren bunt gemischt. Sogar Vierjährige waren dabei. Erst später ging man dazu über, ganze Klassen mit Zehn- bis Vierzehnjährigen samt ihrer Lehrer zu verschicken und sie in Jugendherbergen, Gasthöfen, Klöstern, Zelten oder Schulen unterzubringen. Die Sechs- bis Neunjährigen wohnten bei Familien, auch für Mütter mit Kleinkindern gab es Möglichkeiten – das komplette Programm war kostenlos.
Der nationalsozialistische Staat verfolgte mit dieser Fürsorge aber noch ein anderes Ziel: Die Bindung der Jugend an ihn und sie aus Familie und Religionsgemeinschaft zu lösen. Der Wunschtraum des Führers für sein Tausendjähriges Reich war:
Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. Stark und schön will ich meine Jugend, herrisch und unerschrocken. Das freie herrliche Raubtier muss aus ihren Augen blitzen.
Es gab Lagerleiter, die den Auftrag, Kinder "hart wie Kruppstahl" zu machen, sehr ernst nahmen. Kurt T. schrieb später über seine Erfahrungen:
Einer meiner Klassenkameraden getraute sich nicht, an einem Seil über einen Bach zu hangeln. Der Lagerführer hänselte ihn. Der Junge weinte, zog sich zurück und wurde in den nächsten Tagen nur noch verstörter. Statt mit ihm zu sprechen, verordnete unser Lagermannschaftsführer den so genannten Stubengeist: Nachts mussten wir den Jungen in ein Bettlaken einwickeln, er wurde vor der Tür mit Wasser übergossen. Zu allem Unglück wurde der Junge in den nächsten Tagen auch noch Bettnässer. Seine Eltern holten ihn ab.
Rückholungen waren verboten
Grundsätzlich war eine Rückholung verboten. Erst nach sechs bis neun Monaten war die Rückkehr geplant, gegen Kriegsende blieben manche Kinder sogar länger als ein Jahr in der Ferne. Es gab kleine Lager und welche mit über 1.000 Schülern. Oft genug waren diese überfüllt oder die hygienischen Zustände mangelhaft.
Über die Ankunft in der Jugendherberge "Oybin" melden die Zeitungen: "Die Kinderaugen strahlten, als die das schöne Gebäude und die komfortablen Zimmer sahen." In dem Schulbericht heißt es darüber: "Die Jugendherberge wurde viel zu voll belegt, es gab nicht einmal genügend Betten." Die Begleiterin Alexa Unbehauer-Horchera beschrieb die ganze Situation so:
Die Kinder litten, vor allem die 52 Sextanerinnen, mit denen ich meinen Schlafsaal als Ersatzmutter teilte und deren tränenfeuchte Gutenachtküsse alle abendlich immer neue tröstende Worte von mir forderten… Jede Nacht verirrte sich eins der Kinder zwischen den vielen Bettreihen auf dem Weg zum Klo und morgens fand sich immer ein Verzweiflungspfützchen zum Aufwischen.
Unterricht inmitten des Sterbens
Die Kinderlandverschickung war eine freiwillige Maßnahme. Mit der Verschickung ganzer Schulklassen waren die Eltern jedoch in Zugzwang. Auf alle Zögerlichen wurde Druck ausgeübt; sie sollen sich nicht am Tode ihres Kindes schuldig machen.
Für die meisten Eltern blieb die Verschickung jedoch keine Option, da sie ihre Kinder nicht besuchen durften. Die Schulbehörde hatte durchgesetzt, dass in den Lagern auch richtig unterrichtet wurde.
Der Unterricht beinhaltete nahezu alle Fächer. Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik, Geschichte, Erdkunde und natürlich Handarbeit, die dem Stopfen unendlicher Berge von Soldatenstrümpfen gewidmet war.
Während die Kinder in den Lagern in Zittau, Dresden, Pirna, in Coburg, Bayreuth, Cham, in Westpommern, Ostpreußen oder Schlesien waren, blieb die Familie in den großen Städten, die ausgebombten wurden, waren ihre Väter im Krieg. In den Lagern erreichte nicht wenige Kinder die Nachricht vom Tod ihrer Eltern. Darunter auch Bernd M., der damals noch ein Kind war:
Ich kann mich genau erinnern, mittags traf die Post ein, der Lehrer sah sie durch, reichte die Briefe weiter. Einen Brief behielt er bei sich. Ging kurz aus dem Klassenzimmer, sagte noch, wir könnten in den Garten gehen. Einen kleinen Jungen winkte er zu sich heran, legte den Arm um seine Schulter und ging mit ihm den Flur entlang… Wir sahen den Jungen erst am Abend wieder, blass, still kroch er in sein Bett, zog die Decke über den Kopf und erst Stunden später, als ich zufällig wach wurde, hörte ich sein Weinen… Erst nach Tagen erfuhren wir, dass seine Mutter und Großmutter und seine kleine Schwester bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen waren.
Nach dem Bericht von Harald X. ließ ein HJ-Führer beim Fahnenapell drei Jungen hervortreten und verlas, wer aus ihrer Familie gestorben war: Der Vater des einen, der Bruder des anderen und beim dritten beide Eltern.
Sie mussten stramm stehen und ich bin heute nicht einmal sicher, ob die drei vor der Kulisse für Sekunden nicht stolz waren auf den Tod ihrer Angehörigen.
Wie viele Kinder wurden evakuiert?
Wie viele Kinder und Jugendliche evakuiert wurden und auch, wie viele Lager es gab, bleibt unklar, da die statistischen Unterlagen der Berliner Reichsdienststelle KLV vernichtet worden waren.
An die zwei Millionen Kinder sollen im Laufe des Krieges in fremde Familien oder Lager verschickt worden sein. Die Zahl der Lager wird auf 5.000 geschätzt. In der Erinnerung werteten viele der Teilnehmer das Lagerleben, bis auf das Heimweh, sehr positiv.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im: MDR FERNSEHEN | 04.02.2020 | 22:05 Uhr