Kinderraub Vergessene Opfer aus Polen: Nazis raubten ihnen Identität und Kindheit
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22. Juli 2021, 09:01 Uhr
Tausende polnische Kinder wurden während der deutschen Besetzung des Landes in den Jahren 1939 bis 1945 von den Nazis entführt und umerzogen. Bis heute suchen diese Menschen nach ihren Wurzeln. Von der Bundesregierung wurden sie nie entschädigt und sehen sich heute als vergessene Opfer.
Bereits 1938 erklärte Reichsführer SS Heinrich Himmler: "Ich habe wirklich die Absicht, germanisches Blut zu holen, zu rauben und zu stehlen, wo ich kann." In den von Hitlerdeutschland besetzten Ländern Mittel- und Osteuropas wurden daraufhin zahlreiche Kinder ihren Eltern entrissen oder aus Waisenhäusern zur "Eindeutschung" ins Deutsche Reich verschleppt. Auswahlkriterien waren blaue Augen und blonde Haare, entsprechend Hitlers Idealvorstellung vom "Arier". Die "eingedeutschten" Kinder sollten in der nationalsozialistischen Ideologie die "arische Rasse" zahlenmäßig verstärken.
Brutale Zwangsgermanisierung
Auch Zyta Suś war eines der verschleppten Kinder. Sie wurde 1934 in Łódź (1940 bis 1945 Litzmannstadt) geboren. Nach dem Tod ihrer Mutter kam sie in ein Waisenhaus. 1940 wurde Zyta in das Jugendverwahrlager Litzmannstadt deportiert. Aufgrund ihres "arischen" Erscheinungsbildes wurde sie von dort nicht weiter in die Gaskammer, sondern in ein "Umerziehungsheim" im besetzten Polen und dann in die "Reichsschule für Volksdeutsche" in Achern geschickt. Weil Zyta in der Reichsschule ein Hitlerplakat von der Wand abgerissen hatte, wurde sie zur Strafe brutal körperlich gezüchtigt. Sie wurde im Keller eingesperrt und musste hungern.
Doppelte Entführung
Zyta hatte zunächst Glück im Unglück. Sie kam zu einer Pflegefamilie nach Salzburg. Dort sorgten sich die Pflegeeltern um sie wie um ihr eigenes Kind. Doch nach knapp zwei Jahren kam eine zweite Entführung, die nicht weniger traumatisch war als die erste.
Im Sommer 1945 tauchten nämlich in Salzburg Delegierte der polnischen Regierung und der Alliierten auf, um verschleppte Kinder wie Zyta in ihre alte Heimat zurückzubringen. Das Mädchen hatte aber in der Zwischenzeit seine Muttersprache Polnisch nahezu verlernt. Zyta landete wieder in einem Waisenhaus, wo sie deshalb als "dumme Deutsche" beschimpft wurde. Als sie später zu polnischen Pflegeeltern kam, wurde sie von ihnen jahrelang von der Umgebung isoliert – bis sie wieder akzentfrei Polnisch sprach.
Ein Trauma fürs Leben
Heute bekommt die pensionierte Friseurin Zyta eine Rente von 300 Euro im Monat und ein paar Hundert Euro von der Stiftung für deutsch-polnische Versöhnung, von der sie als Opfer des Naziregimes anerkannt wurde. Das Trauma sitzt tief. Sie will weder ihr Gesicht zeigen noch mit dem Namen genannt werden, den sie als Erwachsene getragen hat. Sie fürchtet, wieder als "dumme Deutsche" abgestempelt zu werden, falls ihre Umgebung von ihrem Schicksal erfahren würde.
Man muss nicht getötet werden, um tot zu sein. Wir sind es. Misstrauisch, einsam unter den Lebenden.
Die Suche nach den Wurzeln
Hermann Lüdeking wurde – genau wie Zyta – aus einem polnischen Waisenhaus ins Deutsche Reich verschleppt. Nach dem Krieg durfte er jedoch in Deutschland bleiben. Die Alliierte Kommission hatte nämlich 1945 festgestellt, dass Hermanns Muttersprache Deutsch sei – Grund genug, um das Kind nicht nach Polen zurückzuschicken. Sonst wäre er wieder in einem polnischen Waisenhaus gelandet.
Wie Lüdeking viel später entdeckte, wurde seine Identität im Kinderheim "Sonnenwiese" bei Kohren-Sahlis südlich von Leipzig geändert. Das Heim gehörte dem SS-Verein "Lebensborn", der nicht nur für die Erhöhung der Geburtenrate "arischer" Kinder, sondern auch für die Zwangsgermanisierung der aus Osteuropa entführten Kinder verantwortlich war. Die Namen und auch die Geburtsdaten der Kinder wurden geändert: Aus Roman Roszatowski wurde ein Hermann gemacht und Maria Lüdeking, Mitglied in der NSDAP, übergeben. Bis jetzt kennt Hermann alias Roman seine Wurzeln nicht. "Das beunruhigt einen schon", sagt der pensionierte Ingenieur, der heute in Bad Dürrheim im Schwarzwald lebt.
Ich leide heute noch darunter, dass ich nicht weiß, wer meine Eltern sind.
Der Kampf um die Entschädigung
Hermann Lüdeking engagiert sich im Verein "Geraubte Kinder - vergessene Opfer" und hat sich jahrelang für die Entschädigung für die aus den besetzten Ländern entführten und zwangsgermanisierten Kinder eingesetzt. Doch inzwischen musste er aufgeben. Als letzte Instanz entschied das Bundesverwaltungsgericht gegen Entschädigunszahlungen.
Zuvor lehnte auch die Bundesregierung und der Petitionsausschuss des Bundestages Lüdekings Forderungen ab. Das Bundesfinanzministerium schrieb 2013 in einer Stellungnahme: "Das Schicksal betraf im Rahmen des Kriegsgeschehens eine Vielzahl von Familien und diente der Kriegsstrategie. Es hatte nicht in erster Linie die Vernichtung oder Freiheitsberaubung der Betroffenen zum Ziel, sondern deren Gewinnung zum eigenen Nutzen. Hierbei handelt es sich um ein allgemeines Kriegsfolgenschicksal."
Der Petitionsausschuss des Bundestages verweist dagegen auf die finanzielle Unterstützung von fast 40.000 Euro seitens der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" für die Wanderausstellung über das Schicksal der geraubten Kinder, die alleine in Freiburg 4.000 Menschen gesehen hätten. Das sei aber weder Entschädigung noch moralische Wiedergutmachung, empört sich Hermann Lüdeking.
Informationen zu den Opferzahlen
Die genauen Opferzahlen sind seit vielen Jahren ein Streitthema. In Polen kursiert die Zahl 200.000. Sie stammt von Roman Hrabar, einem polnischen Juristen, der nach dem Zweiten Weltkrieg der "Regierungsbeauftragte zur Repatriierung der verschleppten Kinder" war. Allerdings hat Hrabar alle polnischen Kinder in Deutschland einbezogen, zum Beispiel auch die Kinder der Tausenden Zwangsarbeiterinnen, denen die Kinder zum Teil weggenommen wurden, um sie in die deutsche Gesellschaft einzugliedern.
In dem Film "Kinderraub der Nazis – Die vergessenen Opfer" wird die Zahl 20.000 genannt. Die Quelle dafür ist Professor Isabel Heinemann von der Universität Münster. Sie hat für ihre Dissertation die Akten ausgewertet, die heute noch zu finden sind - und hat diese Zahlen hochgerechnet. Nach dem Kenntnisstand der Autorinnen des MDR-Filmes hat sich nach Hrabar nie wieder ein polnischer Historiker mit der Konkretisierung der Zahlen beschäftigt.
Keine moralische Wiedergutmachung
Wie es anders geht, zeigt die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, die dem aus Polen geraubten Mädchen Janina Kunsztowicz, damals vom Lebensborn-Verein zu Kunze umbenannt, ein Schmerzensgeld in Höhe von 3.600 Euro gezahlt hat. Dies geschah auch dank der Arbeit des Vereins "Geraubte Kinder – vergessene Opfer". Das Geld wurde aus landeseigenen Härtefonds zur Unterstützung von NS-Opfern ausgezahlt. Deutschlandweit gingen jedoch Tausende "geraubte Kinder" leer aus. Eine grundsätzliche Entschädigung von der Bundesregierung steht ihnen nicht zu.
Auch Hermann Lüdekings Bemühungen um eine finanzielle Entschädigung sind gescheitert. Es verbittert ihn, dass etwa in Polen, Österreich und in Norwegen die ehemaligen geraubten Kinder Entschädigungen bekommen haben. Nur nicht in Deutschland.
Es geht vor allem auch um die moralische Wiedergutmachung, dass man uns in Deutschland überhaupt als Opfer anerkennt. Wenn das noch etwas länger dauert, dann hat sich in fünf Jahren alles biologisch erledigt.
Buchtipp: "Als wäre ich allein auf der Welt: Der nationalsozialistische Kinderraub in Polen"; von Agnieszka Waś-Turecka, Ewelina Karpińska-Morek, Monika Sieradzka, Artur Wróblewski, Tomasz Majta, Michał Drzonek; Verlag Herder, 1. Auflage 2020.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Kinderraub der Nazis - Die vergessenen Opfer | 01.09.2020 | 22:10 Uhr