Verlust von Eltern, Heimat und Kindheit: Erinnerungen an das Jahr 1945
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07. Mai 2020, 16:12 Uhr
Im Mai 1945 endet der 2. Weltkrieg. Die Zeitzeugen sind damals Kinder. Sie fliehen mit ihren Eltern vor der näher rückenden Front, sitzen in Bombenkellern, spielen in Ruinen oder werden zum Volkssturm eingezogen. Es sind "Kinder des Krieges", die viel zu schnell erwachsen werden mussten.
Rolf Schrader, Gudrun Haarman, Ruza Orlean – sie sind, wie viele andere Kinder, vor dem Krieg geflohen und konnten ihm doch nicht entfliehen. Viele haben ihre Eltern, manche ihre ganze Familie verloren. Eine ganze Generation wurde geprägt von Hunger, Angst, Heimatlosigkeit.
Ohne Vorwarnung: Angriff auf Magdeburg
So auch Rolf Schrader. Für ihn und seine Schwester Brigitte Büchsler ist der Magdeburger Dom ein besonderer Ort. Hier wurden sie getauft und konfirmiert. Beide sind sie hineingeboren in die Zeit des Nationalsozialismus. Aufgewachsen sind sie im Krieg. 1945 sind sie gerade mal fünf und neun Jahre alt. Die vielen Luftangriffe auf ihre Heimatstadt haben sich in ihre Seelen eingebrannt. So auch der vom 16. Januar - als ohne Vorwarnung 350 britische Bomber plötzlich über der Stadt auftauchten.
Ohne die Lieblingspuppe in den Keller
"Als wir dann die Treppen runter sind, haben wir schon die ersten Bomben gehört", erinnert sich Rolf Schrader, der damals fünf Jahre alt war.
Wir sind Hals über Kopf in den Keller und haben überhaupt nichts mitgenommen, was uns irgendwie besonders wichtig war. Ich hatte einen kleinen Teddy, der mir wichtig war.
Für seine Schwester Brigitte war es eine Puppe. "Die lag in einem Puppenwagen, der jeden Abend an der Korridortür stand. Die habe ich dahin gestellt und wenn Alarm war, angezogen und dann in den Keller runtergetragen. Aber am 16. Januar 1945 war Alarm und sehr schnell kamen dann schon die Bomben und der Puppenwagen blieb stehen."
Verlust von Kinderzimmer, Zuhause, Spielzeug
20 Angriffe hatten die Geschwister schon überstanden. Aber diesmal herrscht Panik und Todesangst. Es ist die Magdeburger Schicksalsnacht. Die Innenstadt wird unwiederbringlich zerstört. Rolf und Brigitte verlieren ihr Zuhause, ihr Kinderzimmer, das Spielzeug. Trotz Feuersturm versucht die Familie noch zu retten, was zu retten ist.
Jähes Ende einer glücklichen Kindheit in Schlesien
Schlesien Mitte Januar 1945. Gudrun Haarmann ist neun. Sie wächst in Brieg auf, einer Kleinstadt südöstlich von Breslau. Es ist eine behütete Kindheit. Die Ostfront ist Anfang Januar noch weit weg. Der Familie geht es gut. Die Eltern führen die "Luisen-Apotheke" im Ort. Gudrun Haarmann macht schon als Kind mit, mischt Kräuter, füllt Tropfen um, packt Pfefferminzplätzchen ab. Ende Januar 1945 ändert sich alles. Die Rote Armee ist auf dem Vormarsch Richtung Oder. Die Wehrmacht erklärt das nahegelegene Breslau zur Festung. Kinder, Frauen und Alte sollen auch aus Brieg evakuiert werden.
"Der 21. Januar war ein sehr kalter Tag, wir hatten Temperaturen von circa Minus 20 Grad Celsius, meine Schwester war im Bund Deutscher Mädel und kam von einem Einsatz wieder", erinnert sich Haarmann. "Und da sagte sie: 'Wir haben alte Leute zum Zug begleitet.' Da sprang mein Vater wie elektrisiert auf und sagte: 'Zieht euch an.' Und dann wurde ein Schlitten mit dem Gepäck beladen, meine zweijährige Schwester wurde in den Kinderwagen verpackt und dann ging es zum Bahnhof."
Abschied vom Vater
Der Vater bleibt zurück. Der Abschied vom Vater ist für alle sehr schmerzhaft. Ob sie sich jemals wiedersehen, ist ungewiss.
Wir haben geweint, geschrien und ihn nicht loslassen wollen, aber es musste halt sein.
Nur Mütter, Kinder und Alte dürfen aus der Stadt. Eine traumatische und chaotische Flucht beginnt. Tausende Schlesier fliehen in diesen eisigen Tagen vor der Roten Armee in Richtung Westen. Auf ihrem Vormarsch erreichen die sowjetischen Truppen am 27. Januar Auschwitz.
Freundschaft zwischen einer Jüdin und einem Deutschen
Dorthin wird Ruza Orlean, die aus Krakau stammt, mit 16 Jahren deportiert. Als Auschwitz durch die Rote Armee befreit wird, ist das jüdische Mädchen schon als Zwangsarbeiterin in Aschersleben, im heutigen Sachsen-Anhalt. Hier muss sie mit Hunderten anderen Häftlingen Flugzeuge in den Junkers-Werken für den deutschen Endsieg zusammenschweißen. Das Schweißen lernt Ruza Orlean von Oskar. Er ist Vorarbeiter im Werk. Ein Deutscher. "Dieser Oskar hat Angst gehabt, mit mir zu reden. Aber er hat mir immer zwei Stück Brot mit Marmelade und Zucker gebracht", erinnert sich Ruza Orlean.
"Die waren eigentlich ganz nett"
Ruza Orlean erlebt das Kriegsende in Aschersleben. Am 18. April 1945 erobern die Amerikaner die Stadt. Da hatten die Deutschen das Zwangsarbeiter-Lager schon geräumt.
Man kann das gar nicht erzählen, so schwer sind diese Gefühle bei der Erinnerung.
An dem Tag, dem 18. April, sind sie auf den Feldern. "Und mit einem Mal sehen wir eine Gruppe Soldaten. Und das waren Amerikaner. Die haben uns zu Essen gegeben, Schokolade und alles, die waren alle sehr nett", erinnert sich Orlean.
Die Erinnerungen von Ruza, Gudrun, Rolf und Brigitte: Es sind Erinnerungen an das letzte Jahr des Krieges, welches zugleich das erste Jahr des Friedens ist. Viele Erlebnisse aus der Zeit sind ein wohlgehütetes Geheimnis dieser Generation. Zu traumatisch sind die Erinnerungen. Denn eingebrannt haben sich bei den "Kindern des Krieges" Todesangst, Not und der Verlust ihrer Unschuld.
Über das Projekt "Kinder des Krieges" Zeitzeugen des Jahres 1945 und ihre Erinnerungen stehen im Zentrum des multimedialen ARD-Projektes "Kinder des Krieges". Die Inhalte entstehen zum ersten Mal nicht nur für den Ausspielweg Fernsehen, sondern als multimediale Produktion für unterschiedliche Zielgruppen. Parallel zum Film gibt es in der ARD-Mediathek einen Schwerpunkt unter dem Titel "Originale 45" mit Bonusmaterial und Filmen aus dem Jahr 1945, in voller Länge und im Original. Für den MDR entsteht eine eigene Filmfassung mit Zeitzeugen aus Mitteldeutschland.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Kinder des Krieges - 1945 in Mitteldeutschland | 05. Mai 2020 | 22:05 Uhr