September 1945 "Junkerland in Bauernhand" - Bodenreform in der Sowjetzone
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03. September 2020, 05:00 Uhr
Unter der Losung "Junkerland in Bauernhand" wird ab dem 3. September 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone eine große Bodenreform auf den Weg gebracht. 3,3 Millionen Hektar Agrarflächen werden entschädigungslos enteignet. Die Maßnahme soll Großgrundbesitzer sowie "Nazi- und Kriegsverbrecher" treffen. Doch ihr fallen auch Menschen zum Opfer, die selbst Verfolgte der NS-Diktatur waren.
Die bewaffneten Männer, die am 31. August 1945 in Schloss Ballenstedt im Harz erscheinen, sehen in ihren khakifarbenen Feldblusen auf den ersten Blick wie normale sowjetische Soldaten aus. Doch ihre blauen Hosen und die Schirmmützen mit hellblauen Spitzen und karminroten Mützenbändern verheißen nichts Gutes. Es sind Angehörige der Geheimpolizei des sowjetischen Innenministeriums NKWD, die an jenem Spätsommertag Joachim Ernst von Anhalt verhaften und in das Gefängnis "Roter Ochse" nach Halle bringen. Von dort wird der 44-Jährige später in das NKWD-Speziallager Nr. 2 im ehemaligen KZ Buchenwald verbracht.
Verfolgter des Nazi-Regimes
Für das NKWD ist der letzte Herzog von Anhalt, der bis November 1918 nominell an der Spitze des deutschen Gliedstaates steht, ob seiner Herkunft per se ein "Nazi-Verbrecher". Dabei ist der Ballenstedter Schlossherr selbst ein Verfolgter des Nazi-Regimes. Wie nicht wenige Angehörige des deutschen Hochadels steht Joachim Ernst den Nationalsozialisten aus ethischen und religiösen Gründen ablehnend gegenüber. 1939 wird er deshalb zur Zwangsarbeit verurteilt und Anfang 1944 sogar in das KZ Dachau eingewiesen. In den Sowjets, die nach Kriegsende und Besatzungswechsel im Juli 1945 auch in Anhalt die Macht übernehmen, sieht er angesichts seiner Vorgeschichte keine Bedrohung.
Enteignung der "Junker" gefordert
Doch Joachim Ernst von Anhalt ist mit einem Besitz von rund 20.000 Hektar auch einer der größten privaten Grundeigentümer in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Und genau auf diesen Großgrundbesitz, der in Deutschland stets ein bedeutender politischer und wirtschaftlicher Machtfaktor war, haben es die sowjetischen Besatzer und die deutschen Kommunisten abgesehen. So fordert die neu zugelassene KPD bereits in ihrem Gründungsaufruf am 11. Juni 1945 die Enteignung der großgrundbesitzenden "Junker", welche die Kommunisten undifferenziert als Unterstützer und Nutznießer des NS-Regimes betrachten. Aber auch die ostdeutsche SPD fordert die Beseitigung des Großgrundbesitzes, den die Sozialdemokraten als "stärkste wirtschaftliche Stütze des Militarismus" bezeichnen.
100 Hektar als Obergrenze
Auf der konstituierenden Sitzung des "antifaschistisch-demokratischen Blocks" am 29. August in der Provinz Sachsen, die dem heutigen Sachsen-Anhalt entspricht, werden die Rahmenbedingungen für eine Bodenreform festgelegt. So soll jeder Grundbesitz über 100 Hektar entschädigungslos enteignet werden. Der Enteignungsbeschluss gilt nicht nur für die Fläche, die über den besagten 100 Hektar liegt, sondern für den gesamten Besitz inklusive aller Immobilien, allen Viehs und sonstigen Eigentums. Das heißt, wer etwa 100,1 Hektar besitzt, verliert alles – unwiederbringlich. Das ist eine völlig neue Dimension.
Widerstand der CDU-Führung
Die liberale LDPD-Führung in der SBZ plädiert vergeblich für eine Anhebung der 100-Hektar-Grenze. Die ostdeutsche CDU-Führung unter ihrem Vorsitzenden Andreas Hermes lehnt eine entschädigungslose Enteignung sogar grundsätzlich ab, weswegen sie später von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) abgesetzt wird. Doch der Widerstand der Parteispitzen ändert nichts: Alle vier Parteien des Blockausschusses der Provinz Sachsen - KPD, SPD, CDU und LDPD - beschließen Ende August die Bodenreform mit der entschädigungslosen Enteignung allen Grundbesitzes über 100 Hektar. Außerdem sollen auch kleinere landwirtschaftliche Betriebe enteignet werden, die sogenannten "Naziaktivisten" gehören - also Menschen, die im Verdacht stehen, an NS-Verbrechen beteiligt gewesen zu sein.
"Junkerland in Bauernhand"
Am 3. September 1945 setzt die Provinzverwaltung der Provinz Sachsen als erste ostdeutsche Verwaltungsbehörde die umstrittene Verordnung in Kraft. Bis zum 11. September erlassen auch die anderen Provinz- und Landesverwaltungen in der Sowjetischen Besatzungszone ähnliche Verordnungen. Unter der Losung "Junkerland in Bauernhand" werden in der Folge auf dem Gebiet der SBZ, also der späteren DDR, die Betriebe von mehr als 7.000 Großgrundbesitzern mit einer Gesamtfläche von über 2,5 Millionen Hektar entschädigungslos enteignet. Außerdem werden rund 4.000 Betriebe unter 100 Hektar enteignet, deren Besitzer als "aktive Nazis und Kriegsverbrecher" eingestuft wurden, wobei oftmals eine Denunziation statt erwiesener Schuld der Anlass ist.
3,3 Millionen Hektar werden enteignet
Insgesamt werden im Zuge der Bodenreform in der SBZ 3,3 Millionen Hektar Land requiriert. Das sind 35 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche der Sowjetischen Besatzungszone. In Mecklenburg und Vorpommern beträgt der Anteil sogar 54 Prozent. Die Enteignungsmaßnahmen werden mithilfe der sowjetischen Besatzungsmacht mit brachialen Mitteln durchgesetzt. Die enteigneten Großgrundbesitzer verlieren nicht nur ihr Land, sondern auch ihre Wohnhäuser, ihr Bargeldvermögen, ja sogar Mobiliar und Kleidung. Obendrein werden sie aus ihren Heimatkreisen ausgewiesen.
560.000 neue Eigentümer
Alle enteigneten Agrarflächen kommen in einen Bodenfonds, aus dem 2,2 Millionen Hektar an 560.000 Personen verteilt werden. Die restlichen 1,1 Millionen Hektar gehen in staatlichen Besitz über. Unter den anspruchsberechtigten Privatpersonen, die Bodenreformland erhalten, sind mehr als 183.000 sogenannte Neubauern, 119.000 Landarbeiter und landlose Bauern, 126.000 landarme Bauern und Kleinpächter, fast 40.000 Altbauern sowie über 91.000 "Umsiedler", was in der SBZ/DDR die offizielle Bezeichnung für Flüchtlinge und Vertriebe ist. Einem Großteil der "Bodenempfänger" soll durch die Maßnahme eine neue Existenzgrundlage geschaffen werden, weswegen die Bodenreform durchaus auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stößt.
Viele Neubauernstellen unrentabel
Allerdings wird bei der Verteilung des Landes weder die fachliche Eignung der neuen Besitzer noch die Rentabilität der vergebenen Flächen geprüft. Die Hälfte der Neubauernstellen umfasst weniger als 20 Hektar Land. Damit sind diese Betriebe viel zu klein, um effektiv wirtschaften zu können. Obendrein gibt es für die vielen Neubauern weder ausreichend Wirtschaftsgebäude noch im nötigen Umfang landwirtschaftliches Gerät oder Vieh. Viele der neuen Bauern haben bereits Probleme, ihre Eigenversorgung zu sichern, geschweige denn einen Beitrag zur Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu leisten. Es sind vor allem diese nicht existenzfähigen Bauern, die sich 1952 als erste den neu geschaffenen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) anschließen.
Keine Entschädigung für Bodenreform
Joachim Ernst von Anhalt erlebt dies alles nicht mehr mit. Der letzte Herzog von Anhalt stirbt im Februar 1947 im NKWD-Speziallager Nr. 2 in Buchenwald an Hungertyphus. Seine Frau flieht nach der Enteignung mit den fünf Kindern aus der SBZ in den Westen. 1992 erkennt die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation Joachim Ernst von Anhalt als "Verfolgten politisch sowjetischer Repression" an. Die 20.000 Hektar seines früheren Grundbesitzes erhalten seine Erben dennoch nicht zurück. Nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 ist die Beibehaltung der Ergebnisse der Bodenreform von 1945 eine Bedingung für die wiedererlangte Souveränität Deutschlands.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Kleinbauern und Agrargenossen | 30. August 2020 | 22:30 Uhr